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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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stande nicht zu denken, wo der Anblick des Nackten reizlose Gewohnheit
ist. Dennoch hat diese Wahrheit auch auf ethischem Boden ihre Grenze, denn,
um nur dies zu erwähnen, es gehört unbezweifelt zu den Uebeln einer allzu-
künstlichen, naturwidrigen Bildung, daß die Phantasie durch die heimlichen
Reize der Verhüllung zu sehr verdorben ist, um ohne Schaden die Enthüllung
wenigstens nur da, wo sie erlaubt oder unvermeidlich ist, ertragen zu können.
Ganz andere Gesetze aber hat hierin das Schöne. Treffliche Bemerkungen hier-
über enthalten Schleiermacher's vertraute Briefe über die Lucinde, be-
sonders der Versuch über die Schamhaftigkeit, wiewohl freilich der Lucinde,
einem schlechten Buche voll Absichtlichkeit, gerade jene keusche Entbindung von
der Scham vielmehr fehlt. Die Feigenblätter, die man an nackten Statuen
anbringt, sind ganz ein belehrendes Beispiel für die corrupte Scham.
Michel Angelo, als er gehört, daß Daniel von Volterra im Auf-
trage des Papstes die Blößen an seinen Gestalten im jüngsten Gerichte
mit Lappen übermalt habe, sagte: Dite al papa, che questa e piccola
facenda e che facilmente si puo acconciare; che acconci egli il mondo,
che le pitture si acconciano presto.
Das Gegentheil der schönen Unschuld
ist der verstohlene, durch das Gefühl des Verbotenen geschärfte Reiz der
halben Enthüllung; darin eben besteht die Frivolität Wielandischer
Darstellung. Es kann aber in einem ästhetischen Ganzen auch diese Form
auftreten, wenn es nämlich eben die Bildung mit ihrer künstlichen Scham
zum Schauplatze hat, sofern sie nur nicht als die wahre, sondern als
eine Form unter anderen ironisch hingestellt wird; der blos moralische
Standpunkt wird jedoch auch dagegen ungerecht seyn. -- Von den Vor-
schriften der Scham sind die des Anstands zu unterscheiden als Verwahrungen
nicht vor unzeitiger Weckung der Begierde, sondern vor Aufdeckung des
abstoßend Schmutzigen und Rohen in der Natur. Auch hierin weicht das
Schöne von der ethischen Gesetzgebung des wirklichen Lebens ab durch die
Forderungen der Komik, wovon an seinem Orte zu handeln ist.

2. Die Einheit der Unschuld löst sich und die Verirrung beginnt. Der
moralische Standpunkt springt hier alsbald ein mit dem Ausspruch, daß
dies nicht seyn soll; der ästhetische ist contemplativ und wartet ohne Furcht
den Ablauf ab, wo das sittliche Gesetz sich herstellen wird, denn er kennt
es nicht nur als stetes Sollen, sondern hält fest, daß die Wirklichkeit gar
nicht aus ihm heraus kann, sondern durch die Empörung gegen dasselbe
es selbst vollstreckt. Aber auch unterwegs und abgesehen vom Ende darf im
Schönen niemals weder die Auflehnung gegen das Gute als gemeine Natur,
als blose Häßlichkeit erscheinen, sondern nur als volles Leben, in welchem die

ſtande nicht zu denken, wo der Anblick des Nackten reizloſe Gewohnheit
iſt. Dennoch hat dieſe Wahrheit auch auf ethiſchem Boden ihre Grenze, denn,
um nur dies zu erwähnen, es gehört unbezweifelt zu den Uebeln einer allzu-
künſtlichen, naturwidrigen Bildung, daß die Phantaſie durch die heimlichen
Reize der Verhüllung zu ſehr verdorben iſt, um ohne Schaden die Enthüllung
wenigſtens nur da, wo ſie erlaubt oder unvermeidlich iſt, ertragen zu können.
Ganz andere Geſetze aber hat hierin das Schöne. Treffliche Bemerkungen hier-
über enthalten Schleiermacher’s vertraute Briefe über die Lucinde, be-
ſonders der Verſuch über die Schamhaftigkeit, wiewohl freilich der Lucinde,
einem ſchlechten Buche voll Abſichtlichkeit, gerade jene keuſche Entbindung von
der Scham vielmehr fehlt. Die Feigenblätter, die man an nackten Statuen
anbringt, ſind ganz ein belehrendes Beiſpiel für die corrupte Scham.
Michel Angelo, als er gehört, daß Daniel von Volterra im Auf-
trage des Papſtes die Blößen an ſeinen Geſtalten im jüngſten Gerichte
mit Lappen übermalt habe, ſagte: Dite al papa, che questa è piccola
facenda e che facilmente si può acconciare; che acconci egli il mondo,
che le pitture si acconciano presto.
Das Gegentheil der ſchönen Unſchuld
iſt der verſtohlene, durch das Gefühl des Verbotenen geſchärfte Reiz der
halben Enthüllung; darin eben beſteht die Frivolität Wielandiſcher
Darſtellung. Es kann aber in einem äſthetiſchen Ganzen auch dieſe Form
auftreten, wenn es nämlich eben die Bildung mit ihrer künſtlichen Scham
zum Schauplatze hat, ſofern ſie nur nicht als die wahre, ſondern als
eine Form unter anderen ironiſch hingeſtellt wird; der blos moraliſche
Standpunkt wird jedoch auch dagegen ungerecht ſeyn. — Von den Vor-
ſchriften der Scham ſind die des Anſtands zu unterſcheiden als Verwahrungen
nicht vor unzeitiger Weckung der Begierde, ſondern vor Aufdeckung des
abſtoßend Schmutzigen und Rohen in der Natur. Auch hierin weicht das
Schöne von der ethiſchen Geſetzgebung des wirklichen Lebens ab durch die
Forderungen der Komik, wovon an ſeinem Orte zu handeln iſt.

