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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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hältniß treffen und verletzt immer ein sittliches Recht, aber nicht ein
solches, welches im vorliegenden Falle mit dem andern, durch das Patbos
des Helden vertretenen, an sich eine wesentliche sittliche Einheit bildet, wo
denn die Schuld in der Trennung des Zusammengehörigen läge, sondern
es ist zufällig, welches Verhältniß verletzt wird. Ajax z. B. verletzt
durch sein Rasen die Helden-Ehre: er hätte in seiner Leidenschaftlichkeit
auch eine andere Schuld begehen können; Sigfried verletzt die Pflicht
der Verschwiegenheit, indem er Chriemhilden das Geheimniß von
Brunhildens Brautnacht mittheilt: er hätte in seiner Harmlosigkeit
auch ein Versehen anderer Art sich zu Schulden kommen lassen können.
Die Schuld steht also mit dem Streben des Helden nicht in dem orga-
nischen Verhältniß, wie sich dies in der dritten Form zeigen wird.
Subjectiv aber soll wo möglich ein innerer Zusammenhang seyn. Die
Schuld soll aus denselben Temperaments-Eigenschaften fließen, wie die
Tugend. Der Reformator eines Staats, einer Kirche z. B. mag in
seinem Eifer zu rasch verfahren u. dgl. Im Temperamente des Ajax
ist jene Raserei ganz begründet. Oedipus erscheint zwar vorzüglich
als weiser Heros, aber er hat doch auch die jähzornige Helden-Natur,
und so bedenkt er nicht, daß der Zufall ihm auflauert, daß er durch
den Orakelspruch gewitzigt seyn sollte, da er den Begegnenden, übrigens
nach griechischen Begriffen an sich mit Recht, erschlägt. Einem Sigfried,
gut und arglos, vertraulich wie er ist, liegt nichts näher, als jener
Fehler des Verplauderns. Conradin fällt durch seine Unvorsichtigkeit
nach dem Siege bei Scurcola: ein Fehler, der ganz seiner Jugend
entspricht, deren Unternehmungsgeist eben ihn zugleich zum tragischen
Helden erhebt. Othello rast um so fürchterlicher und ist um so leichter
zu täuschen, je gewaltiger seine arglose Natur vorher die Leidenschaft
in sich zusammenhielt. Hamlet, so weit er hieher gehört, muß unge-
schickt zum Handeln seyn gerade durch den Tiefsinn seiner denkenden Natur.
Egmont in der Darstellung des Dichters fällt durch denselben Leichtsinn,
der ihn zu dem beliebten Helden eines lustigen Volkes macht.

2. Aristoteles weist bekanntlich (Poet. 13) die überaus Schlechten
und ihren Sturz von der Tragödie völlig aus; denn dieser Sturz würde,
wie er meint, weder Mitleid noch Furcht erregen, weil wir jenes nur dem
unverdienten Unglück schenken, mit dieser nur Menschen unseres Gleichen
begleiten. Unter dem unverdienten Unglück versteht er natürlich kein ganz
unverdientes, sondern ein solches, das nur durch eine Schuld verdient ist,
die zur Strafe in keinem Verhältnisse steht. Sein Grund ließe sich leicht

Vischer's Aesthetik. 1. Bd. 20

hältniß treffen und verletzt immer ein ſittliches Recht, aber nicht ein
ſolches, welches im vorliegenden Falle mit dem andern, durch das Patbos
des Helden vertretenen, an ſich eine weſentliche ſittliche Einheit bildet, wo
denn die Schuld in der Trennung des Zuſammengehörigen läge, ſondern
es iſt zufällig, welches Verhältniß verletzt wird. Ajax z. B. verletzt
durch ſein Raſen die Helden-Ehre: er hätte in ſeiner Leidenſchaftlichkeit
auch eine andere Schuld begehen können; Sigfried verletzt die Pflicht
der Verſchwiegenheit, indem er Chriemhilden das Geheimniß von
Brunhildens Brautnacht mittheilt: er hätte in ſeiner Harmloſigkeit
auch ein Verſehen anderer Art ſich zu Schulden kommen laſſen können.
Die Schuld ſteht alſo mit dem Streben des Helden nicht in dem orga-
niſchen Verhältniß, wie ſich dies in der dritten Form zeigen wird.
Subjectiv aber ſoll wo möglich ein innerer Zuſammenhang ſeyn. Die
Schuld ſoll aus denſelben Temperaments-Eigenſchaften fließen, wie die
Tugend. Der Reformator eines Staats, einer Kirche z. B. mag in
ſeinem Eifer zu raſch verfahren u. dgl. Im Temperamente des Ajax
iſt jene Raſerei ganz begründet. Oedipus erſcheint zwar vorzüglich
als weiſer Heros, aber er hat doch auch die jähzornige Helden-Natur,
und ſo bedenkt er nicht, daß der Zufall ihm auflauert, daß er durch
den Orakelſpruch gewitzigt ſeyn ſollte, da er den Begegnenden, übrigens
nach griechiſchen Begriffen an ſich mit Recht, erſchlägt. Einem Sigfried,
gut und arglos, vertraulich wie er iſt, liegt nichts näher, als jener
Fehler des Verplauderns. Conradin fällt durch ſeine Unvorſichtigkeit
nach dem Siege bei Scurcola: ein Fehler, der ganz ſeiner Jugend
entſpricht, deren Unternehmungsgeiſt eben ihn zugleich zum tragiſchen
Helden erhebt. Othello rast um ſo fürchterlicher und iſt um ſo leichter
zu täuſchen, je gewaltiger ſeine argloſe Natur vorher die Leidenſchaft
in ſich zuſammenhielt. Hamlet, ſo weit er hieher gehört, muß unge-
ſchickt zum Handeln ſeyn gerade durch den Tiefſinn ſeiner denkenden Natur.
Egmont in der Darſtellung des Dichters fällt durch denſelben Leichtſinn,
der ihn zu dem beliebten Helden eines luſtigen Volkes macht.

