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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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freiungskriege. In den letzteren besonders wurden die großen Opfer als
Buße für eine langgehäufte Schuld der Willenlosigkeit der Nation ge-
fühlt, in beiden wurde der Sieg als ein Schicksalsgesetz erkannt: dort
wußten sich die Griechen als Vormauer gegen den Einbruch orientali-
scher Barbarei, hier die Deutschen als berufen, deutsches Wesen und
Charakter in der Geschichte aufrecht zu halten.

§. 126.

1

Das Leiden kann aber auch bis zu dem Untergange des Subjects und
seines Werks sich fortsetzen, und nun ist der Hintergrund (§. 122) ganz zum
Vordergrunde geworden. Allein das Werk ist hiemit nicht schlechtweg aufge-
hoben, die objective Folgenreihe überdauert das Subject und muß sich dem
wahren Begriffe des Ganzen als einer sittlichen Einheit gemäß in diesem Fort-
gange von der durch das Subject ihm gegebenen Vereinzelung reinigen. Eignet
2sich nunmehr auch das Subject im Untergange das Bewußtseyn dieser reinigenden
Fortdauer und der Gerechtigkeit seines Leidens an, so ist ebenhiemit volle Ver-
söhnung eingetreten und das Subject selbst ist in diese Verewigung als sich
überlebende verklärte Gestalt aufgenommen: sonst würde sich das Ganze, das
3doch nur durch Subjecte wirkt, selbst aufheben. Dieser Schluß ist nicht mehr,
wie Solger meint, Ironie zu nennen, denn das absolute Subject wirkt in
der Negation durchaus positiv.

1. Die Idee wirkt über das Subject und die Form, die es ihr
gegeben, hinaus und in diesem Fortwirken reinigt sie sich von der Ver-
einzelung dieser Form. Eine berechtigte Revolution kann mit ihren
Helden scheitern, aber sie überlebt ihren Untergang, sie wirkt unsichtbar
fort und bricht wieder hervor. So ist die französische Revolution in
Entstellung untergegangen, aber sie ist nicht zu Ende. In einem ästhe-
tischen Ganzen muß eben dies Ueberleben des empirischen Endes zur
Anschauung kommen, der künftige reinere Sieg zur deutlichen Aussicht
werden. Gerade die Fixirung durch den ersten Sieg ist häufig das
größte Uebel, das einem idealen Unternehmen zustossen kann. Die Deutsch-
Katholiken werden zu einer beschränkten Sekte herabsinken, sobald sie sich
vom Staate verführen lassen, sich zu einer schiefen Einheit des dogma-
tischen Bekenntnisses zusammenzufassen und als Kirche zu constituiren.
Sie sollen als flüssiges Ferment fortgähren und endlich beweisen, daß
eine Kirche ein reiner Widerspruch ist.


freiungskriege. In den letzteren beſonders wurden die großen Opfer als
Buße für eine langgehäufte Schuld der Willenloſigkeit der Nation ge-
fühlt, in beiden wurde der Sieg als ein Schickſalsgeſetz erkannt: dort
wußten ſich die Griechen als Vormauer gegen den Einbruch orientali-
ſcher Barbarei, hier die Deutſchen als berufen, deutſches Weſen und
Charakter in der Geſchichte aufrecht zu halten.

§. 126.

1

Das Leiden kann aber auch bis zu dem Untergange des Subjects und
ſeines Werks ſich fortſetzen, und nun iſt der Hintergrund (§. 122) ganz zum
Vordergrunde geworden. Allein das Werk iſt hiemit nicht ſchlechtweg aufge-
hoben, die objective Folgenreihe überdauert das Subject und muß ſich dem
wahren Begriffe des Ganzen als einer ſittlichen Einheit gemäß in dieſem Fort-
gange von der durch das Subject ihm gegebenen Vereinzelung reinigen. Eignet
2ſich nunmehr auch das Subject im Untergange das Bewußtſeyn dieſer reinigenden
Fortdauer und der Gerechtigkeit ſeines Leidens an, ſo iſt ebenhiemit volle Ver-
ſöhnung eingetreten und das Subject ſelbſt iſt in dieſe Verewigung als ſich
überlebende verklärte Geſtalt aufgenommen: ſonſt würde ſich das Ganze, das
3doch nur durch Subjecte wirkt, ſelbſt aufheben. Dieſer Schluß iſt nicht mehr,
wie Solger meint, Ironie zu nennen, denn das abſolute Subject wirkt in
der Negation durchaus poſitiv.

