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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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(a. a. O. 264): "an sich existirt das Lächerliche gar nicht, es ist ein
Wechsel auf Sicht, und seine Existenz ist der Augenblick, wo er honorirt
wird." Man lasse sich an dieser Wahrheit nicht durch gemeinen Verstand
irre machen, indem man sich einbildet, einen vorhandenen schönen Gegen-
stand sich vorstellen zu können, als sehe ihn Niemand. Denn indem
ich mir ihn vorstelle, so sehe ich ihn (innerlich) und nur so als gesehenen
nenne ich ihn schön. Ich habe auch wirklich oder Andere haben Gegen-
stände von derselben Art der Schönheit gesehen und im letzteren Fall
haben diese mir das Bild zum inneren Sehen überliefert; ich versetze
mich, indem ich es schön nenne, in das Sehen dieser Andern hinein
oder, im ersten Falle, in mein eigenes zurück. Das allgemeine Wesen,
welches das Schöne schafft, sorgt aber auch dafür, daß das Schöne ge-
sehen werde. Unzähliche Blumen verwelken ungesehen, aber wir könnten
von ihnen gar nicht reden, wenn nicht unzähliche andere gesehen würden,
so daß wir die nicht gesehenen uns vorstellen können: und in diesem
Augenblick erst können diese schön heißen. Es ist dafür gesorgt, daß es
Menschen gibt und Augen. Soll aber einmal vorausgesetzt seyn, daß
jenes allgemeine Wesen nur die Kunst sey: diese bestimmt ja ihr Werk
ausdrücklich für die Anschauung. Ginge jedoch ein Werk zu Grunde,
ehe es irgend Jemand gesehen, so hat es doch der Künstler gesehen und
in diesem ist dasselbe Sehen wie in denen, für die es bestimmt war.
So lange es aber nicht gesehen wird, ist es nur Stein, Farbe u. s. w.
Es ist schwer, dies zu denken, denn indem ich mir das Werk vorstelle,
ist es schon nicht mehr dies, sondern schön, weil es den Zuschauer hat. --
Die ganze Erörterung führt auf den absoluten Kreis des Bewußtseyns,
aus dem wir nicht heraus können, noch sollen. Es ist gegen die Phi-
losophie von Kant bis Hegel neuerdings der Angriff auch so gewendet
worden, daß sie Alles als Bewußtseyn construire. Allein im Kriege
schießt man mit Fleiß auf die Leute. Da es kein Seyn gibt, außer
für das Bewußtseyn, so ist es eben die Aufgabe der Philosophie, das
Bewußtseyn zum Ganzen zu erweitern und das bestimmte Bewußtseyn
als Act des absoluten Bewußtseyns zu begreifen. Wie nun aber Alles
nur in dem Bewußtseyn und durch dasselbe ist, so auch das Schöne.

3. Aus dieser Nothwendigkeit im Schönen, vermöge deren der Zu-
schauer in ihm mitgesetzt ist, folgt noch keine Aufhebung seiner in sich
beschlossenen, auf sich ruhenden Sättigung. Diese fehlt nur dem Schein-
bilde des Schönen, von welchem im weiteren Zusammenhang die Rede
seyn wird.


(a. a. O. 264): „an ſich exiſtirt das Lächerliche gar nicht, es iſt ein
Wechſel auf Sicht, und ſeine Exiſtenz iſt der Augenblick, wo er honorirt
wird.“ Man laſſe ſich an dieſer Wahrheit nicht durch gemeinen Verſtand
irre machen, indem man ſich einbildet, einen vorhandenen ſchönen Gegen-
ſtand ſich vorſtellen zu können, als ſehe ihn Niemand. Denn indem
ich mir ihn vorſtelle, ſo ſehe ich ihn (innerlich) und nur ſo als geſehenen
nenne ich ihn ſchön. Ich habe auch wirklich oder Andere haben Gegen-
ſtände von derſelben Art der Schönheit geſehen und im letzteren Fall
haben dieſe mir das Bild zum inneren Sehen überliefert; ich verſetze
mich, indem ich es ſchön nenne, in das Sehen dieſer Andern hinein
oder, im erſten Falle, in mein eigenes zurück. Das allgemeine Weſen,
welches das Schöne ſchafft, ſorgt aber auch dafür, daß das Schöne ge-
ſehen werde. Unzähliche Blumen verwelken ungeſehen, aber wir könnten
von ihnen gar nicht reden, wenn nicht unzähliche andere geſehen würden,
ſo daß wir die nicht geſehenen uns vorſtellen können: und in dieſem
Augenblick erſt können dieſe ſchön heißen. Es iſt dafür geſorgt, daß es
Menſchen gibt und Augen. Soll aber einmal vorausgeſetzt ſeyn, daß
jenes allgemeine Weſen nur die Kunſt ſey: dieſe beſtimmt ja ihr Werk
ausdrücklich für die Anſchauung. Ginge jedoch ein Werk zu Grunde,
ehe es irgend Jemand geſehen, ſo hat es doch der Künſtler geſehen und
in dieſem iſt dasſelbe Sehen wie in denen, für die es beſtimmt war.
So lange es aber nicht geſehen wird, iſt es nur Stein, Farbe u. ſ. w.
Es iſt ſchwer, dies zu denken, denn indem ich mir das Werk vorſtelle,
iſt es ſchon nicht mehr dies, ſondern ſchön, weil es den Zuſchauer hat. —
Die ganze Erörterung führt auf den abſoluten Kreis des Bewußtſeyns,
aus dem wir nicht heraus können, noch ſollen. Es iſt gegen die Phi-
loſophie von Kant bis Hegel neuerdings der Angriff auch ſo gewendet
worden, daß ſie Alles als Bewußtſeyn conſtruire. Allein im Kriege
ſchießt man mit Fleiß auf die Leute. Da es kein Seyn gibt, außer
für das Bewußtſeyn, ſo iſt es eben die Aufgabe der Philoſophie, das
Bewußtſeyn zum Ganzen zu erweitern und das beſtimmte Bewußtſeyn
als Act des abſoluten Bewußtſeyns zu begreifen. Wie nun aber Alles
nur in dem Bewußtſeyn und durch dasſelbe iſt, ſo auch das Schöne.

