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Unzer, Johann August: Erste Gründe einer Physiologie der eigentlichen thierischen Natur thierischer Körper. Leipzig, 1771.

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1 Abschn. Ersetz. der Seelenw. durch Nervenw.
die Seele nach psychologischen Gesetzen und meist willkühr-
lich miteinander verknüpfet, und deren also eine sehr un-
vollkommene und dunkle Vorstellungskraft nicht fähig ist.
§. 89. 108. Man hat nur nöthig die Triebe und Leiden-
schaften über einerley Gegenstand miteinander zu verglei-
chen, um dieses aufs deutlichste zu sehen. Eine jede schmerz-
hafte äußere Empfindung versetzet jedes Thier, und den
Menschen selbst, fast unmittelbar in den Wehrtrieb, auch
ehe noch die Ursache der Empfindung erkannt wird. Schon
im Augenblicke des Schmerzens machet jedes Thier die ihm
eignen Bewegungen des Wehrtriebes, und selbst der Mensch
greift, oder schlägt nach der Stelle, zucket und weicht aus,
ehe er sich, wie man saget, nur einmal besinnen könnte.
Der ganze Wehrtrieb entwickelt sich im tiefsten Grunde der
Seele so wenig, daß zwischen der ihn veranlassenden äu-
ßern Empfindung und den Seelenwirkungen des Triebes
auch keine Spur von Vorstellungen bemerket werden kann.
So wenig nun wie sich in der Seele alle die sinnlichen Vor-
stellungen, z. E. Einbildungen, Vorhersehungen etc. ent-
wickeln oder klar werden, welche die äußere den Trieb er-
regende Empfindung veranlassen muß; §. 268. eben so we-
nig können im Triebe die materiellen Jdeen derselben, wel-
che die materielle äußere Empfindung im Gehirne veran-
lasset, recht ausgebildet werden, §. 26. 90. und es scheint
also ein unmittelbarer Uebergang der veranlassenden äußern
Empfindung in den Trieb selbst, und der materiellen Jdee
der ersten in die Seelenwirkungen des letztern Statt zu fin-
den, so daß man einigermaßen sagen könnte, daß in den
Trieben das Gehirn den empfundenen äußern sinnlichen
Eindruck nur eben so umwendete, und ihn auf die Nerven,
welche die Seelenwirkung des durch ihn erregten Triebes
zu verrichten haben, eben so reflektirte, wie es mit einem
unempfundenen in den Nervenknoten geschieht, ohne daß
dabey die materiellen Jdeen der zum Triebe erfoderlichen
Vorstellungen, weil sie sich zu wenig entwickeln, in sonder-
liche Betrachtung kämen, und ohne daß seine Seelenwir-

kungen
N n 3

1 Abſchn. Erſetz. der Seelenw. durch Nervenw.
die Seele nach pſychologiſchen Geſetzen und meiſt willkuͤhr-
lich miteinander verknuͤpfet, und deren alſo eine ſehr un-
vollkommene und dunkle Vorſtellungskraft nicht faͤhig iſt.
§. 89. 108. Man hat nur noͤthig die Triebe und Leiden-
ſchaften uͤber einerley Gegenſtand miteinander zu verglei-
chen, um dieſes aufs deutlichſte zu ſehen. Eine jede ſchmerz-
hafte aͤußere Empfindung verſetzet jedes Thier, und den
Menſchen ſelbſt, faſt unmittelbar in den Wehrtrieb, auch
ehe noch die Urſache der Empfindung erkannt wird. Schon
im Augenblicke des Schmerzens machet jedes Thier die ihm
eignen Bewegungen des Wehrtriebes, und ſelbſt der Menſch
greift, oder ſchlaͤgt nach der Stelle, zucket und weicht aus,
ehe er ſich, wie man ſaget, nur einmal beſinnen koͤnnte.
Der ganze Wehrtrieb entwickelt ſich im tiefſten Grunde der
Seele ſo wenig, daß zwiſchen der ihn veranlaſſenden aͤu-
ßern Empfindung und den Seelenwirkungen des Triebes
auch keine Spur von Vorſtellungen bemerket werden kann.
So wenig nun wie ſich in der Seele alle die ſinnlichen Vor-
ſtellungen, z. E. Einbildungen, Vorherſehungen ꝛc. ent-
wickeln oder klar werden, welche die aͤußere den Trieb er-
regende Empfindung veranlaſſen muß; §. 268. eben ſo we-
nig koͤnnen im Triebe die materiellen Jdeen derſelben, wel-
che die materielle aͤußere Empfindung im Gehirne veran-
laſſet, recht ausgebildet werden, §. 26. 90. und es ſcheint
alſo ein unmittelbarer Uebergang der veranlaſſenden aͤußern
Empfindung in den Trieb ſelbſt, und der materiellen Jdee
der erſten in die Seelenwirkungen des letztern Statt zu fin-
den, ſo daß man einigermaßen ſagen koͤnnte, daß in den
Trieben das Gehirn den empfundenen aͤußern ſinnlichen
Eindruck nur eben ſo umwendete, und ihn auf die Nerven,
welche die Seelenwirkung des durch ihn erregten Triebes
zu verrichten haben, eben ſo reflektirte, wie es mit einem
unempfundenen in den Nervenknoten geſchieht, ohne daß
dabey die materiellen Jdeen der zum Triebe erfoderlichen
Vorſtellungen, weil ſie ſich zu wenig entwickeln, in ſonder-
liche Betrachtung kaͤmen, und ohne daß ſeine Seelenwir-

