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Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Bd. 1. Berlin, 1834.

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Genüsse und Gelingen heißt, erschöpft hat, und vorgegeben
hat, sein Herz -- das tiefste reinste Wollen -- sei befriedigt!
der stellt sich weise neben mir! der ewig Wahren, Geschmerz-
ten, Verunglückten! Ich trage eine Welt von Umschauung,
und Geistesbeweglichkeit und Liebesquellen in mir! -- sonst --
müßt' ich immer verzweiflen. "Das Leben ist nicht viel"?
Gerechter Gott! was denn? Ein lebendig genußreiches, ge-
foltertes Herz soll ich gelassen dabei sitzen und bei meiner einen
Hälfte -- Kadaver kann ich's nicht einmal nennen -- war-
ten, dulden, trauren, "stolz sein"? womit? daß ich mich nicht
tödte? daß ich Besseres tief auffaßte? Das Leben ist wenig,
wenn ich's in der Hand halte wie eine Erbse, und es mit
allem seinen Bewußtsein wegwerfe. Dies um einen großen,
oder auch grad' um keinen Preiß kann ein jeder. Aber es sich
Minute vor Minute entreißen, entwinden lassen? durch eine
Anstalt -- eine sanktionirte! -- von Menschen? Und die Ver-
nunft soll auch noch neigend Ja sagen, und in Bürgeruniform
auf den Festen erscheinen, die von meiner Lebensessenz bereitet
sind. Gottes Strafe kann nicht ausbleiben! Rückwärts geht
die Natur nicht! diese inn're Empörung wogte und tobte
in mir; und lauter Dummes sagte ich! weil ich dies ver-
schwieg. Mir aber zum Trost schrie ich in mein Innres hinab:
Herrschsucht, hohle Nichtigkeit, ist es nicht, die dich erbittert;
Herzensgerechtigkeit ist's! Die Rechte aller Geborenen möch-
test du um Blutes Preiß hervorklauben aus dem Schutt, und
Bau, und Einsturz des falschen stolzen Gebäudes. Warum
gefielen dir sonst die Bürger -- heute in der Stelle des Mo-
niteurs -- am besten? Warum hättest du lieber einen Woll-

Genüſſe und Gelingen heißt, erſchöpft hat, und vorgegeben
hat, ſein Herz — das tiefſte reinſte Wollen — ſei befriedigt!
der ſtellt ſich weiſe neben mir! der ewig Wahren, Geſchmerz-
ten, Verunglückten! Ich trage eine Welt von Umſchauung,
und Geiſtesbeweglichkeit und Liebesquellen in mir! — ſonſt —
müßt’ ich immer verzweiflen. „Das Leben iſt nicht viel“?
Gerechter Gott! was denn? Ein lebendig genußreiches, ge-
foltertes Herz ſoll ich gelaſſen dabei ſitzen und bei meiner einen
Hälfte — Kadaver kann ich’s nicht einmal nennen — war-
ten, dulden, trauren, „ſtolz ſein“? womit? daß ich mich nicht
tödte? daß ich Beſſeres tief auffaßte? Das Leben iſt wenig,
wenn ich’s in der Hand halte wie eine Erbſe, und es mit
allem ſeinen Bewußtſein wegwerfe. Dies um einen großen,
oder auch grad’ um keinen Preiß kann ein jeder. Aber es ſich
Minute vor Minute entreißen, entwinden laſſen? durch eine
Anſtalt — eine ſanktionirte! — von Menſchen? Und die Ver-
nunft ſoll auch noch neigend Ja ſagen, und in Bürgeruniform
auf den Feſten erſcheinen, die von meiner Lebenseſſenz bereitet
ſind. Gottes Strafe kann nicht ausbleiben! Rückwärts geht
die Natur nicht! dieſe inn’re Empörung wogte und tobte
in mir; und lauter Dummes ſagte ich! weil ich dies ver-
ſchwieg. Mir aber zum Troſt ſchrie ich in mein Innres hinab:
Herrſchſucht, hohle Nichtigkeit, iſt es nicht, die dich erbittert;
Herzensgerechtigkeit iſt’s! Die Rechte aller Geborenen möch-
teſt du um Blutes Preiß hervorklauben aus dem Schutt, und
Bau, und Einſturz des falſchen ſtolzen Gebäudes. Warum
gefielen dir ſonſt die Bürger — heute in der Stelle des Mo-
niteurs — am beſten? Warum hätteſt du lieber einen Woll-

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[410/0424] Genüſſe und Gelingen heißt, erſchöpft hat, und vorgegeben hat, ſein Herz — das tiefſte reinſte Wollen — ſei befriedigt! der ſtellt ſich weiſe neben mir! der ewig Wahren, Geſchmerz- ten, Verunglückten! Ich trage eine Welt von Umſchauung, und Geiſtesbeweglichkeit und Liebesquellen in mir! — ſonſt — müßt’ ich immer verzweiflen. „Das Leben iſt nicht viel“? Gerechter Gott! was denn? Ein lebendig genußreiches, ge- foltertes Herz ſoll ich gelaſſen dabei ſitzen und bei meiner einen Hälfte — Kadaver kann ich’s nicht einmal nennen — war- ten, dulden, trauren, „ſtolz ſein“? womit? daß ich mich nicht tödte? daß ich Beſſeres tief auffaßte? Das Leben iſt wenig, wenn ich’s in der Hand halte wie eine Erbſe, und es mit allem ſeinen Bewußtſein wegwerfe. Dies um einen großen, oder auch grad’ um keinen Preiß kann ein jeder. Aber es ſich Minute vor Minute entreißen, entwinden laſſen? durch eine Anſtalt — eine ſanktionirte! — von Menſchen? Und die Ver- nunft ſoll auch noch neigend Ja ſagen, und in Bürgeruniform auf den Feſten erſcheinen, die von meiner Lebenseſſenz bereitet ſind. Gottes Strafe kann nicht ausbleiben! Rückwärts geht die Natur nicht! dieſe inn’re Empörung wogte und tobte in mir; und lauter Dummes ſagte ich! weil ich dies ver- ſchwieg. Mir aber zum Troſt ſchrie ich in mein Innres hinab: Herrſchſucht, hohle Nichtigkeit, iſt es nicht, die dich erbittert; Herzensgerechtigkeit iſt’s! Die Rechte aller Geborenen möch- teſt du um Blutes Preiß hervorklauben aus dem Schutt, und Bau, und Einſturz des falſchen ſtolzen Gebäudes. Warum gefielen dir ſonſt die Bürger — heute in der Stelle des Mo- niteurs — am beſten? Warum hätteſt du lieber einen Woll-

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Zitationshilfe: Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Bd. 1. Berlin, 1834, S. 410. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel01_1834/424>, abgerufen am 28.03.2024.