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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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objectiv ausgesprochen ist. In §. 55 Anm. 2 ist noch eine weitere Be-
deutung des Begriffes Stoff als die zweite aufgeführt worden: was man
gewöhnlich Süjet nennt. Von dieser Bedeutung ist im jetzigen Zusammen-
hang nicht besonders zu handeln; denn wer sich für den Stoff in diesem
Sinne einseitig interessirt, wer also z. B. nur fragt: ist der Inhalt
dieses Trauerspiels Geschichte oder nicht, bei dem liegt im Hintergrunde
immer entweder ein sinnliches oder ein moralisches Interesse, so daß dies
mit den unterschiedenen zwei Formen stoffartigen Interesses zusammenfällt.
Um nun aber diese Ausschließung des sittlichen Interesses nicht mißzu-
verstehen, erwäge man, daß eine sittliche Wirkung, je weniger sie ge-
sucht wird, um so sicherer zurückbleibt. Im Grunde des Gemüths tönt,
nachdem die Stimmung, worin Stoff und Form in Eins klang, vorüber
ist, der Gehalt nach. Schillers Tell z. B. wurde so zu einer
Quelle der Begeisterung für die deutsche Jugend in den Befreiungskrie-
gen. Solche -- vom ästhetischen Standpunkt -- stoffartige Wirkungen
sind gewiß nicht zu verachten; so hat Homer und haben die Tragiker
im Volke der Griechen Unendliches gewirkt; Göthe stellt überall in
seinen Urtheilen diese Wirkung sehr hoch, so wie er aber vom reinen
ästhetischen Gesichtspunkte spricht, so redet er anders. Doch nicht blos
durch Nachwirken eines spezifisch sittlichen Gehalts wird das Schöne
eine sittliche Gewalt; auch alle diejenigen Stufen der Idee, deren Ge-
halt nicht eigentlich als ethisch zu bezeichnen ist (vgl. §. 22), bereiten jeder
sittlichen Erhebung den Boden und zwar aus dem Grunde, den wir mit
Schillers Worten aufgeführt §. 75 Anm. 2, und dieser Grund fällt
mit dem objectiven in §. 22 zusammen, denn wie von jeder Existenz
eine Linie zu den höchsten, den sittlichen Sphären des Daseyns führt, so
führt jede Lösung des Zwiespalts im menschlichen Wesen zu der Ent-
wicklung seiner bedeutendsten sittlichen Kräfte.

2. Das Zweckmäßige kann ein Mittel zum Angenehmen seyn oder
ein Mittel zum Guten; in seiner wahren Bedeutung ist es beides, denn
auch das Angenehme hat seine richtige Stelle im Begriffe des höchsten
Guts. Die objectiven Hauptbedingungen, unter welchen das Zweckmäßige
im Guten zulässig ist, sind §. 23 ausgesprochen. Die eine bestand darin,
daß das Persönliche, ganz in das Zweckmäßige vertieft, wie eine zweite
Naturnothwendigkeit behandelt wird; so kann z. B. der Ackerbau poe-
tisch dargestellt werden. Die andere lag in der innigen Verbindung
mit den absoluten Zwecken. So ist ein Dampfschiff verglichen mit einem
Segelschiff, ein Dampfwagen verglichen mit einem von Pferden gezogenen

objectiv ausgeſprochen iſt. In §. 55 Anm. 2 iſt noch eine weitere Be-
deutung des Begriffes Stoff als die zweite aufgeführt worden: was man
gewöhnlich Süjet nennt. Von dieſer Bedeutung iſt im jetzigen Zuſammen-
hang nicht beſonders zu handeln; denn wer ſich für den Stoff in dieſem
Sinne einſeitig intereſſirt, wer alſo z. B. nur fragt: iſt der Inhalt
dieſes Trauerſpiels Geſchichte oder nicht, bei dem liegt im Hintergrunde
immer entweder ein ſinnliches oder ein moraliſches Intereſſe, ſo daß dies
mit den unterſchiedenen zwei Formen ſtoffartigen Intereſſes zuſammenfällt.
Um nun aber dieſe Ausſchließung des ſittlichen Intereſſes nicht mißzu-
verſtehen, erwäge man, daß eine ſittliche Wirkung, je weniger ſie ge-
ſucht wird, um ſo ſicherer zurückbleibt. Im Grunde des Gemüths tönt,
nachdem die Stimmung, worin Stoff und Form in Eins klang, vorüber
iſt, der Gehalt nach. Schillers Tell z. B. wurde ſo zu einer
Quelle der Begeiſterung für die deutſche Jugend in den Befreiungskrie-
gen. Solche — vom äſthetiſchen Standpunkt — ſtoffartige Wirkungen
ſind gewiß nicht zu verachten; ſo hat Homer und haben die Tragiker
im Volke der Griechen Unendliches gewirkt; Göthe ſtellt überall in
ſeinen Urtheilen dieſe Wirkung ſehr hoch, ſo wie er aber vom reinen
äſthetiſchen Geſichtspunkte ſpricht, ſo redet er anders. Doch nicht blos
durch Nachwirken eines ſpezifiſch ſittlichen Gehalts wird das Schöne
eine ſittliche Gewalt; auch alle diejenigen Stufen der Idee, deren Ge-
halt nicht eigentlich als ethiſch zu bezeichnen iſt (vgl. §. 22), bereiten jeder
ſittlichen Erhebung den Boden und zwar aus dem Grunde, den wir mit
Schillers Worten aufgeführt §. 75 Anm. 2, und dieſer Grund fällt
mit dem objectiven in §. 22 zuſammen, denn wie von jeder Exiſtenz
eine Linie zu den höchſten, den ſittlichen Sphären des Daſeyns führt, ſo
führt jede Löſung des Zwieſpalts im menſchlichen Weſen zu der Ent-
wicklung ſeiner bedeutendſten ſittlichen Kräfte.

