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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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unmittelbaren Verwechslung bestände. Was gesagt ist, gilt von allen
Hauptreligionen. Ein Blick auf die Kunst reicht hin, den Sinn der Sätze
des §. zu erklären. Stoff der religiösen Kunst sind die Götter oder, im
Christenthum, Gott, der Sohn und seine Wundergeschichte, Maria, die
Engel, die Heiligen u. s. w. Das wirkliche Reich der Natur- und
Menschenwelt aber in der Fülle seiner Kräfte und Richtungen und in der
unbefangenen Zufälligkeit seiner Individuen ist dadurch von der Kunst
verdrängt und ausgeschlossen. Die Griechen trugen, wie alle Völker auf
dem Standpunkte der Naturreligion, auch einzelne Kräfte der Natur (nicht
alle, dies bringt eben das Unvollständige der Vorstellung mit sich) hinüber
in das Allgemeine und schauten sie als Götter an: ebendarum aber war
die wirkliche Natur von der Kunst ausgeschlossen und sie kannten keine
eigentliche Landschaftmalerei. Sie stellten sittliche Mächte (wieder nicht
alle) als Götter vor: so waren die übergangenen Kreise des Lebens und
der wirkliche einzelne Mensch der Darstellung eigentlich unwürdig. Heroen
zwar wurden verherrlicht, von einzelnen Personen Statuen aufgestellt,
aber sie waren dadurch göttlicher Ehre gewürdigt; die rein historische
Darstellung aber konnte und durfte nicht aufkommen, das eigentliche Genre
auch nicht. Es ist Anfang des Verfalls, wo diese Sphären beliebt werden.
Im Christenthum ist es nicht anders. Es sind einzelne Momente des
vertieften sittlichen Lebens (auch hier nicht alle, sonst wäre das Jenseits
kein Jenseits mehr und die Religion aufgelöst) hinübergetragen, aber die
ganze Wirklichkeit, worin die weggelassenen Momente (Natur, Staat,
alles sogenannte Weltliche) sich realisiren, ist dadurch ausgeschlossen; reine
Geschichtsdarstellung, Genre und Landschaft kommen auch hier erst auf,
wie dieses religiöse Ideal zusammenfällt. Zwar was die Individuen
betrifft, so will das Christenthum, daß Allen geholfen werde, auch der
gewöhnliche Mensch ist daher der Darstellung würdig; allein weil das
Weltliche verworfen ist, sind in Wahrheit doch nur die Wenigen der
Darstellung durch die höhere, die eigentliche, d. h. die heilige Kunst
werth, die durch besondere Ascese heilig geworden sind. Dieser Charakter
der Ausschließung geht durch Alles: die Priester sind Uebermenschen, die
Andern haben keine geistige Persönlichkeit; die politische Persönlichkeit
wird im Adel angeschaut und die Andern sind ebendadurch davon aus-
geschlossen; man bewundert die Pracht des Monarchen und vergißt, daß
man sie selbst gezahlt hat. Nun sind freilich in den bevorzugten Ge-
stalten, welche der Darstellung allein wahrhaft würdig sind, im Grunde
alle wirklichen Subjecte vertreten, und alle Schönheit ist ja eigentlich ein

unmittelbaren Verwechslung beſtände. Was geſagt iſt, gilt von allen
Hauptreligionen. Ein Blick auf die Kunſt reicht hin, den Sinn der Sätze
des §. zu erklären. Stoff der religiöſen Kunſt ſind die Götter oder, im
Chriſtenthum, Gott, der Sohn und ſeine Wundergeſchichte, Maria, die
Engel, die Heiligen u. ſ. w. Das wirkliche Reich der Natur- und
Menſchenwelt aber in der Fülle ſeiner Kräfte und Richtungen und in der
unbefangenen Zufälligkeit ſeiner Individuen iſt dadurch von der Kunſt
verdrängt und ausgeſchloſſen. Die Griechen trugen, wie alle Völker auf
dem Standpunkte der Naturreligion, auch einzelne Kräfte der Natur (nicht
alle, dies bringt eben das Unvollſtändige der Vorſtellung mit ſich) hinüber
in das Allgemeine und ſchauten ſie als Götter an: ebendarum aber war
die wirkliche Natur von der Kunſt ausgeſchloſſen und ſie kannten keine
eigentliche Landſchaftmalerei. Sie ſtellten ſittliche Mächte (wieder nicht
alle) als Götter vor: ſo waren die übergangenen Kreiſe des Lebens und
der wirkliche einzelne Menſch der Darſtellung eigentlich unwürdig. Heroen
zwar wurden verherrlicht, von einzelnen Perſonen Statuen aufgeſtellt,
aber ſie waren dadurch göttlicher Ehre gewürdigt; die rein hiſtoriſche
Darſtellung aber konnte und durfte nicht aufkommen, das eigentliche Genre
auch nicht. Es iſt Anfang des Verfalls, wo dieſe Sphären beliebt werden.
Im Chriſtenthum iſt es nicht anders. Es ſind einzelne Momente des
vertieften ſittlichen Lebens (auch hier nicht alle, ſonſt wäre das Jenſeits
kein Jenſeits mehr und die Religion aufgelöst) hinübergetragen, aber die
ganze Wirklichkeit, worin die weggelaſſenen Momente (Natur, Staat,
alles ſogenannte Weltliche) ſich realiſiren, iſt dadurch ausgeſchloſſen; reine
Geſchichtsdarſtellung, Genre und Landſchaft kommen auch hier erſt auf,
wie dieſes religiöſe Ideal zuſammenfällt. Zwar was die Individuen
betrifft, ſo will das Chriſtenthum, daß Allen geholfen werde, auch der
gewöhnliche Menſch iſt daher der Darſtellung würdig; allein weil das
Weltliche verworfen iſt, ſind in Wahrheit doch nur die Wenigen der
Darſtellung durch die höhere, die eigentliche, d. h. die heilige Kunſt
werth, die durch beſondere Aſceſe heilig geworden ſind. Dieſer Charakter
der Ausſchließung geht durch Alles: die Prieſter ſind Uebermenſchen, die
Andern haben keine geiſtige Perſönlichkeit; die politiſche Perſönlichkeit
wird im Adel angeſchaut und die Andern ſind ebendadurch davon aus-
geſchloſſen; man bewundert die Pracht des Monarchen und vergißt, daß
man ſie ſelbſt gezahlt hat. Nun ſind freilich in den bevorzugten Ge-
ſtalten, welche der Darſtellung allein wahrhaft würdig ſind, im Grunde
alle wirklichen Subjecte vertreten, und alle Schönheit iſt ja eigentlich ein

