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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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Affekte, Temperamente, also wieder Allgemeines im Auge habe. Nimmt
Schelling überhaupt zu der Vorstellung eines Abfalls die Zuflucht, um
die Wirklichkeit der Idee zu erklären, so wird ihm consequent das In-
dividuum zu einem flüchtigen und nichtigen Schattenbilde der Idee. Die
Zufälligkeit, die sich zur Basis der Eigenheit des Individuums steigert,
wird von ihm als falscher Standpunkt zur Seite geschoben und bleibt
daher, statt daß ihre Aufhebung dargethan wird, unüberwunden. --
Eine andere Seite, die Kunstvergötterung, ein Ausfluß der zu hohen
Stellung des Unbewußten, ist anderswo zu beurtheilen.

Solger ringt, diese Mängel aufzuheben und sein Erwin ist durch
dies blose Ringen ein bei aller Trefflichkeit beunruhigendes und hetzen-
des Buch, die Vorlesungen, übrigens klarer geordnet, in diesem Punkte
ebenso. Der Gang ist durchaus, die Erkenntnißweisen als falsch aufzu-
lösen, welche nur Gegensätze aufeinander beziehen, aber die Gegensätze
selbst werden nicht objectiv ineinander aufgelöst. Es ist subjective
Dialektik. Daher wird Gott und das Wunder zu Hilfe genommen,
um die reine Immanenz der Idee zu erklären. Hinter diesen sinnlichen
und stoffartigen Hilfen öffnet sich eine reinere Aussicht in den philosophi-
schen Begriff der absoluten Thätigkeit (Entelechie), aber sie schließt sich
wieder, die platonische Trennung der Idee von ihrer Wirklichkeit tritt
wieder hervor und ein Schaffen Gottes in die Lücke. Solger ver-
gißt nicht die Zufälligkeit als wesentliches Moment in der Wirklichkeit
der Idee als Individuum, aber es wird, zunächst abgesehen vom
Schönen, nicht dargethan, wie sie sich aufhebt und überwindet im
Ganzen, dann, was das Schöne betrifft, wird nicht dargethan, wie
sie sich aufhebt im Einzelnen. Darzuthun, daß diese letztere Aufhe-
bung nur möglich ist durch die Phantasie und Kunst, dahin strebt
Solger, dahin streben auch wir; aber wie der Genius dazu gelangt,
die Zufälligkeit zugleich so in ihr Recht zu setzen und so aufzuheben,
daß dieser Akt in Einem Gegenstande für die Anschauung beschlossen
erscheint, dieß kann nicht erklärt werden, so lange nicht dargethan ist,
wie die Zufälligkeit auch objektiv, vor der besonderen Art, wie der
Genius sie in Einem Schlage aufhebt, sich fortwährend aufhebt. Von
diesem Hauptpunkte bald mehr.

2. Es ist hier nicht der Ort, zu beweisen, wie durch Hegels ganzes
System überall die Besonderung des Allgemeinen sich in die für sich
seyende Einheit der Einzelnheit, die Substanz sich in das Subjekt zu-
sammenfaßt. Diese Immanenz, diese Ergänzung des Plato durch Ari-

Affekte, Temperamente, alſo wieder Allgemeines im Auge habe. Nimmt
Schelling überhaupt zu der Vorſtellung eines Abfalls die Zuflucht, um
die Wirklichkeit der Idee zu erklären, ſo wird ihm conſequent das In-
dividuum zu einem flüchtigen und nichtigen Schattenbilde der Idee. Die
Zufälligkeit, die ſich zur Baſis der Eigenheit des Individuums ſteigert,
wird von ihm als falſcher Standpunkt zur Seite geſchoben und bleibt
daher, ſtatt daß ihre Aufhebung dargethan wird, unüberwunden. —
Eine andere Seite, die Kunſtvergötterung, ein Ausfluß der zu hohen
Stellung des Unbewußten, iſt anderswo zu beurtheilen.