1. Die Idee wirkt über das Subject und die Form, die es ihr
gegeben, hinaus und in dieſem Fortwirken reinigt ſie ſich von der Ver-
einzelung dieſer Form. Eine berechtigte Revolution kann mit ihren
Helden ſcheitern, aber ſie überlebt ihren Untergang, ſie wirkt unſichtbar
fort und bricht wieder hervor. So iſt die franzöſiſche Revolution in
Entſtellung untergegangen, aber ſie iſt nicht zu Ende. In einem äſthe-
tiſchen Ganzen muß eben dies Ueberleben des empiriſchen Endes zur
Anſchauung kommen, der künftige reinere Sieg zur deutlichen Ausſicht
werden. Gerade die Fixirung durch den erſten Sieg iſt häufig das
größte Uebel, das einem idealen Unternehmen zuſtoſſen kann. Die Deutſch-
Katholiken werden zu einer beſchränkten Sekte herabſinken, ſobald ſie ſich
vom Staate verführen laſſen, ſich zu einer ſchiefen Einheit des dogma-
tiſchen Bekenntniſſes zuſammenzufaſſen und als Kirche zu conſtituiren.
Sie ſollen als flüſſiges Ferment fortgähren und endlich beweiſen, daß
eine Kirche ein reiner Widerſpruch iſt.


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[292/0306] freiungskriege. In den letzteren beſonders wurden die großen Opfer als Buße für eine langgehäufte Schuld der Willenloſigkeit der Nation ge- fühlt, in beiden wurde der Sieg als ein Schickſalsgeſetz erkannt: dort wußten ſich die Griechen als Vormauer gegen den Einbruch orientali- ſcher Barbarei, hier die Deutſchen als berufen, deutſches Weſen und Charakter in der Geſchichte aufrecht zu halten. §. 126. Das Leiden kann aber auch bis zu dem Untergange des Subjects und ſeines Werks ſich fortſetzen, und nun iſt der Hintergrund (§. 122) ganz zum Vordergrunde geworden. Allein das Werk iſt hiemit nicht ſchlechtweg aufge- hoben, die objective Folgenreihe überdauert das Subject und muß ſich dem wahren Begriffe des Ganzen als einer ſittlichen Einheit gemäß in dieſem Fort- gange von der durch das Subject ihm gegebenen Vereinzelung reinigen. Eignet ſich nunmehr auch das Subject im Untergange das Bewußtſeyn dieſer reinigenden Fortdauer und der Gerechtigkeit ſeines Leidens an, ſo iſt ebenhiemit volle Ver- ſöhnung eingetreten und das Subject ſelbſt iſt in dieſe Verewigung als ſich überlebende verklärte Geſtalt aufgenommen: ſonſt würde ſich das Ganze, das doch nur durch Subjecte wirkt, ſelbſt aufheben. Dieſer Schluß iſt nicht mehr, wie Solger meint, Ironie zu nennen, denn das abſolute Subject wirkt in der Negation durchaus poſitiv. 1. Die Idee wirkt über das Subject und die Form, die es ihr gegeben, hinaus und in dieſem Fortwirken reinigt ſie ſich von der Ver- einzelung dieſer Form. Eine berechtigte Revolution kann mit ihren Helden ſcheitern, aber ſie überlebt ihren Untergang, ſie wirkt unſichtbar fort und bricht wieder hervor. So iſt die franzöſiſche Revolution in Entſtellung untergegangen, aber ſie iſt nicht zu Ende. In einem äſthe- tiſchen Ganzen muß eben dies Ueberleben des empiriſchen Endes zur Anſchauung kommen, der künftige reinere Sieg zur deutlichen Ausſicht werden. Gerade die Fixirung durch den erſten Sieg iſt häufig das größte Uebel, das einem idealen Unternehmen zuſtoſſen kann. Die Deutſch- Katholiken werden zu einer beſchränkten Sekte herabſinken, ſobald ſie ſich vom Staate verführen laſſen, ſich zu einer ſchiefen Einheit des dogma- tiſchen Bekenntniſſes zuſammenzufaſſen und als Kirche zu conſtituiren. Sie ſollen als flüſſiges Ferment fortgähren und endlich beweiſen, daß eine Kirche ein reiner Widerſpruch iſt.

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 292. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/306>, abgerufen am 19.04.2024.