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Unzer, Johann August: Erste Gründe einer Physiologie der eigentlichen thierischen Natur thierischer Körper. Leipzig, 1771.

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II Th. Nervenkräfte.
her sinnlich reizet, oder indem die unempfundenen äußern
sinnlichen Eindrücke, wenn sie auf ihrem Wege zum Ge-
hirn reflektiret werden, sie auf eben die Weise, von oben
her, sinnlich rühren. Wenn aber ein Thier die innern
sinnlichen Eindrücke durch eigenmächtige, oft willkührliche,
ja sogar freywillige Vorstellungen, selbst hervorbringt und
ordnet, so erfolgen die Seelenwirkungen davon in den me-
chanischen Maschinen nach ganz andern Gesetzen aufeinan-
der, als die ihnen eine natürliche Nothwendigkeit andrer
sinnlicher Eindrücke vorschreibt, §. 119. 121. und wer-
den nach dem Belieben des Thieres, oft zweckmäßig, oder
wenigstens nach psychologischen Gesetzen und durch eignen
Antrieb von ihm gewirket. Wenn ein Hummer durch ei-
nen blos sinnlichen Reiz seine Scheere, zwischen welche ein
Zufall eins seiner Beine gebracht hat, zusammendrücket,
und sich das Bein zerquetschet, so zwingt ihn der äußere
sinnliche Eindruck, den diese Gewaltthätigkeit in seine Ner-
ven machet, seiner Natur nach zu der thierischen Bewe-
gung, sich sein Bein abzusprengen, und er verstümmelt sich
dadurch auf lange Zeit, ohne Noth. Wären das Zusam-
mendrücken der Scheere und das Zwischenstecken des Beins
bey ihm Seelenwirkungen von Vorstellungen; so würde
seine Seele aus diesen leicht eine dritte Vorstellung herlei-
ten, die Scheere voneinander zu thun, und das Bein zu-
rückzuziehen, und da er hierzu nichts als den Entschluß
nöthig hätte, so würde ers auch bewerkstelligen. Jtzt kann
dieses nur durch einen Zufall geschehen, und wenn der sich
nicht findet, so entwickeln sich die blos natürlichen Hand-
lungen auf ihre Art fort, und er verliert ein Bein durch
ein thierisches Kunststück, dessen er gar nicht bedurft hätte,
wenn die thierischen Bewegungen von seinen sinnlichen Ein-
drücken zugleich Seelenwirkungen seiner Vorstellungskraft
gewesen wären. Solchergestalt war es für Thiere, die sol-
che Vorzüge vor andern haben sollten, nothwendig, daß
ihre Vorstellungskraft die innern sinnlichen Eindrücke zu
den thierischen Bewegungen der mechanischen Maschinen

zugleich

II Th. Nervenkraͤfte.
her ſinnlich reizet, oder indem die unempfundenen aͤußern
ſinnlichen Eindruͤcke, wenn ſie auf ihrem Wege zum Ge-
hirn reflektiret werden, ſie auf eben die Weiſe, von oben
her, ſinnlich ruͤhren. Wenn aber ein Thier die innern
ſinnlichen Eindruͤcke durch eigenmaͤchtige, oft willkuͤhrliche,
ja ſogar freywillige Vorſtellungen, ſelbſt hervorbringt und
ordnet, ſo erfolgen die Seelenwirkungen davon in den me-
chaniſchen Maſchinen nach ganz andern Geſetzen aufeinan-
der, als die ihnen eine natuͤrliche Nothwendigkeit andrer
ſinnlicher Eindruͤcke vorſchreibt, §. 119. 121. und wer-
den nach dem Belieben des Thieres, oft zweckmaͤßig, oder
wenigſtens nach pſychologiſchen Geſetzen und durch eignen
Antrieb von ihm gewirket. Wenn ein Hummer durch ei-
nen blos ſinnlichen Reiz ſeine Scheere, zwiſchen welche ein
Zufall eins ſeiner Beine gebracht hat, zuſammendruͤcket,
und ſich das Bein zerquetſchet, ſo zwingt ihn der aͤußere
ſinnliche Eindruck, den dieſe Gewaltthaͤtigkeit in ſeine Ner-
ven machet, ſeiner Natur nach zu der thieriſchen Bewe-
gung, ſich ſein Bein abzuſprengen, und er verſtuͤmmelt ſich
dadurch auf lange Zeit, ohne Noth. Waͤren das Zuſam-
mendruͤcken der Scheere und das Zwiſchenſtecken des Beins
bey ihm Seelenwirkungen von Vorſtellungen; ſo wuͤrde
ſeine Seele aus dieſen leicht eine dritte Vorſtellung herlei-
ten, die Scheere voneinander zu thun, und das Bein zu-
ruͤckzuziehen, und da er hierzu nichts als den Entſchluß
noͤthig haͤtte, ſo wuͤrde ers auch bewerkſtelligen. Jtzt kann
dieſes nur durch einen Zufall geſchehen, und wenn der ſich
nicht findet, ſo entwickeln ſich die blos natuͤrlichen Hand-
lungen auf ihre Art fort, und er verliert ein Bein durch
ein thieriſches Kunſtſtuͤck, deſſen er gar nicht bedurft haͤtte,
wenn die thieriſchen Bewegungen von ſeinen ſinnlichen Ein-
druͤcken zugleich Seelenwirkungen ſeiner Vorſtellungskraft
geweſen waͤren. Solchergeſtalt war es fuͤr Thiere, die ſol-
che Vorzuͤge vor andern haben ſollten, nothwendig, daß
ihre Vorſtellungskraft die innern ſinnlichen Eindruͤcke zu
den thieriſchen Bewegungen der mechaniſchen Maſchinen

