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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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dunkle Lebensgrund in einen sittlichen Zusammenhang aufgenommen wäre, wo-
durch er zur Pflicht wird, welche mit andern Pflichten im Einklang seyn soll.
Die verletzende Trennung nun ist wirkliche Schuld. Die Schuld ist ein
Werk der Freiheit, aber der Freiheit, welche nicht anders handeln kann, weil
sie nur die Freiheit des einzelnen Subjectes ist. Sie ist daher nichts anders als
2Verwirklichung der Urschuld und in diesem Sinne ebensosehr Unschuld. Nur um so
mehr aber leuchtet ein, daß das Subject, indem es in seinem Handeln seine Größe
entwickelt, ebendadurch seine gegen das Ganze verschwindende unendliche Kleinheit
entfaltet, und diese widersprechende Bewegung kann eine ironische genannt werden.

1. Die eigentliche Schuld liegt also in dem Wesen der Verein-
zelung, oder darin, daß von den Elementen, welche der große Complex
der Nothwendigkeit in sich zusammengreift, das eine oder das andere
herausgesetzt, isolirt wird. Diese Elemente sind zunächst die Noth-
wendigkeit des bindenden Lebensgrundes und die sittliche. Die erstere
wird verletzt, wenn ich in Verfolgung eines sittlichen Zweckes z. B. die
Thierwelt mißhandle, die Familie nicht ehre, die zweite im um-
gekehrten Falle. Die Elemente des sittlichen Ganzen sind ferner die
einzelnen Sphären in der zweiten, der sittlichen Form der Nothwendig-
keit. Die Vereinzelung liegt hier theils darin, daß das Subject nur
Ein Lebenspathos in sich aufnehmen kann, daß es also handelnd andere,
in der Harmonie des Ganzen ebenfalls berechtigte verletzt, theils darin,
daß es auch abgesehen von dieser Einseitigkeit des Pathos den Umfang,
den dieses innerhalb seiner selbst hat, nicht auf einmal, durch Eine
Handlung, ja nicht einmal durch die Reihe von Handlungen, die ein
Menschenleben umspannen kann, zu verwirklichen vermag, indem selbst
die edelste einzelne Handlung durch die Beimischung dessen, was im Sub-
jecte vom sittlichen Willen immer undurchdrungen zurückbleibt, ihre reine
Absicht trübt. Allein beide Arten von Verletzung, die der einen Haupt-
form der Nothwendigkeit durch einseitige Verfolgung der andern, sowie
die der einen Sphäre der sittlichen Nothwendigkeit durch die vereinzelnde
Vollführung der andern, kommen ganz auf dasselbe hinaus. Auf der
einen Seite nämlich ist nichts im Naturgrund, was nicht sittliche Be-
deutung hätte, denn die ganze Welt der sittlichen Nothwendigkeit ruht
auf Naturgesetzen, welche in ihrer Umbildung zugleich als heilig aner-
kannt sind. Um kein allzubequemes Beispiel zu wählen, um also z. B.
nicht an die Pflicht der Pietät und den mütterlichen Busen zu erinnern,
den Klytemnestra dem Orestes entgegenhält, erinnern wir nur an die

dunkle Lebensgrund in einen ſittlichen Zuſammenhang aufgenommen wäre, wo-
durch er zur Pflicht wird, welche mit andern Pflichten im Einklang ſeyn ſoll.
Die verletzende Trennung nun iſt wirkliche Schuld. Die Schuld iſt ein
Werk der Freiheit, aber der Freiheit, welche nicht anders handeln kann, weil
ſie nur die Freiheit des einzelnen Subjectes iſt. Sie iſt daher nichts anders als
2Verwirklichung der Urſchuld und in dieſem Sinne ebenſoſehr Unſchuld. Nur um ſo
mehr aber leuchtet ein, daß das Subject, indem es in ſeinem Handeln ſeine Größe
entwickelt, ebendadurch ſeine gegen das Ganze verſchwindende unendliche Kleinheit
entfaltet, und dieſe widerſprechende Bewegung kann eine ironiſche genannt werden.

