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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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1. Die Walstätte nach einer Völkerschlacht, die Leichenhaufen bei
einer Pest u. s. w. zeigen immer noch die Kraft, welche zerstört hat, als
eine Fähigkeit unendlicher neuer Zerstörung. Man erinnert sich jetzt nicht,
daß das Leben sich erneuert: alles Leben erliegt ja dem Tode. Schon
hierin liegt der Abschluß der ganzen Kategorie. Wenn alles Leben unter-
geht, so geht es unter, weil es blos Kraft ist. Die Kraft, obwohl ein
progressus in infinitum, ist also endlich. Damit ist gegensätzlich bereits
ein wahrhaft, in sich bleibendes Unendliches gefordert. Die Stille
und Ruhe kann aber als Drohung einer unendlichen zerstörenden Kraft
erscheinen auch ohne wirklich vorhergegangenen Ausbruch. Es kommt
auf die begleitenden Umstände an. Die Stille vor einem Gewitter ist
furchtbar, aber die Verheerungen, die uns von dieser Naturkraft bekannt
sind, sind nicht groß genug, um die ganze Kraft negativer Erhabenheit
darin zu fühlen. Dagegen die stille Bangigkeit einer Bevölkerung vor Heran-
nahen einer Pest, die Stille schlagfertiger Völker vor einer großen Schlacht,
die unendlich fürchterlichen Pausen der Erholung in der Nibelungen
Noth, wo ja um der Menge und Gewalt der entfesselten Kräfte willen
der Schluß als ein Weltgericht erscheint: hierin liegt das Gefühl einer
Kraft, die nicht nur dies oder jenes, sondern Alles zerstört. Die ver-
doppelnde Ahnung tritt hinzu.

2. Was alle Kräfte zerstören kann, ist keine Kraft mehr. Ueber die
höchste Kraft läßt sich noch eine höhere vorstellen, von welcher jene zerstört
würde. Was über den Kräften steht, muß ein Anderes seyn, ein in sich
Unendliches: ideelle Einheit. Hier geht der Geist auf. Die mosaische
Religion steht auf diesem Punkte: der Uebergang der Natur-Religion,
d. h. der Religion der Furcht in die des Geistes und der Freiheit. Die
romantische Anschauung läßt hier das Geisterhafte eintreten. Ein Geist
ist ein Wesen, das ohne Körper, also ohne Quantität unendliche zerstörende
Kraft hat. Es liegt aber der Widerspruch in dieser Vorstellung, daß diese
Kraft noch sinnlich gedacht wird: ein Körper ohne Körper, ein übersinnlich
Sinnliches. Dieser Widerspruch ist schauderhaft, hier ist kein Widerstand
denkbar. "Komm du mir nah als zott'ger, russischer Bär, geschuppt
Rhinoceros" u. s. w. (Macbeth zu Banquo's Geist). Der wahre Dichter
legt freilich eine geistig-sittliche Tiefe in die Vorstellung. Nur als be-
leuchtende Anführung gehört übrigens diese Form hieher, ihre eigentliche
Stelle hat sie in dem Abschn. von dem romantischen Ideal; erinnert aber
wurden wir daran in einem ähnlichen Zusammenhang schon in §. 92,
Anm. 2. Hier ist der Uebergang zum wirklichen Geiste zu nehmen. Rein

1. Die Walſtätte nach einer Völkerſchlacht, die Leichenhaufen bei
einer Peſt u. ſ. w. zeigen immer noch die Kraft, welche zerſtört hat, als
eine Fähigkeit unendlicher neuer Zerſtörung. Man erinnert ſich jetzt nicht,
daß das Leben ſich erneuert: alles Leben erliegt ja dem Tode. Schon
hierin liegt der Abſchluß der ganzen Kategorie. Wenn alles Leben unter-
geht, ſo geht es unter, weil es blos Kraft iſt. Die Kraft, obwohl ein
progressus in infinitum, iſt alſo endlich. Damit iſt gegenſätzlich bereits
ein wahrhaft, in ſich bleibendes Unendliches gefordert. Die Stille
und Ruhe kann aber als Drohung einer unendlichen zerſtörenden Kraft
erſcheinen auch ohne wirklich vorhergegangenen Ausbruch. Es kommt
auf die begleitenden Umſtände an. Die Stille vor einem Gewitter iſt
furchtbar, aber die Verheerungen, die uns von dieſer Naturkraft bekannt
ſind, ſind nicht groß genug, um die ganze Kraft negativer Erhabenheit
darin zu fühlen. Dagegen die ſtille Bangigkeit einer Bevölkerung vor Heran-
nahen einer Peſt, die Stille ſchlagfertiger Völker vor einer großen Schlacht,
die unendlich fürchterlichen Pauſen der Erholung in der Nibelungen
Noth, wo ja um der Menge und Gewalt der entfeſſelten Kräfte willen
der Schluß als ein Weltgericht erſcheint: hierin liegt das Gefühl einer
Kraft, die nicht nur dies oder jenes, ſondern Alles zerſtört. Die ver-
doppelnde Ahnung tritt hinzu.

