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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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erschüttert, thut jetzt, was er vorher bei Todesstrafe verboten hatte, er
läßt den wieder ausgescharrten Todten begraben. Es ist zu spät; er
verliert Sohn und Gemahlinn, welche die sterbende Antigone in's Grab
nach sich zieht, und so hat er dem Gesetze der Oberwelt Genüge gethan,
aber das der Unterwelt holt sich ebendadurch sein Recht. Kreon überlebt,
aber gebrochen und innerlich vernichtet. In andern Fällen scheint die
zweite der in §. 136 unterschiedenen Seiten sogar zu siegen. Wallen-
stein fällt und das östreichische Hofsystem siegt durch Octavio's gelungenen
Plan. Hiedurch verstärkt sich der Schein, als fallen die Vertreter des
glänzenderen Rechts unschuldig und triumphire das Unrecht. Allein dies
wäre außer aller Schönheit; denn wenn es in dem Gebiete, wo der störende
Zufall (§. 40. 52) nur in unübersehlichem Fortgang aufgehoben wird, oft
genug so aussieht, als wäre Gerechtigkeit nicht das Gesetz der Geschichte,
so rückt ja eben das Schöne, was auseinandergesprengt ist, aneinander
und hier muß Gerechtigkeit im einzelnen Falle sichtbar walten. Piccolomini
überlebt, aber mit zerschlagenem Herzen und mit dem Verluste des ge-
liebten Sohnes. Der Dichter hätte nur mit ein paar Worten auch dies
andeuten müssen, daß das scheinbar siegreiche System des Kaisers noch
in weiter Zukunft Fluch tragen und so aus Wallensteins Blut die
Erinnye aufsteigen werde. Wirklich zeigt ein Blick auf die neuere Kriegs-
geschichte Oestreichs, welche Früchte das System trägt, den Genius
auch an der Spitze des Heers nicht zu dulden, sondern durch den Kriegs-
rath zu beschneiden und zu lähmen. Wallenstein könnte in den letzten
schönen Momenten seines Lebens mit Seherblick diese Nemesis über der
Zukunft schwebend erblicken. -- In Shakespeares Julius Cäsar stellt
sich dies gebrochene Ueberleben in doppelter Wendung ein. Zuerst über-
leben die Verschworenen mit dem Dolche des Vorwurfs im Busen den
Mord des Helden, den die gesunkene Kraft Roms zum monarchischen Pathos
berechtigte. Dann gehen sie selbst unter, da sie doch gegen die Triumvirn,
die nicht eines Cäsars Beruf für sich haben, im Vorrechte des edleren Pathos
sind. Sie sterben "nach Römerbrauch" durch das eigene Schwert und
Antonius, Octavius sprechen an der Leiche des Brutus die tiefste Achtung
vor ihm aus. Will man Antonius und Cleopatra als eine Tragödie des
Conflicts zwischen der Poesie der Leidenschaft und dem Geiste der männ-
lichen That, welche durch die gegenüberstehende List und Consequenz der
Politik gefordert ist, betrachten, so siegt zwar diese, aber Octavius steht,
als Sieger besiegt, mit Thränen vor den edeln Leichen des Antonius und
der Cleopatra. So erscheint es selbst als schönes Vorrecht der Helden,

erſchüttert, thut jetzt, was er vorher bei Todesſtrafe verboten hatte, er
läßt den wieder ausgeſcharrten Todten begraben. Es iſt zu ſpät; er
verliert Sohn und Gemahlinn, welche die ſterbende Antigone in’s Grab
nach ſich zieht, und ſo hat er dem Geſetze der Oberwelt Genüge gethan,
aber das der Unterwelt holt ſich ebendadurch ſein Recht. Kreon überlebt,
aber gebrochen und innerlich vernichtet. In andern Fällen ſcheint die
zweite der in §. 136 unterſchiedenen Seiten ſogar zu ſiegen. Wallen-
ſtein fällt und das öſtreichiſche Hofſyſtem ſiegt durch Octavio’s gelungenen
Plan. Hiedurch verſtärkt ſich der Schein, als fallen die Vertreter des
glänzenderen Rechts unſchuldig und triumphire das Unrecht. Allein dies
wäre außer aller Schönheit; denn wenn es in dem Gebiete, wo der ſtörende
Zufall (§. 40. 52) nur in unüberſehlichem Fortgang aufgehoben wird, oft
genug ſo ausſieht, als wäre Gerechtigkeit nicht das Geſetz der Geſchichte,
ſo rückt ja eben das Schöne, was auseinandergeſprengt iſt, aneinander
und hier muß Gerechtigkeit im einzelnen Falle ſichtbar walten. Piccolomini
überlebt, aber mit zerſchlagenem Herzen und mit dem Verluſte des ge-
liebten Sohnes. Der Dichter hätte nur mit ein paar Worten auch dies
andeuten müſſen, daß das ſcheinbar ſiegreiche Syſtem des Kaiſers noch
in weiter Zukunft Fluch tragen und ſo aus Wallenſteins Blut die
Erinnye aufſteigen werde. Wirklich zeigt ein Blick auf die neuere Kriegs-
geſchichte Oeſtreichs, welche Früchte das Syſtem trägt, den Genius
auch an der Spitze des Heers nicht zu dulden, ſondern durch den Kriegs-
rath zu beſchneiden und zu lähmen. Wallenſtein könnte in den letzten
ſchönen Momenten ſeines Lebens mit Seherblick dieſe Nemeſis über der
Zukunft ſchwebend erblicken. — In Shakespeares Julius Cäſar ſtellt
ſich dies gebrochene Ueberleben in doppelter Wendung ein. Zuerſt über-
leben die Verſchworenen mit dem Dolche des Vorwurfs im Buſen den
Mord des Helden, den die geſunkene Kraft Roms zum monarchiſchen Pathos
berechtigte. Dann gehen ſie ſelbſt unter, da ſie doch gegen die Triumvirn,
die nicht eines Cäſars Beruf für ſich haben, im Vorrechte des edleren Pathos
ſind. Sie ſterben „nach Römerbrauch“ durch das eigene Schwert und
Antonius, Octavius ſprechen an der Leiche des Brutus die tiefſte Achtung
vor ihm aus. Will man Antonius und Cleopatra als eine Tragödie des
Conflicts zwiſchen der Poeſie der Leidenſchaft und dem Geiſte der männ-
lichen That, welche durch die gegenüberſtehende Liſt und Conſequenz der
Politik gefordert iſt, betrachten, ſo ſiegt zwar dieſe, aber Octavius ſteht,
als Sieger beſiegt, mit Thränen vor den edeln Leichen des Antonius und
der Cleopatra. So erſcheint es ſelbſt als ſchönes Vorrecht der Helden,

