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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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Kindheit der Wissenschaft von der Poesie geboren ist, wird nach ihrer
Vollendung in den Ocean der Poesie zurückfließen. Ganz ähnlich sagt
Schiller (über d. ästh. Erz. d. Menschen Br. 25), die Schönheit
allein könne die unendliche Einheit der Materie und Form, der Be-
schränkung und Unendlichkeit beweisen. Allein die Kunst kann ja die
höchste Einheit nur darum stets vollendet objectiv darstellen, weil sie
dieselbe nicht im letzten Grunde wahrhaft löst, sondern nur auf der
Oberfläche scheinbar. Dennoch hat auch die Kunst ihre Geschichte, weil
sie nie fertig wird, die Einheit in immer neuer tieferer und breiterer
Weise zu fassen. Die Philosophie aber ist vielmehr eine wahrhaft
objective Durchführung der Einheit, denn das Objectivste ist der Gedanke
und sein Bau als Form ist von der Objectivität in der Schönheit gerade
nur dadurch verschieden, daß er die reine durchsichtige Form alles Ob-
jectiven ist. Fertig ist zwar auch sie niemals, allein die Thätigkeit,
die auf den letzten Grund zurückgeht, ist mit jedem Schritte auf tiefere
Weise ein Ganzes, als diejenige, welche nicht bis dahin dringt, welche
den tiefsten Widerspruch nicht nennt. Schelling selbst hat jedoch seine
Ansicht verändert. In den Vorles. über die Meth. des ak. Stud.
(S. 313 ff.) ist anerkannt, daß die Kunst, obgleich ganz absolut, voll-
kommene Ineinsbildung des Realen und Idealen, sich doch selbst wieder
zur Philosophie verhalte, wie Reales zum Idealen. "Erst in dieser
löst der letzte Gegensatz des Wissens sich in die reine Identität auf u. s. w.
In das Innere der Kunst kann wissenschaftlich kein Sinn tiefer eindringen,
als der der Philosophie, ja der Philosoph sieht in dem Wesen der Kunst
sogar klarer, als der Künstler selbst zu sehen vermag. Insofern das
Ideelle immer ein höherer Reflex des Reellen ist, insofern ist in dem
Philosophen nothwendig auch noch ein höherer Reflex von dem, was in
dem Künstler reell ist u. s. w. Der Künstler, da in ihm dasselbe Prinzip
objectiv ist, was sich in dem Philosophen subjectiv reflectirt, verhält sich
darum auch zu jenem nicht subjectiv oder bewußt, nicht als ob er nicht
gleichfalls durch einen höheren Reflex sich desselben bewußt werden könnte:
aber dies ist er nicht in der Qualität des Künstlers. Als solcher ist er
von jenem Prinzip getrieben und besitzt es darum selbst nicht u. s. w.
Wie der Philosoph die Kunst sogar bis zu der geheimen Urquelle und
in die erste Werkstätte ihrer Hervorbringungen selbst verfolgen könne, ist
nur vom rein objectiven Standpunkte oder von dem einer Philosophie
aus, die nicht im Idealen zu der gleichen Höhe mit der Kunst
im Realen geht
, unbegreiflich."


Kindheit der Wiſſenſchaft von der Poeſie geboren iſt, wird nach ihrer
Vollendung in den Ocean der Poeſie zurückfließen. Ganz ähnlich ſagt
Schiller (über d. äſth. Erz. d. Menſchen Br. 25), die Schönheit
allein könne die unendliche Einheit der Materie und Form, der Be-
ſchränkung und Unendlichkeit beweiſen. Allein die Kunſt kann ja die
höchſte Einheit nur darum ſtets vollendet objectiv darſtellen, weil ſie
dieſelbe nicht im letzten Grunde wahrhaft löst, ſondern nur auf der
Oberfläche ſcheinbar. Dennoch hat auch die Kunſt ihre Geſchichte, weil
ſie nie fertig wird, die Einheit in immer neuer tieferer und breiterer
Weiſe zu faſſen. Die Philoſophie aber iſt vielmehr eine wahrhaft
objective Durchführung der Einheit, denn das Objectivſte iſt der Gedanke
und ſein Bau als Form iſt von der Objectivität in der Schönheit gerade
nur dadurch verſchieden, daß er die reine durchſichtige Form alles Ob-
jectiven iſt. Fertig iſt zwar auch ſie niemals, allein die Thätigkeit,
die auf den letzten Grund zurückgeht, iſt mit jedem Schritte auf tiefere
Weiſe ein Ganzes, als diejenige, welche nicht bis dahin dringt, welche
den tiefſten Widerſpruch nicht nennt. Schelling ſelbſt hat jedoch ſeine
Anſicht verändert. In den Vorleſ. über die Meth. des ak. Stud.
(S. 313 ff.) iſt anerkannt, daß die Kunſt, obgleich ganz abſolut, voll-
kommene Ineinsbildung des Realen und Idealen, ſich doch ſelbſt wieder
zur Philoſophie verhalte, wie Reales zum Idealen. „Erſt in dieſer
löst der letzte Gegenſatz des Wiſſens ſich in die reine Identität auf u. ſ. w.
In das Innere der Kunſt kann wiſſenſchaftlich kein Sinn tiefer eindringen,
als der der Philoſophie, ja der Philoſoph ſieht in dem Weſen der Kunſt
ſogar klarer, als der Künſtler ſelbſt zu ſehen vermag. Inſofern das
Ideelle immer ein höherer Reflex des Reellen iſt, inſofern iſt in dem
Philoſophen nothwendig auch noch ein höherer Reflex von dem, was in
dem Künſtler reell iſt u. ſ. w. Der Künſtler, da in ihm dasſelbe Prinzip
objectiv iſt, was ſich in dem Philoſophen ſubjectiv reflectirt, verhält ſich
darum auch zu jenem nicht ſubjectiv oder bewußt, nicht als ob er nicht
gleichfalls durch einen höheren Reflex ſich desſelben bewußt werden könnte:
aber dies iſt er nicht in der Qualität des Künſtlers. Als ſolcher iſt er
von jenem Prinzip getrieben und beſitzt es darum ſelbſt nicht u. ſ. w.
Wie der Philoſoph die Kunſt ſogar bis zu der geheimen Urquelle und
in die erſte Werkſtätte ihrer Hervorbringungen ſelbſt verfolgen könne, iſt
nur vom rein objectiven Standpunkte oder von dem einer Philoſophie
aus, die nicht im Idealen zu der gleichen Höhe mit der Kunſt
im Realen geht
, unbegreiflich.“