2. Das Zweckmäßige kann ein Mittel zum Angenehmen ſeyn oder
ein Mittel zum Guten; in ſeiner wahren Bedeutung iſt es beides, denn
auch das Angenehme hat ſeine richtige Stelle im Begriffe des höchſten
Guts. Die objectiven Hauptbedingungen, unter welchen das Zweckmäßige
im Guten zuläſſig iſt, ſind §. 23 ausgeſprochen. Die eine beſtand darin,
daß das Perſönliche, ganz in das Zweckmäßige vertieft, wie eine zweite
Naturnothwendigkeit behandelt wird; ſo kann z. B. der Ackerbau poe-
tiſch dargeſtellt werden. Die andere lag in der innigen Verbindung
mit den abſoluten Zwecken. So iſt ein Dampfſchiff verglichen mit einem
Segelſchiff, ein Dampfwagen verglichen mit einem von Pferden gezogenen

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[198/0212] objectiv ausgeſprochen iſt. In §. 55 Anm. 2 iſt noch eine weitere Be- deutung des Begriffes Stoff als die zweite aufgeführt worden: was man gewöhnlich Süjet nennt. Von dieſer Bedeutung iſt im jetzigen Zuſammen- hang nicht beſonders zu handeln; denn wer ſich für den Stoff in dieſem Sinne einſeitig intereſſirt, wer alſo z. B. nur fragt: iſt der Inhalt dieſes Trauerſpiels Geſchichte oder nicht, bei dem liegt im Hintergrunde immer entweder ein ſinnliches oder ein moraliſches Intereſſe, ſo daß dies mit den unterſchiedenen zwei Formen ſtoffartigen Intereſſes zuſammenfällt. Um nun aber dieſe Ausſchließung des ſittlichen Intereſſes nicht mißzu- verſtehen, erwäge man, daß eine ſittliche Wirkung, je weniger ſie ge- ſucht wird, um ſo ſicherer zurückbleibt. Im Grunde des Gemüths tönt, nachdem die Stimmung, worin Stoff und Form in Eins klang, vorüber iſt, der Gehalt nach. Schillers Tell z. B. wurde ſo zu einer Quelle der Begeiſterung für die deutſche Jugend in den Befreiungskrie- gen. Solche — vom äſthetiſchen Standpunkt — ſtoffartige Wirkungen ſind gewiß nicht zu verachten; ſo hat Homer und haben die Tragiker im Volke der Griechen Unendliches gewirkt; Göthe ſtellt überall in ſeinen Urtheilen dieſe Wirkung ſehr hoch, ſo wie er aber vom reinen äſthetiſchen Geſichtspunkte ſpricht, ſo redet er anders. Doch nicht blos durch Nachwirken eines ſpezifiſch ſittlichen Gehalts wird das Schöne eine ſittliche Gewalt; auch alle diejenigen Stufen der Idee, deren Ge- halt nicht eigentlich als ethiſch zu bezeichnen iſt (vgl. §. 22), bereiten jeder ſittlichen Erhebung den Boden und zwar aus dem Grunde, den wir mit Schillers Worten aufgeführt §. 75 Anm. 2, und dieſer Grund fällt mit dem objectiven in §. 22 zuſammen, denn wie von jeder Exiſtenz eine Linie zu den höchſten, den ſittlichen Sphären des Daſeyns führt, ſo führt jede Löſung des Zwieſpalts im menſchlichen Weſen zu der Ent- wicklung ſeiner bedeutendſten ſittlichen Kräfte. 2. Das Zweckmäßige kann ein Mittel zum Angenehmen ſeyn oder ein Mittel zum Guten; in ſeiner wahren Bedeutung iſt es beides, denn auch das Angenehme hat ſeine richtige Stelle im Begriffe des höchſten Guts. Die objectiven Hauptbedingungen, unter welchen das Zweckmäßige im Guten zuläſſig iſt, ſind §. 23 ausgeſprochen. Die eine beſtand darin, daß das Perſönliche, ganz in das Zweckmäßige vertieft, wie eine zweite Naturnothwendigkeit behandelt wird; ſo kann z. B. der Ackerbau poe- tiſch dargeſtellt werden. Die andere lag in der innigen Verbindung mit den abſoluten Zwecken. So iſt ein Dampfſchiff verglichen mit einem Segelſchiff, ein Dampfwagen verglichen mit einem von Pferden gezogenen

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 198. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/212>, abgerufen am 18.04.2024.