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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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die Lehre von der menschlichen Sinnlichkeit und sofort auf die Physik
zurückgehen müsse, daß aber hierin die Nothwendigkeit liege, zu der
höheren Einheit beider, der Dialektik aufzusteigen, so hätte ihn dieß
auf das Richtige führen können: im Schönen versöhnen sich die Gegen-
sätze von Natur und Geist, ebenso aber die Gegensütze im Geiste, und
das Letztere fordert eine Theilung der geistigen Thätigkeiten in solche,
die mit dem Gegensatze behaftet, und in solche, welche frei von ihm
sind; diese sämmtlich unter dem Namen Ethik zu befassen, ist nicht
räthlich und man wird auf geradem Wege zu der dreifachen Hegel'schen
Eintheilung der Lehre vom Geiste geführt.

Wirth (System der speculativen Ethik. 1841) theilt zwar die
Geisteslehre dreifach ein, setzt aber die Ethik als die Wissenschaft vom
absoluten, d. h. sein absolutes Wissen verwirklichenden Geiste als die
dritte, höchste Disciplin an den Schluß des Systems. Wirth hat
einen bekannten Mangel des Hegel'schen Systems richtig erkannt: der
praktische oder objective Geist hat hier blos endlichen Gehalt, er ist
als moralischer substanzlose Subjectivität, als politischer subjectivitätslose
Substanz. Der Geist soll also den absoluten Gehalt der Religion, der
Vernunft-Erkenntniß, der Kunst in sich aufnehmen und nun erst dieß
absolute Selbstbewußtseyn verwirklichen. Allein die neue Schwierigkeit,
welche hiedurch entsteht, hat Wirth nicht hervorgestellt und nicht wider-
legt. Obwohl nämlich mit absolutem Gehalte durchdrungen verwickelt
sich der Geist als handelnder Wille dennoch nothwendig auf's Neue mit
dem Objecte, die Dualität kehrt zurück, so wie der Standpunkt des
Zwecks zurückkehrt, und hiemit ist das System am Schlusse nicht ge-
schlossen, es öffnet sich noch einmal nach der Seite des getheilten Geistes,
es kehrt nicht in sich zurück. Wirth sagt (Vorr. S. VIII.): "Kunst
und Religion betrachtet der objective Idealismus als Sphären des absoluten
Geistes. Dieß zu thun und doch die Realisirung des Schönen und
der Religion als etwas Endliches und derselben Rechts-Idee Unter-
geordnetes zu betrachten, über welche der absolute Geist in der Kunst
und Religion wieder hinausgehen soll, ist der härteste Widerspruch."
Dieß ist aber eben der Widerspruch oder vielmehr die Kreisbewegung
des Geistes selbst, daß er, in's Absolute erhoben, auf's Neue von
vornen anfängt und wieder in die Gegensätze eingeht. Die Sache ver-
hält sich daher so: durchdrungen von dem Gehalte der absoluten Sphäre
nimmt der Geist allerdings auf's Neue die Form des Willens an, denn
die Formen, die er hinter sich hat, sind nicht verloren, sondern kehren

die Lehre von der menſchlichen Sinnlichkeit und ſofort auf die Phyſik
zurückgehen müſſe, daß aber hierin die Nothwendigkeit liege, zu der
höheren Einheit beider, der Dialektik aufzuſteigen, ſo hätte ihn dieß
auf das Richtige führen können: im Schönen verſöhnen ſich die Gegen-
ſätze von Natur und Geiſt, ebenſo aber die Gegenſütze im Geiſte, und
das Letztere fordert eine Theilung der geiſtigen Thätigkeiten in ſolche,
die mit dem Gegenſatze behaftet, und in ſolche, welche frei von ihm
ſind; dieſe ſämmtlich unter dem Namen Ethik zu befaſſen, iſt nicht
räthlich und man wird auf geradem Wege zu der dreifachen Hegel’ſchen
Eintheilung der Lehre vom Geiſte geführt.

