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Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Bd. 1. Berlin, 1834.

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es nicht erdulden, daß, wenn man diese Blätter lesen würde,
man nun denken müßte, ich habe sie freundschaftlich, eben
weil ich ihn liebe, aus dem Hans Sachs gebraucht: ich wollte,
daß man wissen soll, wie es in mir zugegangen ist. Noch
wünsche ich darauf aufmerksam zu machen, daß wenigstens
ich es gar nicht nenne ein Gedicht verstehn, bis mir nicht
Ähnliches vor oder nach dem Lesen damit begegnet ist. Ich
verstehe kein Buch, bis ich mir nicht sagen kann, wie der
Autor dazu gekommen ist, es zu machen, wie es in ihm da-
bei vorging: so muß jedes Buch einen Text in sich tragen,
wie einen Kern, um den es herumwächst; und, ist es sehr gut,
und je besser es ist, so wieder in seinen einzelnen Theilen!
So war mir z. B. der Kopf ganz verschlossen über "Erl-
könig", und erst den vorigen Winter verstand ich ihn plötz-
lich. Noch weiß ich kein Wort über "das Wasser rauscht,
das Wasser schwoll", hingegen verstehe ich die Pandora und
die natürliche Tochter von Goethe ganz anders, als seine an-
dere Leute. Das ist das Alter. In dem Fürsten ist alle
Leidenschaft in Tochterliebe umgewandelt, und diese noch un-
behandelte Liebe als Leidenschaft zeigt Goethe. Epimetheus
ist alt wie ein Sohn der Erde, von ihr, und Kenntniß ihrer,
von Alter, von Undank, von der angehäuften Zahl der Übel,
gedrückt, von Hoffnung endlich entblößt! Das wahre Alter;
nicht einmal ungeduldig: den "welken Kranz" betrachtend,
die Jungen bedauernd, nicht beneidend, und doch rastlos im
Schaffen, weil die Noth es grade heischt. Mir hat's einen
entsetzlichen Eindruck gemacht: ich verstand gleich das Alter.
Ich wurde damals alt. Auch alt wird man plötzlich. Auch

es nicht erdulden, daß, wenn man dieſe Blätter leſen würde,
man nun denken müßte, ich habe ſie freundſchaftlich, eben
weil ich ihn liebe, aus dem Hans Sachs gebraucht: ich wollte,
daß man wiſſen ſoll, wie es in mir zugegangen iſt. Noch
wünſche ich darauf aufmerkſam zu machen, daß wenigſtens
ich es gar nicht nenne ein Gedicht verſtehn, bis mir nicht
Ähnliches vor oder nach dem Leſen damit begegnet iſt. Ich
verſtehe kein Buch, bis ich mir nicht ſagen kann, wie der
Autor dazu gekommen iſt, es zu machen, wie es in ihm da-
bei vorging: ſo muß jedes Buch einen Text in ſich tragen,
wie einen Kern, um den es herumwächſt; und, iſt es ſehr gut,
und je beſſer es iſt, ſo wieder in ſeinen einzelnen Theilen!
So war mir z. B. der Kopf ganz verſchloſſen über „Erl-
könig“, und erſt den vorigen Winter verſtand ich ihn plötz-
lich. Noch weiß ich kein Wort über „das Waſſer rauſcht,
das Waſſer ſchwoll“, hingegen verſtehe ich die Pandora und
die natürliche Tochter von Goethe ganz anders, als ſeine an-
dere Leute. Das iſt das Alter. In dem Fürſten iſt alle
Leidenſchaft in Tochterliebe umgewandelt, und dieſe noch un-
behandelte Liebe als Leidenſchaft zeigt Goethe. Epimetheus
iſt alt wie ein Sohn der Erde, von ihr, und Kenntniß ihrer,
von Alter, von Undank, von der angehäuften Zahl der Übel,
gedrückt, von Hoffnung endlich entblößt! Das wahre Alter;
nicht einmal ungeduldig: den „welken Kranz“ betrachtend,
die Jungen bedauernd, nicht beneidend, und doch raſtlos im
Schaffen, weil die Noth es grade heiſcht. Mir hat’s einen
entſetzlichen Eindruck gemacht: ich verſtand gleich das Alter.
Ich wurde damals alt. Auch alt wird man plötzlich. Auch

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[460/0474] es nicht erdulden, daß, wenn man dieſe Blätter leſen würde, man nun denken müßte, ich habe ſie freundſchaftlich, eben weil ich ihn liebe, aus dem Hans Sachs gebraucht: ich wollte, daß man wiſſen ſoll, wie es in mir zugegangen iſt. Noch wünſche ich darauf aufmerkſam zu machen, daß wenigſtens ich es gar nicht nenne ein Gedicht verſtehn, bis mir nicht Ähnliches vor oder nach dem Leſen damit begegnet iſt. Ich verſtehe kein Buch, bis ich mir nicht ſagen kann, wie der Autor dazu gekommen iſt, es zu machen, wie es in ihm da- bei vorging: ſo muß jedes Buch einen Text in ſich tragen, wie einen Kern, um den es herumwächſt; und, iſt es ſehr gut, und je beſſer es iſt, ſo wieder in ſeinen einzelnen Theilen! So war mir z. B. der Kopf ganz verſchloſſen über „Erl- könig“, und erſt den vorigen Winter verſtand ich ihn plötz- lich. Noch weiß ich kein Wort über „das Waſſer rauſcht, das Waſſer ſchwoll“, hingegen verſtehe ich die Pandora und die natürliche Tochter von Goethe ganz anders, als ſeine an- dere Leute. Das iſt das Alter. In dem Fürſten iſt alle Leidenſchaft in Tochterliebe umgewandelt, und dieſe noch un- behandelte Liebe als Leidenſchaft zeigt Goethe. Epimetheus iſt alt wie ein Sohn der Erde, von ihr, und Kenntniß ihrer, von Alter, von Undank, von der angehäuften Zahl der Übel, gedrückt, von Hoffnung endlich entblößt! Das wahre Alter; nicht einmal ungeduldig: den „welken Kranz“ betrachtend, die Jungen bedauernd, nicht beneidend, und doch raſtlos im Schaffen, weil die Noth es grade heiſcht. Mir hat’s einen entſetzlichen Eindruck gemacht: ich verſtand gleich das Alter. Ich wurde damals alt. Auch alt wird man plötzlich. Auch

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Zitationshilfe: Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Bd. 1. Berlin, 1834, S. 460. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel01_1834/474>, abgerufen am 29.03.2024.