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Unzer, Johann August: Erste Gründe einer Physiologie der eigentlichen thierischen Natur thierischer Körper. Leipzig, 1771.

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1 Abschn. Ersetz. der Seelenw. durch Nervenw.
lassenden äußern Empfindungen; sondern sie entsteht zuwei-
len, nach Art der Triebe, zunächst aus ihnen, zuweilen
aber erst durch die Zwischenkunft vieler psychologisch ver-
knüpfter sinnlicher Vorstellungen. Wenn ein Hund durch
einen ohngefähren Schlag in Furcht gesetzet wird, daß er
seine Muskeln anstrenget, um davon zu laufen; so verbin-
det er mit seiner äußern Empfindung die Vorhersehung
aus öfterer Erfahrung, daß mehr Schläge folgen werden,
und so ist seine Leidenschaft der Furcht, ohne die Zwischen-
kunft andrer Vorstellungen, als die sich zunächst auf die
veranlassende äußere Empfindung beziehen, entstanden.
Diese Seelenwirkung der Furcht kann durch die bloße Ner-
venkraft eben desselben äußern sinnlichen Eindrucks ersetzet
werden: denn wenn der Schlag zugleich seinen Kopf vom
Körper trennete, so würde er seine Muskeln eben so an-
strengen, um sich aufzumachen und davon zu kommen, wo-
von ohnedem viel enthauptete Thiere Beyspiele geben. §.
555. Wenn hingegen ein Mensch durch einen ohngefäh-
ren Schlag in Furcht gesetzet wird, so kann es zuweilen
durch so viel Umschweife geschehen, daß die Furcht von ei-
ner sinnlichen Vorstellung verursachet wird, die kaum ein
leichtes Merkmal von der Empfindung noch in sich hält.
Er urtheilet z. E. sogleich, daß dieser Schlag von einem
Menschen herrühren müsse: er sieht sich um, und erblicket
keinen. Dieß erreget ihm Bewunderung und Nachdenken.
Er schließt nun auf Wahrscheinlichkeiten. Zuerst meynet
er, es könne ein entsprungener Dieb gewesen seyn, und so
beweget ihn die Furcht zu solchen Seelenwirkungen, die ihn
vertheidigen können: hiernächst denkt er an Gespenster,
und so beweget sie ihn zu solchen, wodurch er entrinnen
kann. Zuletzt hält er den Schlag für die Wirkung eines
Wurfs aus der Ferne, und so beweget ihn die Furcht zu
solchen Seelenwirkungen, wodurch er sich verbergen kann,
u. s. w. Unmöglich könnte der äußere sinnliche Eindruck
des empfundenen Schlages alle diese verschiedenen Arten
der Seelenwirkungen der durch seine Empfindung veran-

laßten

1 Abſchn. Erſetz. der Seelenw. durch Nervenw.
laſſenden aͤußern Empfindungen; ſondern ſie entſteht zuwei-
len, nach Art der Triebe, zunaͤchſt aus ihnen, zuweilen
aber erſt durch die Zwiſchenkunft vieler pſychologiſch ver-
knuͤpfter ſinnlicher Vorſtellungen. Wenn ein Hund durch
einen ohngefaͤhren Schlag in Furcht geſetzet wird, daß er
ſeine Muskeln anſtrenget, um davon zu laufen; ſo verbin-
det er mit ſeiner aͤußern Empfindung die Vorherſehung
aus oͤfterer Erfahrung, daß mehr Schlaͤge folgen werden,
und ſo iſt ſeine Leidenſchaft der Furcht, ohne die Zwiſchen-
kunft andrer Vorſtellungen, als die ſich zunaͤchſt auf die
veranlaſſende aͤußere Empfindung beziehen, entſtanden.
Dieſe Seelenwirkung der Furcht kann durch die bloße Ner-
venkraft eben deſſelben aͤußern ſinnlichen Eindrucks erſetzet
werden: denn wenn der Schlag zugleich ſeinen Kopf vom
Koͤrper trennete, ſo wuͤrde er ſeine Muskeln eben ſo an-
ſtrengen, um ſich aufzumachen und davon zu kommen, wo-
von ohnedem viel enthauptete Thiere Beyſpiele geben. §.
555. Wenn hingegen ein Menſch durch einen ohngefaͤh-
ren Schlag in Furcht geſetzet wird, ſo kann es zuweilen
durch ſo viel Umſchweife geſchehen, daß die Furcht von ei-
ner ſinnlichen Vorſtellung verurſachet wird, die kaum ein
leichtes Merkmal von der Empfindung noch in ſich haͤlt.
Er urtheilet z. E. ſogleich, daß dieſer Schlag von einem
Menſchen herruͤhren muͤſſe: er ſieht ſich um, und erblicket
keinen. Dieß erreget ihm Bewunderung und Nachdenken.
Er ſchließt nun auf Wahrſcheinlichkeiten. Zuerſt meynet
er, es koͤnne ein entſprungener Dieb geweſen ſeyn, und ſo
beweget ihn die Furcht zu ſolchen Seelenwirkungen, die ihn
vertheidigen koͤnnen: hiernaͤchſt denkt er an Geſpenſter,
und ſo beweget ſie ihn zu ſolchen, wodurch er entrinnen
kann. Zuletzt haͤlt er den Schlag fuͤr die Wirkung eines
Wurfs aus der Ferne, und ſo beweget ihn die Furcht zu
ſolchen Seelenwirkungen, wodurch er ſich verbergen kann,
u. ſ. w. Unmoͤglich koͤnnte der aͤußere ſinnliche Eindruck
des empfundenen Schlages alle dieſe verſchiedenen Arten
der Seelenwirkungen der durch ſeine Empfindung veran-