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[165/0179] unmittelbaren Verwechslung beſtände. Was geſagt iſt, gilt von allen Hauptreligionen. Ein Blick auf die Kunſt reicht hin, den Sinn der Sätze des §. zu erklären. Stoff der religiöſen Kunſt ſind die Götter oder, im Chriſtenthum, Gott, der Sohn und ſeine Wundergeſchichte, Maria, die Engel, die Heiligen u. ſ. w. Das wirkliche Reich der Natur- und Menſchenwelt aber in der Fülle ſeiner Kräfte und Richtungen und in der unbefangenen Zufälligkeit ſeiner Individuen iſt dadurch von der Kunſt verdrängt und ausgeſchloſſen. Die Griechen trugen, wie alle Völker auf dem Standpunkte der Naturreligion, auch einzelne Kräfte der Natur (nicht alle, dies bringt eben das Unvollſtändige der Vorſtellung mit ſich) hinüber in das Allgemeine und ſchauten ſie als Götter an: ebendarum aber war die wirkliche Natur von der Kunſt ausgeſchloſſen und ſie kannten keine eigentliche Landſchaftmalerei. Sie ſtellten ſittliche Mächte (wieder nicht alle) als Götter vor: ſo waren die übergangenen Kreiſe des Lebens und der wirkliche einzelne Menſch der Darſtellung eigentlich unwürdig. Heroen zwar wurden verherrlicht, von einzelnen Perſonen Statuen aufgeſtellt, aber ſie waren dadurch göttlicher Ehre gewürdigt; die rein hiſtoriſche Darſtellung aber konnte und durfte nicht aufkommen, das eigentliche Genre auch nicht. Es iſt Anfang des Verfalls, wo dieſe Sphären beliebt werden. Im Chriſtenthum iſt es nicht anders. Es ſind einzelne Momente des vertieften ſittlichen Lebens (auch hier nicht alle, ſonſt wäre das Jenſeits kein Jenſeits mehr und die Religion aufgelöst) hinübergetragen, aber die ganze Wirklichkeit, worin die weggelaſſenen Momente (Natur, Staat, alles ſogenannte Weltliche) ſich realiſiren, iſt dadurch ausgeſchloſſen; reine Geſchichtsdarſtellung, Genre und Landſchaft kommen auch hier erſt auf, wie dieſes religiöſe Ideal zuſammenfällt. Zwar was die Individuen betrifft, ſo will das Chriſtenthum, daß Allen geholfen werde, auch der gewöhnliche Menſch iſt daher der Darſtellung würdig; allein weil das Weltliche verworfen iſt, ſind in Wahrheit doch nur die Wenigen der Darſtellung durch die höhere, die eigentliche, d. h. die heilige Kunſt werth, die durch beſondere Aſceſe heilig geworden ſind. Dieſer Charakter der Ausſchließung geht durch Alles: die Prieſter ſind Uebermenſchen, die Andern haben keine geiſtige Perſönlichkeit; die politiſche Perſönlichkeit wird im Adel angeſchaut und die Andern ſind ebendadurch davon aus- geſchloſſen; man bewundert die Pracht des Monarchen und vergißt, daß man ſie ſelbſt gezahlt hat. Nun ſind freilich in den bevorzugten Ge- ſtalten, welche der Darſtellung allein wahrhaft würdig ſind, im Grunde alle wirklichen Subjecte vertreten, und alle Schönheit iſt ja eigentlich ein

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 165. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/179>, abgerufen am 29.03.2024.