2. Die Einheit der Unſchuld löst ſich und die Verirrung beginnt. Der
moraliſche Standpunkt ſpringt hier alsbald ein mit dem Ausſpruch, daß
dies nicht ſeyn ſoll; der äſthetiſche iſt contemplativ und wartet ohne Furcht
den Ablauf ab, wo das ſittliche Geſetz ſich herſtellen wird, denn er kennt
es nicht nur als ſtetes Sollen, ſondern hält feſt, daß die Wirklichkeit gar
nicht aus ihm heraus kann, ſondern durch die Empörung gegen dasſelbe
es ſelbſt vollſtreckt. Aber auch unterwegs und abgeſehen vom Ende darf im
Schönen niemals weder die Auflehnung gegen das Gute als gemeine Natur,
als bloſe Häßlichkeit erſcheinen, ſondern nur als volles Leben, in welchem die

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[160/0174] ſtande nicht zu denken, wo der Anblick des Nackten reizloſe Gewohnheit iſt. Dennoch hat dieſe Wahrheit auch auf ethiſchem Boden ihre Grenze, denn, um nur dies zu erwähnen, es gehört unbezweifelt zu den Uebeln einer allzu- künſtlichen, naturwidrigen Bildung, daß die Phantaſie durch die heimlichen Reize der Verhüllung zu ſehr verdorben iſt, um ohne Schaden die Enthüllung wenigſtens nur da, wo ſie erlaubt oder unvermeidlich iſt, ertragen zu können. Ganz andere Geſetze aber hat hierin das Schöne. Treffliche Bemerkungen hier- über enthalten Schleiermacher’s vertraute Briefe über die Lucinde, be- ſonders der Verſuch über die Schamhaftigkeit, wiewohl freilich der Lucinde, einem ſchlechten Buche voll Abſichtlichkeit, gerade jene keuſche Entbindung von der Scham vielmehr fehlt. Die Feigenblätter, die man an nackten Statuen anbringt, ſind ganz ein belehrendes Beiſpiel für die corrupte Scham. Michel Angelo, als er gehört, daß Daniel von Volterra im Auf- trage des Papſtes die Blößen an ſeinen Geſtalten im jüngſten Gerichte mit Lappen übermalt habe, ſagte: Dite al papa, che questa è piccola facenda e che facilmente si può acconciare; che acconci egli il mondo, che le pitture si acconciano presto. Das Gegentheil der ſchönen Unſchuld iſt der verſtohlene, durch das Gefühl des Verbotenen geſchärfte Reiz der halben Enthüllung; darin eben beſteht die Frivolität Wielandiſcher Darſtellung. Es kann aber in einem äſthetiſchen Ganzen auch dieſe Form auftreten, wenn es nämlich eben die Bildung mit ihrer künſtlichen Scham zum Schauplatze hat, ſofern ſie nur nicht als die wahre, ſondern als eine Form unter anderen ironiſch hingeſtellt wird; der blos moraliſche Standpunkt wird jedoch auch dagegen ungerecht ſeyn. — Von den Vor- ſchriften der Scham ſind die des Anſtands zu unterſcheiden als Verwahrungen nicht vor unzeitiger Weckung der Begierde, ſondern vor Aufdeckung des abſtoßend Schmutzigen und Rohen in der Natur. Auch hierin weicht das Schöne von der ethiſchen Geſetzgebung des wirklichen Lebens ab durch die Forderungen der Komik, wovon an ſeinem Orte zu handeln iſt. 2. Die Einheit der Unſchuld löst ſich und die Verirrung beginnt. Der moraliſche Standpunkt ſpringt hier alsbald ein mit dem Ausſpruch, daß dies nicht ſeyn ſoll; der äſthetiſche iſt contemplativ und wartet ohne Furcht den Ablauf ab, wo das ſittliche Geſetz ſich herſtellen wird, denn er kennt es nicht nur als ſtetes Sollen, ſondern hält feſt, daß die Wirklichkeit gar nicht aus ihm heraus kann, ſondern durch die Empörung gegen dasſelbe es ſelbſt vollſtreckt. Aber auch unterwegs und abgeſehen vom Ende darf im Schönen niemals weder die Auflehnung gegen das Gute als gemeine Natur, als bloſe Häßlichkeit erſcheinen, ſondern nur als volles Leben, in welchem die

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 160. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/174>, abgerufen am 28.03.2024.