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[571/0595] 1 Abſchn. Erſetz. der Seelenw. durch Nervenw. laſſenden aͤußern Empfindungen; ſondern ſie entſteht zuwei- len, nach Art der Triebe, zunaͤchſt aus ihnen, zuweilen aber erſt durch die Zwiſchenkunft vieler pſychologiſch ver- knuͤpfter ſinnlicher Vorſtellungen. Wenn ein Hund durch einen ohngefaͤhren Schlag in Furcht geſetzet wird, daß er ſeine Muskeln anſtrenget, um davon zu laufen; ſo verbin- det er mit ſeiner aͤußern Empfindung die Vorherſehung aus oͤfterer Erfahrung, daß mehr Schlaͤge folgen werden, und ſo iſt ſeine Leidenſchaft der Furcht, ohne die Zwiſchen- kunft andrer Vorſtellungen, als die ſich zunaͤchſt auf die veranlaſſende aͤußere Empfindung beziehen, entſtanden. Dieſe Seelenwirkung der Furcht kann durch die bloße Ner- venkraft eben deſſelben aͤußern ſinnlichen Eindrucks erſetzet werden: denn wenn der Schlag zugleich ſeinen Kopf vom Koͤrper trennete, ſo wuͤrde er ſeine Muskeln eben ſo an- ſtrengen, um ſich aufzumachen und davon zu kommen, wo- von ohnedem viel enthauptete Thiere Beyſpiele geben. §. 555. Wenn hingegen ein Menſch durch einen ohngefaͤh- ren Schlag in Furcht geſetzet wird, ſo kann es zuweilen durch ſo viel Umſchweife geſchehen, daß die Furcht von ei- ner ſinnlichen Vorſtellung verurſachet wird, die kaum ein leichtes Merkmal von der Empfindung noch in ſich haͤlt. Er urtheilet z. E. ſogleich, daß dieſer Schlag von einem Menſchen herruͤhren muͤſſe: er ſieht ſich um, und erblicket keinen. Dieß erreget ihm Bewunderung und Nachdenken. Er ſchließt nun auf Wahrſcheinlichkeiten. Zuerſt meynet er, es koͤnne ein entſprungener Dieb geweſen ſeyn, und ſo beweget ihn die Furcht zu ſolchen Seelenwirkungen, die ihn vertheidigen koͤnnen: hiernaͤchſt denkt er an Geſpenſter, und ſo beweget ſie ihn zu ſolchen, wodurch er entrinnen kann. Zuletzt haͤlt er den Schlag fuͤr die Wirkung eines Wurfs aus der Ferne, und ſo beweget ihn die Furcht zu ſolchen Seelenwirkungen, wodurch er ſich verbergen kann, u. ſ. w. Unmoͤglich koͤnnte der aͤußere ſinnliche Eindruck des empfundenen Schlages alle dieſe verſchiedenen Arten der Seelenwirkungen der durch ſeine Empfindung veran- laßten

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Zitationshilfe: Unzer, Johann August: Erste Gründe einer Physiologie der eigentlichen thierischen Natur thierischer Körper. Leipzig, 1771, S. 571. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/unzer_erstegruende_1771/595>, abgerufen am 28.04.2024.