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[176/0190] Kindheit der Wiſſenſchaft von der Poeſie geboren iſt, wird nach ihrer Vollendung in den Ocean der Poeſie zurückfließen. Ganz ähnlich ſagt Schiller (über d. äſth. Erz. d. Menſchen Br. 25), die Schönheit allein könne die unendliche Einheit der Materie und Form, der Be- ſchränkung und Unendlichkeit beweiſen. Allein die Kunſt kann ja die höchſte Einheit nur darum ſtets vollendet objectiv darſtellen, weil ſie dieſelbe nicht im letzten Grunde wahrhaft löst, ſondern nur auf der Oberfläche ſcheinbar. Dennoch hat auch die Kunſt ihre Geſchichte, weil ſie nie fertig wird, die Einheit in immer neuer tieferer und breiterer Weiſe zu faſſen. Die Philoſophie aber iſt vielmehr eine wahrhaft objective Durchführung der Einheit, denn das Objectivſte iſt der Gedanke und ſein Bau als Form iſt von der Objectivität in der Schönheit gerade nur dadurch verſchieden, daß er die reine durchſichtige Form alles Ob- jectiven iſt. Fertig iſt zwar auch ſie niemals, allein die Thätigkeit, die auf den letzten Grund zurückgeht, iſt mit jedem Schritte auf tiefere Weiſe ein Ganzes, als diejenige, welche nicht bis dahin dringt, welche den tiefſten Widerſpruch nicht nennt. Schelling ſelbſt hat jedoch ſeine Anſicht verändert. In den Vorleſ. über die Meth. des ak. Stud. (S. 313 ff.) iſt anerkannt, daß die Kunſt, obgleich ganz abſolut, voll- kommene Ineinsbildung des Realen und Idealen, ſich doch ſelbſt wieder zur Philoſophie verhalte, wie Reales zum Idealen. „Erſt in dieſer löst der letzte Gegenſatz des Wiſſens ſich in die reine Identität auf u. ſ. w. In das Innere der Kunſt kann wiſſenſchaftlich kein Sinn tiefer eindringen, als der der Philoſophie, ja der Philoſoph ſieht in dem Weſen der Kunſt ſogar klarer, als der Künſtler ſelbſt zu ſehen vermag. Inſofern das Ideelle immer ein höherer Reflex des Reellen iſt, inſofern iſt in dem Philoſophen nothwendig auch noch ein höherer Reflex von dem, was in dem Künſtler reell iſt u. ſ. w. Der Künſtler, da in ihm dasſelbe Prinzip objectiv iſt, was ſich in dem Philoſophen ſubjectiv reflectirt, verhält ſich darum auch zu jenem nicht ſubjectiv oder bewußt, nicht als ob er nicht gleichfalls durch einen höheren Reflex ſich desſelben bewußt werden könnte: aber dies iſt er nicht in der Qualität des Künſtlers. Als ſolcher iſt er von jenem Prinzip getrieben und beſitzt es darum ſelbſt nicht u. ſ. w. Wie der Philoſoph die Kunſt ſogar bis zu der geheimen Urquelle und in die erſte Werkſtätte ihrer Hervorbringungen ſelbſt verfolgen könne, iſt nur vom rein objectiven Standpunkte oder von dem einer Philoſophie aus, die nicht im Idealen zu der gleichen Höhe mit der Kunſt im Realen geht, unbegreiflich.“

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 176. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/190>, abgerufen am 29.03.2024.