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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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auch ein Thier läßt sich so darstellen. Die Individualität hat in jenen
Sphären ebensowenig Eigenheit als die Regel Strenge (vergl. §. 38).
Dieß scheint ein Widerspruch, denn je weniger diese bindet, desto freier
scheint sich jene zu ergehen. Allein diese Freiheit ist nicht Eigenheit;
die Kraft der Eigenheit erkenne ich an der Kraft ihres Gegensatzes, der
bindenden Regel; diese Freiheit ist ein uninteressantes Hinschweifen und
das Schweifen ist eben der Charakter der Gattung selbst.

2. In der Thierwelt zeigen sich Individuen, welche als originell
in ihren Anlagen mit einigem Rechte bezeichnet werden können, aber
ihre wahre Bedeutung erhält die Frage erst in der Menschenwelt. Es
sticht ein Individuum aus allen übrigen hervor, es sind die Kräfte der
Menschheit so eigenthümlich in ihm gemischt, daß es keinem andern
gleicht. Dazu braucht es offenbar eine ungemeine Fülle von Kräften,
sonst ist nicht vorhanden, was sich mischen könnte; eine Individualität,
die sich die Miene giebt, etwas ganz Besonderes zu seyn ohne die dazu
nöthigen Mittel, ist vielmehr trivial und gewöhnlich. Eben durch den
Besitz jener Kräfte fällt aber auch in die Augen, was von Kräften der
Gattung selbst dem begabtesten Individuum fehlt, also ist jener Unterschied
des Individuums von andern zugleich der des Individuums vom Ganzen
der Gattung. Zugleich jedoch ist ebensosehr die Gattung in größerer
Fülle gegenwärtig in dem so hervorstechenden Individuum, als in allen
andern, und was dasselbe von diesen trennt, hebt es also vielmehr
gerade in das Licht der Gattungs-Allgemeinheit um so mehr empor.
Das Ungemeine ist in diesem Sinne das Allgemeinste. Also steigt nicht
nur mit der Bestimmtheit der Regel, wie sie die Gattung giebt, die
Eigenheit der Individuen (§. 38), sondern auch, während ebendadurch
der Widerspruch zwischen beiden zu steigen scheint, hebt er sich vielmehr
in demselben Grade auf. Benvenuto Cellini z. B. ist ganz Orginal,
aber ebensosehr, ja ebendadurch ganz Repräsentant seines Jahrhunderts,
seines Volks, ja "vielleicht der gesammten Menschheit. Solche Naturen
können als geistige Flügelmänner angesehen werden, die uns mit heftigen
Aeußerungen dasjenige andeuten, was durchaus, obgleich oft nur mit
schwachen unkenntlichen Zügen, in jeden menschlichen Busen eingeschrieben
ist. -- Ein bedeutendes, gleichsam unbegrenztes Individuum." (Göthe).
Unter den sogenannten Originalen pflegt man allerdings Individuen
von einer nicht nur aus reichen Kräften gemischten, sondern mehr oder
minder krankhaft überworfenen, in sich widersprechenden Eigenthümlichkeit
zu verstehen; allein man wird finden, daß solche in Nationen zum

auch ein Thier läßt ſich ſo darſtellen. Die Individualität hat in jenen
Sphären ebenſowenig Eigenheit als die Regel Strenge (vergl. §. 38).
Dieß ſcheint ein Widerſpruch, denn je weniger dieſe bindet, deſto freier
ſcheint ſich jene zu ergehen. Allein dieſe Freiheit iſt nicht Eigenheit;
die Kraft der Eigenheit erkenne ich an der Kraft ihres Gegenſatzes, der
bindenden Regel; dieſe Freiheit iſt ein unintereſſantes Hinſchweifen und
das Schweifen iſt eben der Charakter der Gattung ſelbſt.