2. Ariſtoteles weist bekanntlich (Poet. 13) die überaus Schlechten
und ihren Sturz von der Tragödie völlig aus; denn dieſer Sturz würde,
wie er meint, weder Mitleid noch Furcht erregen, weil wir jenes nur dem
unverdienten Unglück ſchenken, mit dieſer nur Menſchen unſeres Gleichen
begleiten. Unter dem unverdienten Unglück verſteht er natürlich kein ganz
unverdientes, ſondern ein ſolches, das nur durch eine Schuld verdient iſt,
die zur Strafe in keinem Verhältniſſe ſteht. Sein Grund ließe ſich leicht

Viſcher’s Aeſthetik. 1. Bd. 20
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[305/0319] hältniß treffen und verletzt immer ein ſittliches Recht, aber nicht ein ſolches, welches im vorliegenden Falle mit dem andern, durch das Patbos des Helden vertretenen, an ſich eine weſentliche ſittliche Einheit bildet, wo denn die Schuld in der Trennung des Zuſammengehörigen läge, ſondern es iſt zufällig, welches Verhältniß verletzt wird. Ajax z. B. verletzt durch ſein Raſen die Helden-Ehre: er hätte in ſeiner Leidenſchaftlichkeit auch eine andere Schuld begehen können; Sigfried verletzt die Pflicht der Verſchwiegenheit, indem er Chriemhilden das Geheimniß von Brunhildens Brautnacht mittheilt: er hätte in ſeiner Harmloſigkeit auch ein Verſehen anderer Art ſich zu Schulden kommen laſſen können. Die Schuld ſteht alſo mit dem Streben des Helden nicht in dem orga- niſchen Verhältniß, wie ſich dies in der dritten Form zeigen wird. Subjectiv aber ſoll wo möglich ein innerer Zuſammenhang ſeyn. Die Schuld ſoll aus denſelben Temperaments-Eigenſchaften fließen, wie die Tugend. Der Reformator eines Staats, einer Kirche z. B. mag in ſeinem Eifer zu raſch verfahren u. dgl. Im Temperamente des Ajax iſt jene Raſerei ganz begründet. Oedipus erſcheint zwar vorzüglich als weiſer Heros, aber er hat doch auch die jähzornige Helden-Natur, und ſo bedenkt er nicht, daß der Zufall ihm auflauert, daß er durch den Orakelſpruch gewitzigt ſeyn ſollte, da er den Begegnenden, übrigens nach griechiſchen Begriffen an ſich mit Recht, erſchlägt. Einem Sigfried, gut und arglos, vertraulich wie er iſt, liegt nichts näher, als jener Fehler des Verplauderns. Conradin fällt durch ſeine Unvorſichtigkeit nach dem Siege bei Scurcola: ein Fehler, der ganz ſeiner Jugend entſpricht, deren Unternehmungsgeiſt eben ihn zugleich zum tragiſchen Helden erhebt. Othello rast um ſo fürchterlicher und iſt um ſo leichter zu täuſchen, je gewaltiger ſeine argloſe Natur vorher die Leidenſchaft in ſich zuſammenhielt. Hamlet, ſo weit er hieher gehört, muß unge- ſchickt zum Handeln ſeyn gerade durch den Tiefſinn ſeiner denkenden Natur. Egmont in der Darſtellung des Dichters fällt durch denſelben Leichtſinn, der ihn zu dem beliebten Helden eines luſtigen Volkes macht. 2. Ariſtoteles weist bekanntlich (Poet. 13) die überaus Schlechten und ihren Sturz von der Tragödie völlig aus; denn dieſer Sturz würde, wie er meint, weder Mitleid noch Furcht erregen, weil wir jenes nur dem unverdienten Unglück ſchenken, mit dieſer nur Menſchen unſeres Gleichen begleiten. Unter dem unverdienten Unglück verſteht er natürlich kein ganz unverdientes, ſondern ein ſolches, das nur durch eine Schuld verdient iſt, die zur Strafe in keinem Verhältniſſe ſteht. Sein Grund ließe ſich leicht Viſcher’s Aeſthetik. 1. Bd. 20

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 305. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/319>, abgerufen am 28.03.2024.