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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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wogegen die Freiheit des Einzelnen als solche verschwindet: eine sittliche
Nothwendigkeit
.

Der Widerspruch, der in diesem §. zunächst vorliegt, mußte zuerst
in seiner Härte ausgesprochen werden, sonst würde der ganzen weiteren
Entwicklung ein wesentliches Stück fehlen. Denn man vergegenwärtige
sich zum voraus, wie im Tragischen das herrschende Sittengesetz sich mit
einem Naturgesetz geheimnißvoll durchdringt: das Vergehen ist Schuld
und doch sagen wir, daß der Schuldige mit diesen Nerven, diesem
Temperament u. s. w. nicht anders handeln konnte. Wir haben also
hier eine doppelte, widersprechende Linie. Die absteigende Linie stellt
eine Herrschaft dar, die sich vom guten Willen, wie er nun in das ab-
solute Subject aufgenommen erscheint, auf alles Erhabene erstreckt.
Denn Schritt für Schritt haben sich die niedrigeren Formen in die höheren
aufgehoben, diese schicken sich jene als ihre Basis voraus. Die harmlose
Schönheit war hier unter den beherrschten Formen wieder zu nennen.
In der Lehre vom einfach Schönen nämlich war freilich vorneherein klar,
daß sein Gehalt die absolute Idee ist. Jetzt aber tritt das Schöne als
eine besondere Nebenform in das Erhabene ein und neben der Ueber-
macht der obersten Formen des letzteren erscheint es als hilflose, vom
stärkeren Willen bewältigte Gestalt. Allein die Lösung ist so leicht nicht,
wie sie demnach scheint, denn die Freiheit des Subjects kann über ihren
Naturgrund nicht schlechtweg hinaus und so besteht neben der absteigen-
den Linie eine aufsteigende, eine Nachwirkung von unten nach oben fort:
das dunkle Naturgesetz. Es liegen zwei Nothwendigkeiten vor, wir
sollen finden, wie sie sich vereinigen und so erst das tragische Gesetz auf-
suchen. Was die zweite, die sittliche Form der Nothwendigkeit betrifft,
so kann sich die Aesthetik auf die Ethik berufen, welche den Uebergang
der Freiheit in die sittliche Nothwendigkeit zu begründen hat. Diese Be-
gründung mag in Hegels Rechtsphilosophie immer den Mangel haben,
daß die subjective Freiheit gegen die sittliche Substanz zu kurz kommt:
wir brauchen uns darauf schon darum nicht einzulassen, weil in dem
Zusammenhang der Aesthetik nicht nur die feste Staats-Ordnung gemeint
wird, wenn von der sittlichen Nothwendigkeit die Rede ist, sondern auch
die Gesellschaft, das Leben der Sitte, der gährende Staat, wo die
Subjectivität als berechtigtes Moment nicht fehlen kann. Zudem kann
das Folgende selbst als ein Beitrag der Aesthetik zur ethischen Wahrheit
dieser Berechtigung der subjectiven Freiheit gelten.


wogegen die Freiheit des Einzelnen als ſolche verſchwindet: eine ſittliche
Nothwendigkeit
.

Der Widerſpruch, der in dieſem §. zunächſt vorliegt, mußte zuerſt
in ſeiner Härte ausgeſprochen werden, ſonſt würde der ganzen weiteren
Entwicklung ein weſentliches Stück fehlen. Denn man vergegenwärtige
ſich zum voraus, wie im Tragiſchen das herrſchende Sittengeſetz ſich mit
einem Naturgeſetz geheimnißvoll durchdringt: das Vergehen iſt Schuld
und doch ſagen wir, daß der Schuldige mit dieſen Nerven, dieſem
Temperament u. ſ. w. nicht anders handeln konnte. Wir haben alſo
hier eine doppelte, widerſprechende Linie. Die abſteigende Linie ſtellt
eine Herrſchaft dar, die ſich vom guten Willen, wie er nun in das ab-
ſolute Subject aufgenommen erſcheint, auf alles Erhabene erſtreckt.
Denn Schritt für Schritt haben ſich die niedrigeren Formen in die höheren
aufgehoben, dieſe ſchicken ſich jene als ihre Baſis voraus. Die harmloſe
Schönheit war hier unter den beherrſchten Formen wieder zu nennen.
In der Lehre vom einfach Schönen nämlich war freilich vorneherein klar,
daß ſein Gehalt die abſolute Idee iſt. Jetzt aber tritt das Schöne als
eine beſondere Nebenform in das Erhabene ein und neben der Ueber-
macht der oberſten Formen des letzteren erſcheint es als hilfloſe, vom
ſtärkeren Willen bewältigte Geſtalt. Allein die Löſung iſt ſo leicht nicht,
wie ſie demnach ſcheint, denn die Freiheit des Subjects kann über ihren
Naturgrund nicht ſchlechtweg hinaus und ſo beſteht neben der abſteigen-
den Linie eine aufſteigende, eine Nachwirkung von unten nach oben fort:
das dunkle Naturgeſetz. Es liegen zwei Nothwendigkeiten vor, wir
ſollen finden, wie ſie ſich vereinigen und ſo erſt das tragiſche Geſetz auf-
ſuchen. Was die zweite, die ſittliche Form der Nothwendigkeit betrifft,
ſo kann ſich die Aeſthetik auf die Ethik berufen, welche den Uebergang
der Freiheit in die ſittliche Nothwendigkeit zu begründen hat. Dieſe Be-
gründung mag in Hegels Rechtsphiloſophie immer den Mangel haben,
daß die ſubjective Freiheit gegen die ſittliche Subſtanz zu kurz kommt:
wir brauchen uns darauf ſchon darum nicht einzulaſſen, weil in dem
Zuſammenhang der Aeſthetik nicht nur die feſte Staats-Ordnung gemeint
wird, wenn von der ſittlichen Nothwendigkeit die Rede iſt, ſondern auch
die Geſellſchaft, das Leben der Sitte, der gährende Staat, wo die
Subjectivität als berechtigtes Moment nicht fehlen kann. Zudem kann
das Folgende ſelbſt als ein Beitrag der Aeſthetik zur ethiſchen Wahrheit
dieſer Berechtigung der ſubjectiven Freiheit gelten.


