Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Unzer, Johann August: Erste Gründe einer Physiologie der eigentlichen thierischen Natur thierischer Körper. Leipzig, 1771.

Bild:
<< vorherige Seite

I Th. Thier. Seelenkr. 2 Kap. An sich betr.
nen zuweilen wirklich nichts von der Stärke und Lebhaftig-
keit der äußern Empfindungen ab. Sie sind aber noth-
wendig nur Folgen von äußerst lebhaften sinnlichen Ein-
drücken andrer Vorstellungen ins Gehirn, wie oben gezeiget
worden: mithin können sie auch am ersten Wirkungen ei-
ner allzulebhaften Einbildungskraft, und aus gleichem
Grunde die Folgen einer Verrückung, der lebhaftesten
Träume, der stärksten Ahndungen, der Trunkenheit und
der heftigsten und wütendsten Leidenschaften seyn. Diese
unächten äußern Empfindungen sind unter dem Namen der
Erscheinungen, Gesichter, Blendwerke, Gaucke-
leyen, Gestalten, Gespenster,
u. s. w. bekannt, und
es ist nicht nur hier, sondern auch in der Pathologie und
practischen Heilungskunst von großer Wichtigkeit, sie aus
ihrer wahren Quelle zu kennen, und von den schwächern
Bildern der Einbildungen und Vorhersehungen zu unter-
scheiden. Wenn man sich scharf anstrenget, bey verschlos-
senen Augen zu sehen, so erblicket man eine rothe Farbe:
Wenn man durch die Furcht vor einem tiefen schnellem Falle
dem Gesichtsnerven einen falschen Eindruck giebt, so schei-
nen die Gegenstände sich zu bewegen, welches man einen
Schwindel nennet; wenn man von einem starken Geräu-
sche betäubet worden, so höret man dasselbe noch lange nach-
her, bis man sich dessen nicht mehr lebhaft erinnert; wenn
man mit großer Lüsternheit eine Speise begehret, so schmecket
man sie schon vorläufig; wenn man ein entzückendes Ge-
fühl zu lebhaft vorhersieht, so werden die Nerven so em-
pfindlich, daß ihnen jede leichte Berührung, die es sonst
nie thun würde, diese Entzückung giebt. Alles dieses sind
Beyspiele solcher unächten äußern Empfindungen, die den
Gesundesten widerfahren. Mithin sind sie keine blos wi-
dernatürliche Beschaffenheit thierischer Körper, sondern ih-
nen auch von Natur eigen.

§. 149.

I Th. Thier. Seelenkr. 2 Kap. An ſich betr.
nen zuweilen wirklich nichts von der Staͤrke und Lebhaftig-
keit der aͤußern Empfindungen ab. Sie ſind aber noth-
wendig nur Folgen von aͤußerſt lebhaften ſinnlichen Ein-
druͤcken andrer Vorſtellungen ins Gehirn, wie oben gezeiget
worden: mithin koͤnnen ſie auch am erſten Wirkungen ei-
ner allzulebhaften Einbildungskraft, und aus gleichem
Grunde die Folgen einer Verruͤckung, der lebhafteſten
Traͤume, der ſtaͤrkſten Ahndungen, der Trunkenheit und
der heftigſten und wuͤtendſten Leidenſchaften ſeyn. Dieſe
unaͤchten aͤußern Empfindungen ſind unter dem Namen der
Erſcheinungen, Geſichter, Blendwerke, Gaucke-
leyen, Geſtalten, Geſpenſter,
u. ſ. w. bekannt, und
es iſt nicht nur hier, ſondern auch in der Pathologie und
practiſchen Heilungskunſt von großer Wichtigkeit, ſie aus
ihrer wahren Quelle zu kennen, und von den ſchwaͤchern
Bildern der Einbildungen und Vorherſehungen zu unter-
ſcheiden. Wenn man ſich ſcharf anſtrenget, bey verſchloſ-
ſenen Augen zu ſehen, ſo erblicket man eine rothe Farbe:
Wenn man durch die Furcht vor einem tiefen ſchnellem Falle
dem Geſichtsnerven einen falſchen Eindruck giebt, ſo ſchei-
nen die Gegenſtaͤnde ſich zu bewegen, welches man einen
Schwindel nennet; wenn man von einem ſtarken Geraͤu-
ſche betaͤubet worden, ſo hoͤret man daſſelbe noch lange nach-
her, bis man ſich deſſen nicht mehr lebhaft erinnert; wenn
man mit großer Luͤſternheit eine Speiſe begehret, ſo ſchmecket
man ſie ſchon vorlaͤufig; wenn man ein entzuͤckendes Ge-
fuͤhl zu lebhaft vorherſieht, ſo werden die Nerven ſo em-
pfindlich, daß ihnen jede leichte Beruͤhrung, die es ſonſt
nie thun wuͤrde, dieſe Entzuͤckung giebt. Alles dieſes ſind
Beyſpiele ſolcher unaͤchten aͤußern Empfindungen, die den
Geſundeſten widerfahren. Mithin ſind ſie keine blos wi-
dernatuͤrliche Beſchaffenheit thieriſcher Koͤrper, ſondern ih-
nen auch von Natur eigen.

