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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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der Welt herkommt, kann sich das Vollkommene nur als ein Jenseitiges
vorstellen. Hegel meint (Relig.-Philos. Th. 1, S. 66 ff.), es handle
sich hier vom Gefühl überhaupt, und bringt vor, jeder Inhalt könne in dieser
Form auftreten. Allein es ist hier nicht die Rede vom Gefühl überhaupt,
sondern vom Gefühl mit einem bestimmten Inhalt; denn darauf ist zu
sehen, wo der Geist herkommt bei dem Eintritte in die Religion. Er kommt
von dem blinden Gedränge der Welt, er ist spezifisch erfüllt mit dem Gefühle
der Nichtigkeit des Wirklichen, das er im Kampfe der Zwecke nicht als
Wirklichkeit der Idee, also nicht als wahre Wirklichkeit zu verstehen, zu
überschauen vermochte. Es ist Gefühl des Ewigen, Urgefühl. Hierauf
aber ist allerdings festzuhalten, daß das Gefühl unterscheidungslos ist, daß
es sein Object nicht nennen kann. Die Gegensätze der Idee als Wirklich-
keit werden eben jetzt als nichtig gefühlt aus dem genannten Grunde, und
die Einheit, worin sie ihre Wahrheit haben, erscheint ebendaher als leer,
als Abgrund. Bei dieser Objectlosigkeit kann es aber wiederum nicht bleiben,
denn die Bewegung des Gemüths muß ein Wohin vor sich sehen. Könnte
nun das müde Subject mit dem ersten Schritte in die wahrhaft Object-
bestimmende Thätigkeit, in das reine Denken, übergehen, so würde es seinem
Gegenstand dadurch Erfüllung geben, daß es die Wirklichkeit als Wirklich-
keit der Idee, die Idee als vernünftige Totalität begriffe; dann würde es
auch begreifen, daß die wahre Versöhnung mit der Welt und die wahre
Befreiung vom Eigenwillen eben in der Welt selbst, wenn man sie recht
versteht, in der Schule des Lebens und der Bildung zu suchen ist. Allein
bis dahin hat das Gefühl noch einen weiten Weg vor sich. Es ist nur erst
einer schwachen und unklaren Objectbestimmung fähig. Es soll jenen Ab-
grund erfüllen, bestimmen. Was hat es dazu? Die Welt liegt im Nebel
hinter ihm; das fühlende Subject hat nur sich selbst, denn das Gefühl fällt
mit dem fühlenden Subjecte trennungslos zusammen. Es nimmt also sich
selbst und zeichnet sein Bild hinüber in das Dunkel des Abgrunds. Dies
ist ein Widerspruch: es wollte sich entfliehen und trifft sich wieder an.
Es wollte seinen Eigenwillen opfern, aber dies Opfer kann wahrhaft
nur die Erziehung und Schule der recht verstandenen Welt bewerkstelligen.
Es trägt also auch seinen Eigenwillen, den es gerade brechen wollte, mit
seinem Ebenbild in das Jenseits hinüber. Freilich zeichnet es mit ver-
größernden Umrissen und behauptet seine verklärte Gestalt als absolute
Gestalt und als die höchste Liebe; aber es täuscht sich, denn wo es irgend
Ernst wird, beruft es sich für all seinen bösen Willen und seine Grausam-
keit auf seinen Gott und macht so sich selbst zu seiner eigenen Autorität.

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der Welt herkommt, kann ſich das Vollkommene nur als ein Jenſeitiges
vorſtellen. Hegel meint (Relig.-Philoſ. Th. 1, S. 66 ff.), es handle
ſich hier vom Gefühl überhaupt, und bringt vor, jeder Inhalt könne in dieſer
Form auftreten. Allein es iſt hier nicht die Rede vom Gefühl überhaupt,
ſondern vom Gefühl mit einem beſtimmten Inhalt; denn darauf iſt zu
ſehen, wo der Geiſt herkommt bei dem Eintritte in die Religion. Er kommt
von dem blinden Gedränge der Welt, er iſt ſpezifiſch erfüllt mit dem Gefühle
der Nichtigkeit des Wirklichen, das er im Kampfe der Zwecke nicht als
Wirklichkeit der Idee, alſo nicht als wahre Wirklichkeit zu verſtehen, zu
überſchauen vermochte. Es iſt Gefühl des Ewigen, Urgefühl. Hierauf
aber iſt allerdings feſtzuhalten, daß das Gefühl unterſcheidungslos iſt, daß
es ſein Object nicht nennen kann. Die Gegenſätze der Idee als Wirklich-
keit werden eben jetzt als nichtig gefühlt aus dem genannten Grunde, und
die Einheit, worin ſie ihre Wahrheit haben, erſcheint ebendaher als leer,
als Abgrund. Bei dieſer Objectloſigkeit kann es aber wiederum nicht bleiben,
denn die Bewegung des Gemüths muß ein Wohin vor ſich ſehen. Könnte
nun das müde Subject mit dem erſten Schritte in die wahrhaft Object-
beſtimmende Thätigkeit, in das reine Denken, übergehen, ſo würde es ſeinem
Gegenſtand dadurch Erfüllung geben, daß es die Wirklichkeit als Wirklich-
keit der Idee, die Idee als vernünftige Totalität begriffe; dann würde es
auch begreifen, daß die wahre Verſöhnung mit der Welt und die wahre
Befreiung vom Eigenwillen eben in der Welt ſelbſt, wenn man ſie recht
verſteht, in der Schule des Lebens und der Bildung zu ſuchen iſt. Allein
bis dahin hat das Gefühl noch einen weiten Weg vor ſich. Es iſt nur erſt
einer ſchwachen und unklaren Objectbeſtimmung fähig. Es ſoll jenen Ab-
grund erfüllen, beſtimmen. Was hat es dazu? Die Welt liegt im Nebel
hinter ihm; das fühlende Subject hat nur ſich ſelbſt, denn das Gefühl fällt
mit dem fühlenden Subjecte trennungslos zuſammen. Es nimmt alſo ſich
ſelbſt und zeichnet ſein Bild hinüber in das Dunkel des Abgrunds. Dies
iſt ein Widerſpruch: es wollte ſich entfliehen und trifft ſich wieder an.
Es wollte ſeinen Eigenwillen opfern, aber dies Opfer kann wahrhaft
nur die Erziehung und Schule der recht verſtandenen Welt bewerkſtelligen.
Es trägt alſo auch ſeinen Eigenwillen, den es gerade brechen wollte, mit
ſeinem Ebenbild in das Jenſeits hinüber. Freilich zeichnet es mit ver-
größernden Umriſſen und behauptet ſeine verklärte Geſtalt als abſolute
Geſtalt und als die höchſte Liebe; aber es täuſcht ſich, denn wo es irgend
Ernſt wird, beruft es ſich für all ſeinen böſen Willen und ſeine Grauſam-
keit auf ſeinen Gott und macht ſo ſich ſelbſt zu ſeiner eigenen Autorität.