2. Was alle Kräfte zerſtören kann, iſt keine Kraft mehr. Ueber die
höchſte Kraft läßt ſich noch eine höhere vorſtellen, von welcher jene zerſtört
würde. Was über den Kräften ſteht, muß ein Anderes ſeyn, ein in ſich
Unendliches: ideelle Einheit. Hier geht der Geiſt auf. Die moſaiſche
Religion ſteht auf dieſem Punkte: der Uebergang der Natur-Religion,
d. h. der Religion der Furcht in die des Geiſtes und der Freiheit. Die
romantiſche Anſchauung läßt hier das Geiſterhafte eintreten. Ein Geiſt
iſt ein Weſen, das ohne Körper, alſo ohne Quantität unendliche zerſtörende
Kraft hat. Es liegt aber der Widerſpruch in dieſer Vorſtellung, daß dieſe
Kraft noch ſinnlich gedacht wird: ein Körper ohne Körper, ein überſinnlich
Sinnliches. Dieſer Widerſpruch iſt ſchauderhaft, hier iſt kein Widerſtand
denkbar. „Komm du mir nah als zott’ger, ruſſiſcher Bär, geſchuppt
Rhinoceros“ u. ſ. w. (Macbeth zu Banquo’s Geiſt). Der wahre Dichter
legt freilich eine geiſtig-ſittliche Tiefe in die Vorſtellung. Nur als be-
leuchtende Anführung gehört übrigens dieſe Form hieher, ihre eigentliche
Stelle hat ſie in dem Abſchn. von dem romantiſchen Ideal; erinnert aber
wurden wir daran in einem ähnlichen Zuſammenhang ſchon in §. 92,
Anm. 2. Hier iſt der Uebergang zum wirklichen Geiſte zu nehmen. Rein

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[252/0266] 1. Die Walſtätte nach einer Völkerſchlacht, die Leichenhaufen bei einer Peſt u. ſ. w. zeigen immer noch die Kraft, welche zerſtört hat, als eine Fähigkeit unendlicher neuer Zerſtörung. Man erinnert ſich jetzt nicht, daß das Leben ſich erneuert: alles Leben erliegt ja dem Tode. Schon hierin liegt der Abſchluß der ganzen Kategorie. Wenn alles Leben unter- geht, ſo geht es unter, weil es blos Kraft iſt. Die Kraft, obwohl ein progressus in infinitum, iſt alſo endlich. Damit iſt gegenſätzlich bereits ein wahrhaft, in ſich bleibendes Unendliches gefordert. Die Stille und Ruhe kann aber als Drohung einer unendlichen zerſtörenden Kraft erſcheinen auch ohne wirklich vorhergegangenen Ausbruch. Es kommt auf die begleitenden Umſtände an. Die Stille vor einem Gewitter iſt furchtbar, aber die Verheerungen, die uns von dieſer Naturkraft bekannt ſind, ſind nicht groß genug, um die ganze Kraft negativer Erhabenheit darin zu fühlen. Dagegen die ſtille Bangigkeit einer Bevölkerung vor Heran- nahen einer Peſt, die Stille ſchlagfertiger Völker vor einer großen Schlacht, die unendlich fürchterlichen Pauſen der Erholung in der Nibelungen Noth, wo ja um der Menge und Gewalt der entfeſſelten Kräfte willen der Schluß als ein Weltgericht erſcheint: hierin liegt das Gefühl einer Kraft, die nicht nur dies oder jenes, ſondern Alles zerſtört. Die ver- doppelnde Ahnung tritt hinzu. 2. Was alle Kräfte zerſtören kann, iſt keine Kraft mehr. Ueber die höchſte Kraft läßt ſich noch eine höhere vorſtellen, von welcher jene zerſtört würde. Was über den Kräften ſteht, muß ein Anderes ſeyn, ein in ſich Unendliches: ideelle Einheit. Hier geht der Geiſt auf. Die moſaiſche Religion ſteht auf dieſem Punkte: der Uebergang der Natur-Religion, d. h. der Religion der Furcht in die des Geiſtes und der Freiheit. Die romantiſche Anſchauung läßt hier das Geiſterhafte eintreten. Ein Geiſt iſt ein Weſen, das ohne Körper, alſo ohne Quantität unendliche zerſtörende Kraft hat. Es liegt aber der Widerſpruch in dieſer Vorſtellung, daß dieſe Kraft noch ſinnlich gedacht wird: ein Körper ohne Körper, ein überſinnlich Sinnliches. Dieſer Widerſpruch iſt ſchauderhaft, hier iſt kein Widerſtand denkbar. „Komm du mir nah als zott’ger, ruſſiſcher Bär, geſchuppt Rhinoceros“ u. ſ. w. (Macbeth zu Banquo’s Geiſt). Der wahre Dichter legt freilich eine geiſtig-ſittliche Tiefe in die Vorſtellung. Nur als be- leuchtende Anführung gehört übrigens dieſe Form hieher, ihre eigentliche Stelle hat ſie in dem Abſchn. von dem romantiſchen Ideal; erinnert aber wurden wir daran in einem ähnlichen Zuſammenhang ſchon in §. 92, Anm. 2. Hier iſt der Uebergang zum wirklichen Geiſte zu nehmen. Rein

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 252. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/266>, abgerufen am 29.03.2024.