kungen
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[565/0589] 1 Abſchn. Erſetz. der Seelenw. durch Nervenw. die Seele nach pſychologiſchen Geſetzen und meiſt willkuͤhr- lich miteinander verknuͤpfet, und deren alſo eine ſehr un- vollkommene und dunkle Vorſtellungskraft nicht faͤhig iſt. §. 89. 108. Man hat nur noͤthig die Triebe und Leiden- ſchaften uͤber einerley Gegenſtand miteinander zu verglei- chen, um dieſes aufs deutlichſte zu ſehen. Eine jede ſchmerz- hafte aͤußere Empfindung verſetzet jedes Thier, und den Menſchen ſelbſt, faſt unmittelbar in den Wehrtrieb, auch ehe noch die Urſache der Empfindung erkannt wird. Schon im Augenblicke des Schmerzens machet jedes Thier die ihm eignen Bewegungen des Wehrtriebes, und ſelbſt der Menſch greift, oder ſchlaͤgt nach der Stelle, zucket und weicht aus, ehe er ſich, wie man ſaget, nur einmal beſinnen koͤnnte. Der ganze Wehrtrieb entwickelt ſich im tiefſten Grunde der Seele ſo wenig, daß zwiſchen der ihn veranlaſſenden aͤu- ßern Empfindung und den Seelenwirkungen des Triebes auch keine Spur von Vorſtellungen bemerket werden kann. So wenig nun wie ſich in der Seele alle die ſinnlichen Vor- ſtellungen, z. E. Einbildungen, Vorherſehungen ꝛc. ent- wickeln oder klar werden, welche die aͤußere den Trieb er- regende Empfindung veranlaſſen muß; §. 268. eben ſo we- nig koͤnnen im Triebe die materiellen Jdeen derſelben, wel- che die materielle aͤußere Empfindung im Gehirne veran- laſſet, recht ausgebildet werden, §. 26. 90. und es ſcheint alſo ein unmittelbarer Uebergang der veranlaſſenden aͤußern Empfindung in den Trieb ſelbſt, und der materiellen Jdee der erſten in die Seelenwirkungen des letztern Statt zu fin- den, ſo daß man einigermaßen ſagen koͤnnte, daß in den Trieben das Gehirn den empfundenen aͤußern ſinnlichen Eindruck nur eben ſo umwendete, und ihn auf die Nerven, welche die Seelenwirkung des durch ihn erregten Triebes zu verrichten haben, eben ſo reflektirte, wie es mit einem unempfundenen in den Nervenknoten geſchieht, ohne daß dabey die materiellen Jdeen der zum Triebe erfoderlichen Vorſtellungen, weil ſie ſich zu wenig entwickeln, in ſonder- liche Betrachtung kaͤmen, und ohne daß ſeine Seelenwir- kungen N n 3

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Zitationshilfe: Unzer, Johann August: Erste Gründe einer Physiologie der eigentlichen thierischen Natur thierischer Körper. Leipzig, 1771, S. 565. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/unzer_erstegruende_1771/589>, abgerufen am 07.05.2024.