§. 149.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <p><pb facs="#f0168" n="144"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b"><hi rendition="#aq">I</hi> Th. Thier. Seelenkr. 2 Kap. An &#x017F;ich betr.</hi></fw><lb/>
nen zuweilen wirklich nichts von der Sta&#x0364;rke und Lebhaftig-<lb/>
keit der a&#x0364;ußern Empfindungen ab. Sie &#x017F;ind aber noth-<lb/>
wendig nur Folgen von a&#x0364;ußer&#x017F;t lebhaften &#x017F;innlichen Ein-<lb/>
dru&#x0364;cken andrer Vor&#x017F;tellungen ins Gehirn, wie oben gezeiget<lb/>
worden: mithin ko&#x0364;nnen &#x017F;ie auch am er&#x017F;ten Wirkungen ei-<lb/>
ner allzulebhaften Einbildungskraft, und aus gleichem<lb/>
Grunde die Folgen einer Verru&#x0364;ckung, der lebhafte&#x017F;ten<lb/>
Tra&#x0364;ume, der &#x017F;ta&#x0364;rk&#x017F;ten Ahndungen, der Trunkenheit und<lb/>
der heftig&#x017F;ten und wu&#x0364;tend&#x017F;ten Leiden&#x017F;chaften &#x017F;eyn. Die&#x017F;e<lb/>
una&#x0364;chten a&#x0364;ußern Empfindungen &#x017F;ind unter dem Namen der<lb/><hi rendition="#fr">Er&#x017F;cheinungen, Ge&#x017F;ichter, Blendwerke, Gaucke-<lb/>
leyen, Ge&#x017F;talten, Ge&#x017F;pen&#x017F;ter,</hi> u. &#x017F;. w. bekannt, und<lb/>
es i&#x017F;t nicht nur hier, &#x017F;ondern auch in der Pathologie und<lb/>
practi&#x017F;chen Heilungskun&#x017F;t von großer Wichtigkeit, &#x017F;ie aus<lb/>
ihrer wahren Quelle zu kennen, und von den &#x017F;chwa&#x0364;chern<lb/>
Bildern der Einbildungen und Vorher&#x017F;ehungen zu unter-<lb/>
&#x017F;cheiden. Wenn man &#x017F;ich &#x017F;charf an&#x017F;trenget, bey ver&#x017F;chlo&#x017F;-<lb/>
&#x017F;enen Augen zu &#x017F;ehen, &#x017F;o erblicket man eine rothe Farbe:<lb/>
Wenn man durch die Furcht vor einem tiefen &#x017F;chnellem Falle<lb/>
dem Ge&#x017F;ichtsnerven einen fal&#x017F;chen Eindruck giebt, &#x017F;o &#x017F;chei-<lb/>
nen die Gegen&#x017F;ta&#x0364;nde &#x017F;ich zu bewegen, welches man einen<lb/><hi rendition="#fr">Schwindel</hi> nennet; wenn man von einem &#x017F;tarken Gera&#x0364;u-<lb/>
&#x017F;che beta&#x0364;ubet worden, &#x017F;o ho&#x0364;ret man da&#x017F;&#x017F;elbe noch lange nach-<lb/>
her, bis man &#x017F;ich de&#x017F;&#x017F;en nicht mehr lebhaft erinnert; wenn<lb/>
man mit großer Lu&#x0364;&#x017F;ternheit eine Spei&#x017F;e begehret, &#x017F;o &#x017F;chmecket<lb/>
man &#x017F;ie &#x017F;chon vorla&#x0364;ufig; wenn man ein entzu&#x0364;ckendes Ge-<lb/>
fu&#x0364;hl zu lebhaft vorher&#x017F;ieht, &#x017F;o werden die Nerven &#x017F;o em-<lb/>
pfindlich, daß ihnen jede leichte Beru&#x0364;hrung, die es &#x017F;on&#x017F;t<lb/>
nie thun wu&#x0364;rde, die&#x017F;e Entzu&#x0364;ckung giebt. Alles die&#x017F;es &#x017F;ind<lb/>