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[163/0177] der Welt herkommt, kann ſich das Vollkommene nur als ein Jenſeitiges vorſtellen. Hegel meint (Relig.-Philoſ. Th. 1, S. 66 ff.), es handle ſich hier vom Gefühl überhaupt, und bringt vor, jeder Inhalt könne in dieſer Form auftreten. Allein es iſt hier nicht die Rede vom Gefühl überhaupt, ſondern vom Gefühl mit einem beſtimmten Inhalt; denn darauf iſt zu ſehen, wo der Geiſt herkommt bei dem Eintritte in die Religion. Er kommt von dem blinden Gedränge der Welt, er iſt ſpezifiſch erfüllt mit dem Gefühle der Nichtigkeit des Wirklichen, das er im Kampfe der Zwecke nicht als Wirklichkeit der Idee, alſo nicht als wahre Wirklichkeit zu verſtehen, zu überſchauen vermochte. Es iſt Gefühl des Ewigen, Urgefühl. Hierauf aber iſt allerdings feſtzuhalten, daß das Gefühl unterſcheidungslos iſt, daß es ſein Object nicht nennen kann. Die Gegenſätze der Idee als Wirklich- keit werden eben jetzt als nichtig gefühlt aus dem genannten Grunde, und die Einheit, worin ſie ihre Wahrheit haben, erſcheint ebendaher als leer, als Abgrund. Bei dieſer Objectloſigkeit kann es aber wiederum nicht bleiben, denn die Bewegung des Gemüths muß ein Wohin vor ſich ſehen. Könnte nun das müde Subject mit dem erſten Schritte in die wahrhaft Object- beſtimmende Thätigkeit, in das reine Denken, übergehen, ſo würde es ſeinem Gegenſtand dadurch Erfüllung geben, daß es die Wirklichkeit als Wirklich- keit der Idee, die Idee als vernünftige Totalität begriffe; dann würde es auch begreifen, daß die wahre Verſöhnung mit der Welt und die wahre Befreiung vom Eigenwillen eben in der Welt ſelbſt, wenn man ſie recht verſteht, in der Schule des Lebens und der Bildung zu ſuchen iſt. Allein bis dahin hat das Gefühl noch einen weiten Weg vor ſich. Es iſt nur erſt einer ſchwachen und unklaren Objectbeſtimmung fähig. Es ſoll jenen Ab- grund erfüllen, beſtimmen. Was hat es dazu? Die Welt liegt im Nebel hinter ihm; das fühlende Subject hat nur ſich ſelbſt, denn das Gefühl fällt mit dem fühlenden Subjecte trennungslos zuſammen. Es nimmt alſo ſich ſelbſt und zeichnet ſein Bild hinüber in das Dunkel des Abgrunds. Dies iſt ein Widerſpruch: es wollte ſich entfliehen und trifft ſich wieder an. Es wollte ſeinen Eigenwillen opfern, aber dies Opfer kann wahrhaft nur die Erziehung und Schule der recht verſtandenen Welt bewerkſtelligen. Es trägt alſo auch ſeinen Eigenwillen, den es gerade brechen wollte, mit ſeinem Ebenbild in das Jenſeits hinüber. Freilich zeichnet es mit ver- größernden Umriſſen und behauptet ſeine verklärte Geſtalt als abſolute Geſtalt und als die höchſte Liebe; aber es täuſcht ſich, denn wo es irgend Ernſt wird, beruft es ſich für all ſeinen böſen Willen und ſeine Grauſam- keit auf ſeinen Gott und macht ſo ſich ſelbſt zu ſeiner eigenen Autorität. 11*

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 163. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/177>, abgerufen am 19.04.2024.