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Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Bd. 1. Berlin, 1834.

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ten; und weil man über solche Dinge nicht ungewiß bleiben
muß, was aus ihnen geworden ist, wenn man sie ausgespro-
chen hat!

An "Indifferentismus" habe ich nie gelitten. War mir
etwas indifferent, so wußte ich nichts davon, und es berührte
mich nicht. War mir etwas wichtig und wurmte mir, so ver-
hehlte ich's wohl, aber ich verläugnete es nicht. Meine Er-
ziehung, die keine war, hat wohl dazu beigetragen. Mir
wurde nichts gelehrt; ich bin wie in einem Walde von Men-
schen erwachsen, und da nahm sich der Himmel meiner an:
viel Schmutz und Unwahrheit ist nicht an mich gekommen.
So kann ich aber nun auch nichts lernen. Auch keine Reli-
gion, und erwarte auch die von oben. Nämlich den Namen
zu meiner, oder eine neu offenbarte. ("Abhängig von den
Menschen" bin ich nur insofern sie mich lieben sollen, und ich
mit ihnen leben muß; mein Herz und meinen Geist kann nie-
mand als durch Gründe regieren. Ich verstehe also den Aus-
druck von Ihnen nicht, wenn Sie sagen, Sie waren sonst
abhängig von ihnen.) Können Sie also Marie'n einen posi-
tiven Glauben über positive Ereignisse zu ihrer ewigen Ruhe
beibringen, so thuen Sie es. Wird es ihr aber, ohne jene
Systeme wie Sie durchgegangen zu sein, nützen wie es Ihnen
jetzt nützt; oder sie davor schützen, daß nicht geschieht was
Ihnen geschah? Das sagen Sie mir; und, kann ein Mensch
dem andern -- ohne Offenbarung -- ein Religionsgefühl,
Meinung, und Ansicht beibringen? Ist das nicht der letzte
intime Akt zwischen der Kreatur und dem, was ich nicht nen-
nen mag? Oder wollen Sie sie nur vor Dünkel und Un-

ten; und weil man über ſolche Dinge nicht ungewiß bleiben
muß, was aus ihnen geworden iſt, wenn man ſie ausgeſpro-
chen hat!

An „Indifferentismus“ habe ich nie gelitten. War mir
etwas indifferent, ſo wußte ich nichts davon, und es berührte
mich nicht. War mir etwas wichtig und wurmte mir, ſo ver-
hehlte ich’s wohl, aber ich verläugnete es nicht. Meine Er-
ziehung, die keine war, hat wohl dazu beigetragen. Mir
wurde nichts gelehrt; ich bin wie in einem Walde von Men-
ſchen erwachſen, und da nahm ſich der Himmel meiner an:
viel Schmutz und Unwahrheit iſt nicht an mich gekommen.
So kann ich aber nun auch nichts lernen. Auch keine Reli-
gion, und erwarte auch die von oben. Nämlich den Namen
zu meiner, oder eine neu offenbarte. („Abhängig von den
Menſchen“ bin ich nur inſofern ſie mich lieben ſollen, und ich
mit ihnen leben muß; mein Herz und meinen Geiſt kann nie-
mand als durch Gründe regieren. Ich verſtehe alſo den Aus-
druck von Ihnen nicht, wenn Sie ſagen, Sie waren ſonſt
abhängig von ihnen.) Können Sie alſo Marie’n einen poſi-
tiven Glauben über poſitive Ereigniſſe zu ihrer ewigen Ruhe
beibringen, ſo thuen Sie es. Wird es ihr aber, ohne jene
Syſteme wie Sie durchgegangen zu ſein, nützen wie es Ihnen
jetzt nützt; oder ſie davor ſchützen, daß nicht geſchieht was
Ihnen geſchah? Das ſagen Sie mir; und, kann ein Menſch
dem andern — ohne Offenbarung — ein Religionsgefühl,
Meinung, und Anſicht beibringen? Iſt das nicht der letzte
intime Akt zwiſchen der Kreatur und dem, was ich nicht nen-
nen mag? Oder wollen Sie ſie nur vor Dünkel und Un-

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[584/0598] ten; und weil man über ſolche Dinge nicht ungewiß bleiben muß, was aus ihnen geworden iſt, wenn man ſie ausgeſpro- chen hat! An „Indifferentismus“ habe ich nie gelitten. War mir etwas indifferent, ſo wußte ich nichts davon, und es berührte mich nicht. War mir etwas wichtig und wurmte mir, ſo ver- hehlte ich’s wohl, aber ich verläugnete es nicht. Meine Er- ziehung, die keine war, hat wohl dazu beigetragen. Mir wurde nichts gelehrt; ich bin wie in einem Walde von Men- ſchen erwachſen, und da nahm ſich der Himmel meiner an: viel Schmutz und Unwahrheit iſt nicht an mich gekommen. So kann ich aber nun auch nichts lernen. Auch keine Reli- gion, und erwarte auch die von oben. Nämlich den Namen zu meiner, oder eine neu offenbarte. („Abhängig von den Menſchen“ bin ich nur inſofern ſie mich lieben ſollen, und ich mit ihnen leben muß; mein Herz und meinen Geiſt kann nie- mand als durch Gründe regieren. Ich verſtehe alſo den Aus- druck von Ihnen nicht, wenn Sie ſagen, Sie waren ſonſt abhängig von ihnen.) Können Sie alſo Marie’n einen poſi- tiven Glauben über poſitive Ereigniſſe zu ihrer ewigen Ruhe beibringen, ſo thuen Sie es. Wird es ihr aber, ohne jene Syſteme wie Sie durchgegangen zu ſein, nützen wie es Ihnen jetzt nützt; oder ſie davor ſchützen, daß nicht geſchieht was Ihnen geſchah? Das ſagen Sie mir; und, kann ein Menſch dem andern — ohne Offenbarung — ein Religionsgefühl, Meinung, und Anſicht beibringen? Iſt das nicht der letzte intime Akt zwiſchen der Kreatur und dem, was ich nicht nen- nen mag? Oder wollen Sie ſie nur vor Dünkel und Un-

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Zitationshilfe: Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Bd. 1. Berlin, 1834, S. 584. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel01_1834/598>, abgerufen am 24.04.2024.