zugleich
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[368/0392] II Th. Nervenkraͤfte. her ſinnlich reizet, oder indem die unempfundenen aͤußern ſinnlichen Eindruͤcke, wenn ſie auf ihrem Wege zum Ge- hirn reflektiret werden, ſie auf eben die Weiſe, von oben her, ſinnlich ruͤhren. Wenn aber ein Thier die innern ſinnlichen Eindruͤcke durch eigenmaͤchtige, oft willkuͤhrliche, ja ſogar freywillige Vorſtellungen, ſelbſt hervorbringt und ordnet, ſo erfolgen die Seelenwirkungen davon in den me- chaniſchen Maſchinen nach ganz andern Geſetzen aufeinan- der, als die ihnen eine natuͤrliche Nothwendigkeit andrer ſinnlicher Eindruͤcke vorſchreibt, §. 119. 121. und wer- den nach dem Belieben des Thieres, oft zweckmaͤßig, oder wenigſtens nach pſychologiſchen Geſetzen und durch eignen Antrieb von ihm gewirket. Wenn ein Hummer durch ei- nen blos ſinnlichen Reiz ſeine Scheere, zwiſchen welche ein Zufall eins ſeiner Beine gebracht hat, zuſammendruͤcket, und ſich das Bein zerquetſchet, ſo zwingt ihn der aͤußere ſinnliche Eindruck, den dieſe Gewaltthaͤtigkeit in ſeine Ner- ven machet, ſeiner Natur nach zu der thieriſchen Bewe- gung, ſich ſein Bein abzuſprengen, und er verſtuͤmmelt ſich dadurch auf lange Zeit, ohne Noth. Waͤren das Zuſam- mendruͤcken der Scheere und das Zwiſchenſtecken des Beins bey ihm Seelenwirkungen von Vorſtellungen; ſo wuͤrde ſeine Seele aus dieſen leicht eine dritte Vorſtellung herlei- ten, die Scheere voneinander zu thun, und das Bein zu- ruͤckzuziehen, und da er hierzu nichts als den Entſchluß noͤthig haͤtte, ſo wuͤrde ers auch bewerkſtelligen. Jtzt kann dieſes nur durch einen Zufall geſchehen, und wenn der ſich nicht findet, ſo entwickeln ſich die blos natuͤrlichen Hand- lungen auf ihre Art fort, und er verliert ein Bein durch ein thieriſches Kunſtſtuͤck, deſſen er gar nicht bedurft haͤtte, wenn die thieriſchen Bewegungen von ſeinen ſinnlichen Ein- druͤcken zugleich Seelenwirkungen ſeiner Vorſtellungskraft geweſen waͤren. Solchergeſtalt war es fuͤr Thiere, die ſol- che Vorzuͤge vor andern haben ſollten, nothwendig, daß ihre Vorſtellungskraft die innern ſinnlichen Eindruͤcke zu den thieriſchen Bewegungen der mechaniſchen Maſchinen zugleich

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Zitationshilfe: Unzer, Johann August: Erste Gründe einer Physiologie der eigentlichen thierischen Natur thierischer Körper. Leipzig, 1771, S. 368. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/unzer_erstegruende_1771/392>, abgerufen am 06.05.2024.