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[280/0294] wogegen die Freiheit des Einzelnen als ſolche verſchwindet: eine ſittliche Nothwendigkeit. Der Widerſpruch, der in dieſem §. zunächſt vorliegt, mußte zuerſt in ſeiner Härte ausgeſprochen werden, ſonſt würde der ganzen weiteren Entwicklung ein weſentliches Stück fehlen. Denn man vergegenwärtige ſich zum voraus, wie im Tragiſchen das herrſchende Sittengeſetz ſich mit einem Naturgeſetz geheimnißvoll durchdringt: das Vergehen iſt Schuld und doch ſagen wir, daß der Schuldige mit dieſen Nerven, dieſem Temperament u. ſ. w. nicht anders handeln konnte. Wir haben alſo hier eine doppelte, widerſprechende Linie. Die abſteigende Linie ſtellt eine Herrſchaft dar, die ſich vom guten Willen, wie er nun in das ab- ſolute Subject aufgenommen erſcheint, auf alles Erhabene erſtreckt. Denn Schritt für Schritt haben ſich die niedrigeren Formen in die höheren aufgehoben, dieſe ſchicken ſich jene als ihre Baſis voraus. Die harmloſe Schönheit war hier unter den beherrſchten Formen wieder zu nennen. In der Lehre vom einfach Schönen nämlich war freilich vorneherein klar, daß ſein Gehalt die abſolute Idee iſt. Jetzt aber tritt das Schöne als eine beſondere Nebenform in das Erhabene ein und neben der Ueber- macht der oberſten Formen des letzteren erſcheint es als hilfloſe, vom ſtärkeren Willen bewältigte Geſtalt. Allein die Löſung iſt ſo leicht nicht, wie ſie demnach ſcheint, denn die Freiheit des Subjects kann über ihren Naturgrund nicht ſchlechtweg hinaus und ſo beſteht neben der abſteigen- den Linie eine aufſteigende, eine Nachwirkung von unten nach oben fort: das dunkle Naturgeſetz. Es liegen zwei Nothwendigkeiten vor, wir ſollen finden, wie ſie ſich vereinigen und ſo erſt das tragiſche Geſetz auf- ſuchen. Was die zweite, die ſittliche Form der Nothwendigkeit betrifft, ſo kann ſich die Aeſthetik auf die Ethik berufen, welche den Uebergang der Freiheit in die ſittliche Nothwendigkeit zu begründen hat. Dieſe Be- gründung mag in Hegels Rechtsphiloſophie immer den Mangel haben, daß die ſubjective Freiheit gegen die ſittliche Subſtanz zu kurz kommt: wir brauchen uns darauf ſchon darum nicht einzulaſſen, weil in dem Zuſammenhang der Aeſthetik nicht nur die feſte Staats-Ordnung gemeint wird, wenn von der ſittlichen Nothwendigkeit die Rede iſt, ſondern auch die Geſellſchaft, das Leben der Sitte, der gährende Staat, wo die Subjectivität als berechtigtes Moment nicht fehlen kann. Zudem kann das Folgende ſelbſt als ein Beitrag der Aeſthetik zur ethiſchen Wahrheit dieſer Berechtigung der ſubjectiven Freiheit gelten.

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 280. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/294>, abgerufen am 19.04.2024.