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Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Bd. 1. Berlin, 1834.

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sollen? in einer Stimmung kann keine Harmonie sein. Daß
dieser Mensch überhaupt Dichter sein muß, ist Zwangs genug:
das Übrige muß frei geschehen, darin übt dieser Künstler der
Menschheit überhaupt nach, und dies allein, dieser Wechsel
nur macht ihn zum Dichter! Und in welcher rührenden Voll-
kommenheit Goethe! Dies mein refrain für die Ewigkeit. So
ist's auch mit der Liebe, die auch bei weitem nicht so na-
türlich ist, als man sie verschreit; erst fühl' ich, daß ich lieben
kann, dann, will ich lieben, dann, muß ich lieben. Dies
konstituirt eine große Leidenschaft -- etwas rein Menschliches
-- derselbe Wechsel. Der sie schildern kann, ist ein Dichter,
der sie fühlt, ein Liebender, der sie erklärt, ihre Bestandtheile
bis zum möglichsten Bewußtsein auflöset, ein Philosoph. Wie
oft werden ekelhaft in einem Menschen und in der Beur-
theilung eines Menschen diese drei Dinge verwechselt.

Sie wundern sich, daß ich zu Gott beten kann? Geht
unser Nachdenken über uns selbst doch oft so weit, daß wir
keinen Beweis für unsere Existenz haben, und wir müssen uns
fühlen: heißt das nicht, uns selbst anbeten? Wenn das Be-
dürfniß auf's höchste gestiegen ist, so fühlen wir Gott, und
dann beten wir! Auch hierin ist der Wechsel; hier am Ende
der Dinge, für uns, schmerzhaft und groß, aber immer der-
selbe: erkennen müssen wir ihn, wenn auch nicht in jedem
Augenblick fühlen. Das ist kein Mensch, der sich nicht oft
ganz fühlt; das ist kein denkender Mensch, der nicht dem
Wechsel von Bewußtsein und Nicht-Bewußtsein nachspäht:
und das nennt Ihr Schiller den Bruch. Aus diesem Bruch
geht unser Arbeiten an, unser Leben, bewußt oder unbewußt,

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ſollen? in einer Stimmung kann keine Harmonie ſein. Daß
dieſer Menſch überhaupt Dichter ſein muß, iſt Zwangs genug:
das Übrige muß frei geſchehen, darin übt dieſer Künſtler der
Menſchheit überhaupt nach, und dies allein, dieſer Wechſel
nur macht ihn zum Dichter! Und in welcher rührenden Voll-
kommenheit Goethe! Dies mein refrain für die Ewigkeit. So
iſt’s auch mit der Liebe, die auch bei weitem nicht ſo na-
türlich iſt, als man ſie verſchreit; erſt fühl’ ich, daß ich lieben
kann, dann, will ich lieben, dann, muß ich lieben. Dies
konſtituirt eine große Leidenſchaft — etwas rein Menſchliches
derſelbe Wechſel. Der ſie ſchildern kann, iſt ein Dichter,
der ſie fühlt, ein Liebender, der ſie erklärt, ihre Beſtandtheile
bis zum möglichſten Bewußtſein auflöſet, ein Philoſoph. Wie
oft werden ekelhaft in einem Menſchen und in der Beur-
theilung eines Menſchen dieſe drei Dinge verwechſelt.

Sie wundern ſich, daß ich zu Gott beten kann? Geht
unſer Nachdenken über uns ſelbſt doch oft ſo weit, daß wir
keinen Beweis für unſere Exiſtenz haben, und wir müſſen uns
fühlen: heißt das nicht, uns ſelbſt anbeten? Wenn das Be-
dürfniß auf’s höchſte geſtiegen iſt, ſo fühlen wir Gott, und
dann beten wir! Auch hierin iſt der Wechſel; hier am Ende
der Dinge, für uns, ſchmerzhaft und groß, aber immer der-
ſelbe: erkennen müſſen wir ihn, wenn auch nicht in jedem
Augenblick fühlen. Das iſt kein Menſch, der ſich nicht oft
ganz fühlt; das iſt kein denkender Menſch, der nicht dem
Wechſel von Bewußtſein und Nicht-Bewußtſein nachſpäht:
und das nennt Ihr Schiller den Bruch. Aus dieſem Bruch
geht unſer Arbeiten an, unſer Leben, bewußt oder unbewußt,

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[227/0241] ſollen? in einer Stimmung kann keine Harmonie ſein. Daß dieſer Menſch überhaupt Dichter ſein muß, iſt Zwangs genug: das Übrige muß frei geſchehen, darin übt dieſer Künſtler der Menſchheit überhaupt nach, und dies allein, dieſer Wechſel nur macht ihn zum Dichter! Und in welcher rührenden Voll- kommenheit Goethe! Dies mein refrain für die Ewigkeit. So iſt’s auch mit der Liebe, die auch bei weitem nicht ſo na- türlich iſt, als man ſie verſchreit; erſt fühl’ ich, daß ich lieben kann, dann, will ich lieben, dann, muß ich lieben. Dies konſtituirt eine große Leidenſchaft — etwas rein Menſchliches — derſelbe Wechſel. Der ſie ſchildern kann, iſt ein Dichter, der ſie fühlt, ein Liebender, der ſie erklärt, ihre Beſtandtheile bis zum möglichſten Bewußtſein auflöſet, ein Philoſoph. Wie oft werden ekelhaft in einem Menſchen und in der Beur- theilung eines Menſchen dieſe drei Dinge verwechſelt. Sie wundern ſich, daß ich zu Gott beten kann? Geht unſer Nachdenken über uns ſelbſt doch oft ſo weit, daß wir keinen Beweis für unſere Exiſtenz haben, und wir müſſen uns fühlen: heißt das nicht, uns ſelbſt anbeten? Wenn das Be- dürfniß auf’s höchſte geſtiegen iſt, ſo fühlen wir Gott, und dann beten wir! Auch hierin iſt der Wechſel; hier am Ende der Dinge, für uns, ſchmerzhaft und groß, aber immer der- ſelbe: erkennen müſſen wir ihn, wenn auch nicht in jedem Augenblick fühlen. Das iſt kein Menſch, der ſich nicht oft ganz fühlt; das iſt kein denkender Menſch, der nicht dem Wechſel von Bewußtſein und Nicht-Bewußtſein nachſpäht: und das nennt Ihr Schiller den Bruch. Aus dieſem Bruch geht unſer Arbeiten an, unſer Leben, bewußt oder unbewußt, 15 *

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Zitationshilfe: Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Bd. 1. Berlin, 1834, S. 227. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel01_1834/241>, abgerufen am 19.04.2024.