1. Die eigentliche Schuld liegt alſo in dem Weſen der Verein-
zelung, oder darin, daß von den Elementen, welche der große Complex
der Nothwendigkeit in ſich zuſammengreift, das eine oder das andere
herausgeſetzt, iſolirt wird. Dieſe Elemente ſind zunächſt die Noth-
wendigkeit des bindenden Lebensgrundes und die ſittliche. Die erſtere
wird verletzt, wenn ich in Verfolgung eines ſittlichen Zweckes z. B. die
Thierwelt mißhandle, die Familie nicht ehre, die zweite im um-
gekehrten Falle. Die Elemente des ſittlichen Ganzen ſind ferner die
einzelnen Sphären in der zweiten, der ſittlichen Form der Nothwendig-
keit. Die Vereinzelung liegt hier theils darin, daß das Subject nur
Ein Lebenspathos in ſich aufnehmen kann, daß es alſo handelnd andere,
in der Harmonie des Ganzen ebenfalls berechtigte verletzt, theils darin,
daß es auch abgeſehen von dieſer Einſeitigkeit des Pathos den Umfang,
den dieſes innerhalb ſeiner ſelbſt hat, nicht auf einmal, durch Eine
Handlung, ja nicht einmal durch die Reihe von Handlungen, die ein
Menſchenleben umſpannen kann, zu verwirklichen vermag, indem ſelbſt
die edelſte einzelne Handlung durch die Beimiſchung deſſen, was im Sub-
jecte vom ſittlichen Willen immer undurchdrungen zurückbleibt, ihre reine
Abſicht trübt. Allein beide Arten von Verletzung, die der einen Haupt-
form der Nothwendigkeit durch einſeitige Verfolgung der andern, ſowie
die der einen Sphäre der ſittlichen Nothwendigkeit durch die vereinzelnde
Vollführung der andern, kommen ganz auf daſſelbe hinaus. Auf der
einen Seite nämlich iſt nichts im Naturgrund, was nicht ſittliche Be-
deutung hätte, denn die ganze Welt der ſittlichen Nothwendigkeit ruht
auf Naturgeſetzen, welche in ihrer Umbildung zugleich als heilig aner-
kannt ſind. Um kein allzubequemes Beiſpiel zu wählen, um alſo z. B.
nicht an die Pflicht der Pietät und den mütterlichen Buſen zu erinnern,
den Klytemneſtra dem Oreſtes entgegenhält, erinnern wir nur an die

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[286/0300] dunkle Lebensgrund in einen ſittlichen Zuſammenhang aufgenommen wäre, wo- durch er zur Pflicht wird, welche mit andern Pflichten im Einklang ſeyn ſoll. Die verletzende Trennung nun iſt wirkliche Schuld. Die Schuld iſt ein Werk der Freiheit, aber der Freiheit, welche nicht anders handeln kann, weil ſie nur die Freiheit des einzelnen Subjectes iſt. Sie iſt daher nichts anders als Verwirklichung der Urſchuld und in dieſem Sinne ebenſoſehr Unſchuld. Nur um ſo mehr aber leuchtet ein, daß das Subject, indem es in ſeinem Handeln ſeine Größe entwickelt, ebendadurch ſeine gegen das Ganze verſchwindende unendliche Kleinheit entfaltet, und dieſe widerſprechende Bewegung kann eine ironiſche genannt werden. 1. Die eigentliche Schuld liegt alſo in dem Weſen der Verein- zelung, oder darin, daß von den Elementen, welche der große Complex der Nothwendigkeit in ſich zuſammengreift, das eine oder das andere herausgeſetzt, iſolirt wird. Dieſe Elemente ſind zunächſt die Noth- wendigkeit des bindenden Lebensgrundes und die ſittliche. Die erſtere wird verletzt, wenn ich in Verfolgung eines ſittlichen Zweckes z. B. die Thierwelt mißhandle, die Familie nicht ehre, die zweite im um- gekehrten Falle. Die Elemente des ſittlichen Ganzen ſind ferner die einzelnen Sphären in der zweiten, der ſittlichen Form der Nothwendig- keit. Die Vereinzelung liegt hier theils darin, daß das Subject nur Ein Lebenspathos in ſich aufnehmen kann, daß es alſo handelnd andere, in der Harmonie des Ganzen ebenfalls berechtigte verletzt, theils darin, daß es auch abgeſehen von dieſer Einſeitigkeit des Pathos den Umfang, den dieſes innerhalb ſeiner ſelbſt hat, nicht auf einmal, durch Eine Handlung, ja nicht einmal durch die Reihe von Handlungen, die ein Menſchenleben umſpannen kann, zu verwirklichen vermag, indem ſelbſt die edelſte einzelne Handlung durch die Beimiſchung deſſen, was im Sub- jecte vom ſittlichen Willen immer undurchdrungen zurückbleibt, ihre reine Abſicht trübt. Allein beide Arten von Verletzung, die der einen Haupt- form der Nothwendigkeit durch einſeitige Verfolgung der andern, ſowie die der einen Sphäre der ſittlichen Nothwendigkeit durch die vereinzelnde Vollführung der andern, kommen ganz auf daſſelbe hinaus. Auf der einen Seite nämlich iſt nichts im Naturgrund, was nicht ſittliche Be- deutung hätte, denn die ganze Welt der ſittlichen Nothwendigkeit ruht auf Naturgeſetzen, welche in ihrer Umbildung zugleich als heilig aner- kannt ſind. Um kein allzubequemes Beiſpiel zu wählen, um alſo z. B. nicht an die Pflicht der Pietät und den mütterlichen Buſen zu erinnern, den Klytemneſtra dem Oreſtes entgegenhält, erinnern wir nur an die

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 286. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/300>, abgerufen am 19.04.2024.