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[318/0332] erſchüttert, thut jetzt, was er vorher bei Todesſtrafe verboten hatte, er läßt den wieder ausgeſcharrten Todten begraben. Es iſt zu ſpät; er verliert Sohn und Gemahlinn, welche die ſterbende Antigone in’s Grab nach ſich zieht, und ſo hat er dem Geſetze der Oberwelt Genüge gethan, aber das der Unterwelt holt ſich ebendadurch ſein Recht. Kreon überlebt, aber gebrochen und innerlich vernichtet. In andern Fällen ſcheint die zweite der in §. 136 unterſchiedenen Seiten ſogar zu ſiegen. Wallen- ſtein fällt und das öſtreichiſche Hofſyſtem ſiegt durch Octavio’s gelungenen Plan. Hiedurch verſtärkt ſich der Schein, als fallen die Vertreter des glänzenderen Rechts unſchuldig und triumphire das Unrecht. Allein dies wäre außer aller Schönheit; denn wenn es in dem Gebiete, wo der ſtörende Zufall (§. 40. 52) nur in unüberſehlichem Fortgang aufgehoben wird, oft genug ſo ausſieht, als wäre Gerechtigkeit nicht das Geſetz der Geſchichte, ſo rückt ja eben das Schöne, was auseinandergeſprengt iſt, aneinander und hier muß Gerechtigkeit im einzelnen Falle ſichtbar walten. Piccolomini überlebt, aber mit zerſchlagenem Herzen und mit dem Verluſte des ge- liebten Sohnes. Der Dichter hätte nur mit ein paar Worten auch dies andeuten müſſen, daß das ſcheinbar ſiegreiche Syſtem des Kaiſers noch in weiter Zukunft Fluch tragen und ſo aus Wallenſteins Blut die Erinnye aufſteigen werde. Wirklich zeigt ein Blick auf die neuere Kriegs- geſchichte Oeſtreichs, welche Früchte das Syſtem trägt, den Genius auch an der Spitze des Heers nicht zu dulden, ſondern durch den Kriegs- rath zu beſchneiden und zu lähmen. Wallenſtein könnte in den letzten ſchönen Momenten ſeines Lebens mit Seherblick dieſe Nemeſis über der Zukunft ſchwebend erblicken. — In Shakespeares Julius Cäſar ſtellt ſich dies gebrochene Ueberleben in doppelter Wendung ein. Zuerſt über- leben die Verſchworenen mit dem Dolche des Vorwurfs im Buſen den Mord des Helden, den die geſunkene Kraft Roms zum monarchiſchen Pathos berechtigte. Dann gehen ſie ſelbſt unter, da ſie doch gegen die Triumvirn, die nicht eines Cäſars Beruf für ſich haben, im Vorrechte des edleren Pathos ſind. Sie ſterben „nach Römerbrauch“ durch das eigene Schwert und Antonius, Octavius ſprechen an der Leiche des Brutus die tiefſte Achtung vor ihm aus. Will man Antonius und Cleopatra als eine Tragödie des Conflicts zwiſchen der Poeſie der Leidenſchaft und dem Geiſte der männ- lichen That, welche durch die gegenüberſtehende Liſt und Conſequenz der Politik gefordert iſt, betrachten, ſo ſiegt zwar dieſe, aber Octavius ſteht, als Sieger beſiegt, mit Thränen vor den edeln Leichen des Antonius und der Cleopatra. So erſcheint es ſelbſt als ſchönes Vorrecht der Helden,

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 318. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/332>, abgerufen am 19.04.2024.