Bey&#x017F;piele &#x017F;olcher una&#x0364;chten a&#x0364;ußern Empfindungen, die den<lb/>
Ge&#x017F;unde&#x017F;ten widerfahren. Mithin &#x017F;ind &#x017F;ie keine blos wi-<lb/>
dernatu&#x0364;rliche Be&#x017F;chaffenheit thieri&#x017F;cher Ko&#x0364;rper, &#x017F;ondern ih-<lb/>
nen auch von Natur eigen.</p>
              </div><lb/>
              <fw place="bottom" type="catch">§. 149.</fw><lb/>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[144/0168] I Th. Thier. Seelenkr. 2 Kap. An ſich betr. nen zuweilen wirklich nichts von der Staͤrke und Lebhaftig- keit der aͤußern Empfindungen ab. Sie ſind aber noth- wendig nur Folgen von aͤußerſt lebhaften ſinnlichen Ein- druͤcken andrer Vorſtellungen ins Gehirn, wie oben gezeiget worden: mithin koͤnnen ſie auch am erſten Wirkungen ei- ner allzulebhaften Einbildungskraft, und aus gleichem Grunde die Folgen einer Verruͤckung, der lebhafteſten Traͤume, der ſtaͤrkſten Ahndungen, der Trunkenheit und der heftigſten und wuͤtendſten Leidenſchaften ſeyn. Dieſe unaͤchten aͤußern Empfindungen ſind unter dem Namen der Erſcheinungen, Geſichter, Blendwerke, Gaucke- leyen, Geſtalten, Geſpenſter, u. ſ. w. bekannt, und es iſt nicht nur hier, ſondern auch in der Pathologie und practiſchen Heilungskunſt von großer Wichtigkeit, ſie aus ihrer wahren Quelle zu kennen, und von den ſchwaͤchern Bildern der Einbildungen und Vorherſehungen zu unter- ſcheiden. Wenn man ſich ſcharf anſtrenget, bey verſchloſ- ſenen Augen zu ſehen, ſo erblicket man eine rothe Farbe: Wenn man durch die Furcht vor einem tiefen ſchnellem Falle dem Geſichtsnerven einen falſchen Eindruck giebt, ſo ſchei- nen die Gegenſtaͤnde ſich zu bewegen, welches man einen Schwindel nennet; wenn man von einem ſtarken Geraͤu- ſche betaͤubet worden, ſo hoͤret man daſſelbe noch lange nach- her, bis man ſich deſſen nicht mehr lebhaft erinnert; wenn man mit großer Luͤſternheit eine Speiſe begehret, ſo ſchmecket man ſie ſchon vorlaͤufig; wenn man ein entzuͤckendes Ge- fuͤhl zu lebhaft vorherſieht, ſo werden die Nerven ſo em- pfindlich, daß ihnen jede leichte Beruͤhrung, die es ſonſt nie thun wuͤrde, dieſe Entzuͤckung giebt. Alles dieſes ſind Beyſpiele ſolcher unaͤchten aͤußern Empfindungen, die den Geſundeſten widerfahren. Mithin ſind ſie keine blos wi- dernatuͤrliche Beſchaffenheit thieriſcher Koͤrper, ſondern ih- nen auch von Natur eigen. §. 149.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/unzer_erstegruende_1771
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/unzer_erstegruende_1771/168
Zitationshilfe: Unzer, Johann August: Erste Gründe einer Physiologie der eigentlichen thierischen Natur thierischer Körper. Leipzig, 1771, S. 144. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/unzer_erstegruende_1771/168>, abgerufen am 28.04.2024.