2. In der Thierwelt zeigen ſich Individuen, welche als originell
in ihren Anlagen mit einigem Rechte bezeichnet werden können, aber
ihre wahre Bedeutung erhält die Frage erſt in der Menſchenwelt. Es
ſticht ein Individuum aus allen übrigen hervor, es ſind die Kräfte der
Menſchheit ſo eigenthümlich in ihm gemiſcht, daß es keinem andern
gleicht. Dazu braucht es offenbar eine ungemeine Fülle von Kräften,
ſonſt iſt nicht vorhanden, was ſich miſchen könnte; eine Individualität,
die ſich die Miene giebt, etwas ganz Beſonderes zu ſeyn ohne die dazu
nöthigen Mittel, iſt vielmehr trivial und gewöhnlich. Eben durch den
Beſitz jener Kräfte fällt aber auch in die Augen, was von Kräften der
Gattung ſelbſt dem begabteſten Individuum fehlt, alſo iſt jener Unterſchied
des Individuums von andern zugleich der des Individuums vom Ganzen
der Gattung. Zugleich jedoch iſt ebenſoſehr die Gattung in größerer
Fülle gegenwärtig in dem ſo hervorſtechenden Individuum, als in allen
andern, und was daſſelbe von dieſen trennt, hebt es alſo vielmehr
gerade in das Licht der Gattungs-Allgemeinheit um ſo mehr empor.
Das Ungemeine iſt in dieſem Sinne das Allgemeinſte. Alſo ſteigt nicht
nur mit der Beſtimmtheit der Regel, wie ſie die Gattung giebt, die
Eigenheit der Individuen (§. 38), ſondern auch, während ebendadurch
der Widerſpruch zwiſchen beiden zu ſteigen ſcheint, hebt er ſich vielmehr
in demſelben Grade auf. Benvenuto Cellini z. B. iſt ganz Orginal,
aber ebenſoſehr, ja ebendadurch ganz Repräſentant ſeines Jahrhunderts,
ſeines Volks, ja „vielleicht der geſammten Menſchheit. Solche Naturen
können als geiſtige Flügelmänner angeſehen werden, die uns mit heftigen
Aeußerungen dasjenige andeuten, was durchaus, obgleich oft nur mit
ſchwachen unkenntlichen Zügen, in jeden menſchlichen Buſen eingeſchrieben
iſt. — Ein bedeutendes, gleichſam unbegrenztes Individuum.“ (Göthe).
Unter den ſogenannten Originalen pflegt man allerdings Individuen
von einer nicht nur aus reichen Kräften gemiſchten, ſondern mehr oder
minder krankhaft überworfenen, in ſich widerſprechenden Eigenthümlichkeit
zu verſtehen; allein man wird finden, daß ſolche in Nationen zum

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[138/0152] auch ein Thier läßt ſich ſo darſtellen. Die Individualität hat in jenen Sphären ebenſowenig Eigenheit als die Regel Strenge (vergl. §. 38). Dieß ſcheint ein Widerſpruch, denn je weniger dieſe bindet, deſto freier ſcheint ſich jene zu ergehen. Allein dieſe Freiheit iſt nicht Eigenheit; die Kraft der Eigenheit erkenne ich an der Kraft ihres Gegenſatzes, der bindenden Regel; dieſe Freiheit iſt ein unintereſſantes Hinſchweifen und das Schweifen iſt eben der Charakter der Gattung ſelbſt. 2. In der Thierwelt zeigen ſich Individuen, welche als originell in ihren Anlagen mit einigem Rechte bezeichnet werden können, aber ihre wahre Bedeutung erhält die Frage erſt in der Menſchenwelt. Es ſticht ein Individuum aus allen übrigen hervor, es ſind die Kräfte der Menſchheit ſo eigenthümlich in ihm gemiſcht, daß es keinem andern gleicht. Dazu braucht es offenbar eine ungemeine Fülle von Kräften, ſonſt iſt nicht vorhanden, was ſich miſchen könnte; eine Individualität, die ſich die Miene giebt, etwas ganz Beſonderes zu ſeyn ohne die dazu nöthigen Mittel, iſt vielmehr trivial und gewöhnlich. Eben durch den Beſitz jener Kräfte fällt aber auch in die Augen, was von Kräften der Gattung ſelbſt dem begabteſten Individuum fehlt, alſo iſt jener Unterſchied des Individuums von andern zugleich der des Individuums vom Ganzen der Gattung. Zugleich jedoch iſt ebenſoſehr die Gattung in größerer Fülle gegenwärtig in dem ſo hervorſtechenden Individuum, als in allen andern, und was daſſelbe von dieſen trennt, hebt es alſo vielmehr gerade in das Licht der Gattungs-Allgemeinheit um ſo mehr empor. Das Ungemeine iſt in dieſem Sinne das Allgemeinſte. Alſo ſteigt nicht nur mit der Beſtimmtheit der Regel, wie ſie die Gattung giebt, die Eigenheit der Individuen (§. 38), ſondern auch, während ebendadurch der Widerſpruch zwiſchen beiden zu ſteigen ſcheint, hebt er ſich vielmehr in demſelben Grade auf. Benvenuto Cellini z. B. iſt ganz Orginal, aber ebenſoſehr, ja ebendadurch ganz Repräſentant ſeines Jahrhunderts, ſeines Volks, ja „vielleicht der geſammten Menſchheit. Solche Naturen können als geiſtige Flügelmänner angeſehen werden, die uns mit heftigen Aeußerungen dasjenige andeuten, was durchaus, obgleich oft nur mit ſchwachen unkenntlichen Zügen, in jeden menſchlichen Buſen eingeſchrieben iſt. — Ein bedeutendes, gleichſam unbegrenztes Individuum.“ (Göthe). Unter den ſogenannten Originalen pflegt man allerdings Individuen von einer nicht nur aus reichen Kräften gemiſchten, ſondern mehr oder minder krankhaft überworfenen, in ſich widerſprechenden Eigenthümlichkeit zu verſtehen; allein man wird finden, daß ſolche in Nationen zum

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 138. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/152>, abgerufen am 19.04.2024.