3. Aus dieſer Nothwendigkeit im Schönen, vermöge deren der Zu-
ſchauer in ihm mitgeſetzt iſt, folgt noch keine Aufhebung ſeiner in ſich
beſchloſſenen, auf ſich ruhenden Sättigung. Dieſe fehlt nur dem Schein-
bilde des Schönen, von welchem im weiteren Zuſammenhang die Rede
ſeyn wird.


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[180/0194] (a. a. O. 264): „an ſich exiſtirt das Lächerliche gar nicht, es iſt ein Wechſel auf Sicht, und ſeine Exiſtenz iſt der Augenblick, wo er honorirt wird.“ Man laſſe ſich an dieſer Wahrheit nicht durch gemeinen Verſtand irre machen, indem man ſich einbildet, einen vorhandenen ſchönen Gegen- ſtand ſich vorſtellen zu können, als ſehe ihn Niemand. Denn indem ich mir ihn vorſtelle, ſo ſehe ich ihn (innerlich) und nur ſo als geſehenen nenne ich ihn ſchön. Ich habe auch wirklich oder Andere haben Gegen- ſtände von derſelben Art der Schönheit geſehen und im letzteren Fall haben dieſe mir das Bild zum inneren Sehen überliefert; ich verſetze mich, indem ich es ſchön nenne, in das Sehen dieſer Andern hinein oder, im erſten Falle, in mein eigenes zurück. Das allgemeine Weſen, welches das Schöne ſchafft, ſorgt aber auch dafür, daß das Schöne ge- ſehen werde. Unzähliche Blumen verwelken ungeſehen, aber wir könnten von ihnen gar nicht reden, wenn nicht unzähliche andere geſehen würden, ſo daß wir die nicht geſehenen uns vorſtellen können: und in dieſem Augenblick erſt können dieſe ſchön heißen. Es iſt dafür geſorgt, daß es Menſchen gibt und Augen. Soll aber einmal vorausgeſetzt ſeyn, daß jenes allgemeine Weſen nur die Kunſt ſey: dieſe beſtimmt ja ihr Werk ausdrücklich für die Anſchauung. Ginge jedoch ein Werk zu Grunde, ehe es irgend Jemand geſehen, ſo hat es doch der Künſtler geſehen und in dieſem iſt dasſelbe Sehen wie in denen, für die es beſtimmt war. So lange es aber nicht geſehen wird, iſt es nur Stein, Farbe u. ſ. w. Es iſt ſchwer, dies zu denken, denn indem ich mir das Werk vorſtelle, iſt es ſchon nicht mehr dies, ſondern ſchön, weil es den Zuſchauer hat. — Die ganze Erörterung führt auf den abſoluten Kreis des Bewußtſeyns, aus dem wir nicht heraus können, noch ſollen. Es iſt gegen die Phi- loſophie von Kant bis Hegel neuerdings der Angriff auch ſo gewendet worden, daß ſie Alles als Bewußtſeyn conſtruire. Allein im Kriege ſchießt man mit Fleiß auf die Leute. Da es kein Seyn gibt, außer für das Bewußtſeyn, ſo iſt es eben die Aufgabe der Philoſophie, das Bewußtſeyn zum Ganzen zu erweitern und das beſtimmte Bewußtſeyn als Act des abſoluten Bewußtſeyns zu begreifen. Wie nun aber Alles nur in dem Bewußtſeyn und durch dasſelbe iſt, ſo auch das Schöne. 3. Aus dieſer Nothwendigkeit im Schönen, vermöge deren der Zu- ſchauer in ihm mitgeſetzt iſt, folgt noch keine Aufhebung ſeiner in ſich beſchloſſenen, auf ſich ruhenden Sättigung. Dieſe fehlt nur dem Schein- bilde des Schönen, von welchem im weiteren Zuſammenhang die Rede ſeyn wird.

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 180. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/194>, abgerufen am 19.04.2024.