Solger ringt, dieſe Mängel aufzuheben und ſein Erwin iſt durch
dies bloſe Ringen ein bei aller Trefflichkeit beunruhigendes und hetzen-
des Buch, die Vorleſungen, übrigens klarer geordnet, in dieſem Punkte
ebenſo. Der Gang iſt durchaus, die Erkenntnißweiſen als falſch aufzu-
löſen, welche nur Gegenſätze aufeinander beziehen, aber die Gegenſätze
ſelbſt werden nicht objectiv ineinander aufgelöst. Es iſt ſubjective
Dialektik. Daher wird Gott und das Wunder zu Hilfe genommen,
um die reine Immanenz der Idee zu erklären. Hinter dieſen ſinnlichen
und ſtoffartigen Hilfen öffnet ſich eine reinere Ausſicht in den philoſophi-
ſchen Begriff der abſoluten Thätigkeit (Entelechie), aber ſie ſchließt ſich
wieder, die platoniſche Trennung der Idee von ihrer Wirklichkeit tritt
wieder hervor und ein Schaffen Gottes in die Lücke. Solger ver-
gißt nicht die Zufälligkeit als weſentliches Moment in der Wirklichkeit
der Idee als Individuum, aber es wird, zunächſt abgeſehen vom
Schönen, nicht dargethan, wie ſie ſich aufhebt und überwindet im
Ganzen, dann, was das Schöne betrifft, wird nicht dargethan, wie
ſie ſich aufhebt im Einzelnen. Darzuthun, daß dieſe letztere Aufhe-
bung nur möglich iſt durch die Phantaſie und Kunſt, dahin ſtrebt
Solger, dahin ſtreben auch wir; aber wie der Genius dazu gelangt,
die Zufälligkeit zugleich ſo in ihr Recht zu ſetzen und ſo aufzuheben,
daß dieſer Akt in Einem Gegenſtande für die Anſchauung beſchloſſen
erſcheint, dieß kann nicht erklärt werden, ſo lange nicht dargethan iſt,
wie die Zufälligkeit auch objektiv, vor der beſonderen Art, wie der
Genius ſie in Einem Schlage aufhebt, ſich fortwährend aufhebt. Von
dieſem Hauptpunkte bald mehr.

2. Es iſt hier nicht der Ort, zu beweiſen, wie durch Hegels ganzes
Syſtem überall die Beſonderung des Allgemeinen ſich in die für ſich
ſeyende Einheit der Einzelnheit, die Subſtanz ſich in das Subjekt zu-
ſammenfaßt. Dieſe Immanenz, dieſe Ergänzung des Plato durch Ari-

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[134/0148] Affekte, Temperamente, alſo wieder Allgemeines im Auge habe. Nimmt Schelling überhaupt zu der Vorſtellung eines Abfalls die Zuflucht, um die Wirklichkeit der Idee zu erklären, ſo wird ihm conſequent das In- dividuum zu einem flüchtigen und nichtigen Schattenbilde der Idee. Die Zufälligkeit, die ſich zur Baſis der Eigenheit des Individuums ſteigert, wird von ihm als falſcher Standpunkt zur Seite geſchoben und bleibt daher, ſtatt daß ihre Aufhebung dargethan wird, unüberwunden. — Eine andere Seite, die Kunſtvergötterung, ein Ausfluß der zu hohen Stellung des Unbewußten, iſt anderswo zu beurtheilen. Solger ringt, dieſe Mängel aufzuheben und ſein Erwin iſt durch dies bloſe Ringen ein bei aller Trefflichkeit beunruhigendes und hetzen- des Buch, die Vorleſungen, übrigens klarer geordnet, in dieſem Punkte ebenſo. Der Gang iſt durchaus, die Erkenntnißweiſen als falſch aufzu- löſen, welche nur Gegenſätze aufeinander beziehen, aber die Gegenſätze ſelbſt werden nicht objectiv ineinander aufgelöst. Es iſt ſubjective Dialektik. Daher wird Gott und das Wunder zu Hilfe genommen, um die reine Immanenz der Idee zu erklären. Hinter dieſen ſinnlichen und ſtoffartigen Hilfen öffnet ſich eine reinere Ausſicht in den philoſophi- ſchen Begriff der abſoluten Thätigkeit (Entelechie), aber ſie ſchließt ſich wieder, die platoniſche Trennung der Idee von ihrer Wirklichkeit tritt wieder hervor und ein Schaffen Gottes in die Lücke. Solger ver- gißt nicht die Zufälligkeit als weſentliches Moment in der Wirklichkeit der Idee als Individuum, aber es wird, zunächſt abgeſehen vom Schönen, nicht dargethan, wie ſie ſich aufhebt und überwindet im Ganzen, dann, was das Schöne betrifft, wird nicht dargethan, wie ſie ſich aufhebt im Einzelnen. Darzuthun, daß dieſe letztere Aufhe- bung nur möglich iſt durch die Phantaſie und Kunſt, dahin ſtrebt Solger, dahin ſtreben auch wir; aber wie der Genius dazu gelangt, die Zufälligkeit zugleich ſo in ihr Recht zu ſetzen und ſo aufzuheben, daß dieſer Akt in Einem Gegenſtande für die Anſchauung beſchloſſen erſcheint, dieß kann nicht erklärt werden, ſo lange nicht dargethan iſt, wie die Zufälligkeit auch objektiv, vor der beſonderen Art, wie der Genius ſie in Einem Schlage aufhebt, ſich fortwährend aufhebt. Von dieſem Hauptpunkte bald mehr. 2. Es iſt hier nicht der Ort, zu beweiſen, wie durch Hegels ganzes Syſtem überall die Beſonderung des Allgemeinen ſich in die für ſich ſeyende Einheit der Einzelnheit, die Subſtanz ſich in das Subjekt zu- ſammenfaßt. Dieſe Immanenz, dieſe Ergänzung des Plato durch Ari-

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 134. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/148>, abgerufen am 16.04.2024.