Wirth (Syſtem der ſpeculativen Ethik. 1841) theilt zwar die
Geiſteslehre dreifach ein, ſetzt aber die Ethik als die Wiſſenſchaft vom
abſoluten, d. h. ſein abſolutes Wiſſen verwirklichenden Geiſte als die
dritte, höchſte Diſciplin an den Schluß des Syſtems. Wirth hat
einen bekannten Mangel des Hegel’ſchen Syſtems richtig erkannt: der
praktiſche oder objective Geiſt hat hier blos endlichen Gehalt, er iſt
als moraliſcher ſubſtanzloſe Subjectivität, als politiſcher ſubjectivitätsloſe
Subſtanz. Der Geiſt ſoll alſo den abſoluten Gehalt der Religion, der
Vernunft-Erkenntniß, der Kunſt in ſich aufnehmen und nun erſt dieß
abſolute Selbſtbewußtſeyn verwirklichen. Allein die neue Schwierigkeit,
welche hiedurch entſteht, hat Wirth nicht hervorgeſtellt und nicht wider-
legt. Obwohl nämlich mit abſolutem Gehalte durchdrungen verwickelt
ſich der Geiſt als handelnder Wille dennoch nothwendig auf’s Neue mit
dem Objecte, die Dualität kehrt zurück, ſo wie der Standpunkt des
Zwecks zurückkehrt, und hiemit iſt das Syſtem am Schluſſe nicht ge-
ſchloſſen, es öffnet ſich noch einmal nach der Seite des getheilten Geiſtes,
es kehrt nicht in ſich zurück. Wirth ſagt (Vorr. S. VIII.): „Kunſt
und Religion betrachtet der objective Idealiſmus als Sphären des abſoluten
Geiſtes. Dieß zu thun und doch die Realiſirung des Schönen und
der Religion als etwas Endliches und derſelben Rechts-Idee Unter-
geordnetes zu betrachten, über welche der abſolute Geiſt in der Kunſt
und Religion wieder hinausgehen ſoll, iſt der härteſte Widerſpruch.“
Dieß iſt aber eben der Widerſpruch oder vielmehr die Kreisbewegung
des Geiſtes ſelbſt, daß er, in’s Abſolute erhoben, auf’s Neue von
vornen anfängt und wieder in die Gegenſätze eingeht. Die Sache ver-
hält ſich daher ſo: durchdrungen von dem Gehalte der abſoluten Sphäre
nimmt der Geiſt allerdings auf’s Neue die Form des Willens an, denn
die Formen, die er hinter ſich hat, ſind nicht verloren, ſondern kehren

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[12/0026] die Lehre von der menſchlichen Sinnlichkeit und ſofort auf die Phyſik zurückgehen müſſe, daß aber hierin die Nothwendigkeit liege, zu der höheren Einheit beider, der Dialektik aufzuſteigen, ſo hätte ihn dieß auf das Richtige führen können: im Schönen verſöhnen ſich die Gegen- ſätze von Natur und Geiſt, ebenſo aber die Gegenſütze im Geiſte, und das Letztere fordert eine Theilung der geiſtigen Thätigkeiten in ſolche, die mit dem Gegenſatze behaftet, und in ſolche, welche frei von ihm ſind; dieſe ſämmtlich unter dem Namen Ethik zu befaſſen, iſt nicht räthlich und man wird auf geradem Wege zu der dreifachen Hegel’ſchen Eintheilung der Lehre vom Geiſte geführt. Wirth (Syſtem der ſpeculativen Ethik. 1841) theilt zwar die Geiſteslehre dreifach ein, ſetzt aber die Ethik als die Wiſſenſchaft vom abſoluten, d. h. ſein abſolutes Wiſſen verwirklichenden Geiſte als die dritte, höchſte Diſciplin an den Schluß des Syſtems. Wirth hat einen bekannten Mangel des Hegel’ſchen Syſtems richtig erkannt: der praktiſche oder objective Geiſt hat hier blos endlichen Gehalt, er iſt als moraliſcher ſubſtanzloſe Subjectivität, als politiſcher ſubjectivitätsloſe Subſtanz. Der Geiſt ſoll alſo den abſoluten Gehalt der Religion, der Vernunft-Erkenntniß, der Kunſt in ſich aufnehmen und nun erſt dieß abſolute Selbſtbewußtſeyn verwirklichen. Allein die neue Schwierigkeit, welche hiedurch entſteht, hat Wirth nicht hervorgeſtellt und nicht wider- legt. Obwohl nämlich mit abſolutem Gehalte durchdrungen verwickelt ſich der Geiſt als handelnder Wille dennoch nothwendig auf’s Neue mit dem Objecte, die Dualität kehrt zurück, ſo wie der Standpunkt des Zwecks zurückkehrt, und hiemit iſt das Syſtem am Schluſſe nicht ge- ſchloſſen, es öffnet ſich noch einmal nach der Seite des getheilten Geiſtes, es kehrt nicht in ſich zurück. Wirth ſagt (Vorr. S. VIII.): „Kunſt und Religion betrachtet der objective Idealiſmus als Sphären des abſoluten Geiſtes. Dieß zu thun und doch die Realiſirung des Schönen und der Religion als etwas Endliches und derſelben Rechts-Idee Unter- geordnetes zu betrachten, über welche der abſolute Geiſt in der Kunſt und Religion wieder hinausgehen ſoll, iſt der härteſte Widerſpruch.“ Dieß iſt aber eben der Widerſpruch oder vielmehr die Kreisbewegung des Geiſtes ſelbſt, daß er, in’s Abſolute erhoben, auf’s Neue von vornen anfängt und wieder in die Gegenſätze eingeht. Die Sache ver- hält ſich daher ſo: durchdrungen von dem Gehalte der abſoluten Sphäre nimmt der Geiſt allerdings auf’s Neue die Form des Willens an, denn die Formen, die er hinter ſich hat, ſind nicht verloren, ſondern kehren

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 12. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/26>, abgerufen am 28.03.2024.