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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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Tragischen sich bekämpfenden Gegensätze durch die im einzelnen vor-
liegenden Falle liegende blutige Lehre. Allein diese Milderung war
innerhalb des Tragischen wirklich nicht zu erwarten; denn wo immer ein
ernstlicher Fall kommt, kann ja doch im Conflicte von beiden kämpfenden
Seiten nur Eines geschehen, das Andere nicht. Wird aber der Fall
eines nicht absoluten, sondern eines solchen Conflicts vorgestellt, der durch
Humanität lösbar ist, so entsteht entweder das Schauspiel des positiv
Tragischen und auch hier geht es ohne schweres Opfer nicht ab, oder
es entsteht etwas, was gar nicht tragisch ist, weil wirklich der
Conflict nur ein scheinbarer war, und dies Etwas kann nur ein Vorgang
seyn, der in das Gebiet fällt, welches jetzt vor uns liegt. Das Bild
ist nun zwar in dem Ganzen, das die Schönheit ist, die unselbständige
Seite, allein dadurch ist ihm seine Bestimmung nicht abgesprochen, zwar
das Gefäß, aber das zureichende Gefäß der Idee zu seyn. Bild
und Idee sollen sich vollständig decken.

2. Das Gesetz des Schönen selbst treibt daher weiter zu einer neuen
Form des Widerstreits. Nicht das einfach Schöne kann hier als Genug-
thuung des verkürzten Rechts des Bildes wieder eintreten. Eine Nega-
tion ist nur durch eine zweite Negation aufzuheben. Der Staat ist nicht
zufrieden, sich gegen das Unrecht als das gerechte Ganze thatlos binzu-
stellen, sondern er verletzt den Verletzenden, er negirt ihn thatsächlich,
wie dieser durch das in seiner That aufgestellte Prinzip ihn negirt.
So kann die Gäbrung des Widerstreits im Schönen sich nicht plötzlich
legen, die Verkürzung des Einen Moments durch das andere muß sich
durch Verkürzung des anderen durch das eine erst zum Gleichgewichte
herstellen. Der Geist des Ganzen muß dem beeinträchtigten Gliede
seines Einklangs dadurch das entzogene Recht wiedergeben. Du sublime
au ridicule il n'y a qu' un pas.
Dieses Wort muß man nicht durch
stoffartige Anführungen aus der Wirklichkeit, ebensowenig durch Berufung
auf einen ästhetischen Zusammenhang, der die Einmischung des Komischen
nicht zuläßt, abstumpfen wollen. Es kann dadurch nur bewiesen werden,
daß der Satz nicht überall anzuwenden ist; allein damit ist gar nichts
gesagt, denn es gibt kein Gesetz, das anderswo, als in seinem Kreise, gälte.

§. 148.

Dies ist ein Widerspruch, weil das Bild ohne die Idee nichts ist. Derselbe1
begründet eine Erscheinung, worin das Unterste zu oberst gestellt ist, indem das

Tragiſchen ſich bekämpfenden Gegenſätze durch die im einzelnen vor-
liegenden Falle liegende blutige Lehre. Allein dieſe Milderung war
innerhalb des Tragiſchen wirklich nicht zu erwarten; denn wo immer ein
ernſtlicher Fall kommt, kann ja doch im Conflicte von beiden kämpfenden
Seiten nur Eines geſchehen, das Andere nicht. Wird aber der Fall
eines nicht abſoluten, ſondern eines ſolchen Conflicts vorgeſtellt, der durch
Humanität lösbar iſt, ſo entſteht entweder das Schauſpiel des poſitiv
Tragiſchen und auch hier geht es ohne ſchweres Opfer nicht ab, oder
es entſteht etwas, was gar nicht tragiſch iſt, weil wirklich der
Conflict nur ein ſcheinbarer war, und dies Etwas kann nur ein Vorgang
ſeyn, der in das Gebiet fällt, welches jetzt vor uns liegt. Das Bild
iſt nun zwar in dem Ganzen, das die Schönheit iſt, die unſelbſtändige
Seite, allein dadurch iſt ihm ſeine Beſtimmung nicht abgeſprochen, zwar
das Gefäß, aber das zureichende Gefäß der Idee zu ſeyn. Bild
und Idee ſollen ſich vollſtändig decken.

2. Das Geſetz des Schönen ſelbſt treibt daher weiter zu einer neuen
Form des Widerſtreits. Nicht das einfach Schöne kann hier als Genug-
thuung des verkürzten Rechts des Bildes wieder eintreten. Eine Nega-
tion iſt nur durch eine zweite Negation aufzuheben. Der Staat iſt nicht
zufrieden, ſich gegen das Unrecht als das gerechte Ganze thatlos binzu-
ſtellen, ſondern er verletzt den Verletzenden, er negirt ihn thatſächlich,
wie dieſer durch das in ſeiner That aufgeſtellte Prinzip ihn negirt.
So kann die Gäbrung des Widerſtreits im Schönen ſich nicht plötzlich
legen, die Verkürzung des Einen Moments durch das andere muß ſich
durch Verkürzung des anderen durch das eine erſt zum Gleichgewichte
herſtellen. Der Geiſt des Ganzen muß dem beeinträchtigten Gliede
ſeines Einklangs dadurch das entzogene Recht wiedergeben. Du sublime
au ridicule il n’y a qu’ un pas.
Dieſes Wort muß man nicht durch
ſtoffartige Anführungen aus der Wirklichkeit, ebenſowenig durch Berufung
auf einen äſthetiſchen Zuſammenhang, der die Einmiſchung des Komiſchen
nicht zuläßt, abſtumpfen wollen. Es kann dadurch nur bewieſen werden,
daß der Satz nicht überall anzuwenden iſt; allein damit iſt gar nichts
geſagt, denn es gibt kein Geſetz, das anderswo, als in ſeinem Kreiſe, gälte.

§. 148.

Dies iſt ein Widerſpruch, weil das Bild ohne die Idee nichts iſt. Derſelbe1
begründet eine Erſcheinung, worin das Unterſte zu oberſt geſtellt iſt, indem das

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[335/0349] Tragiſchen ſich bekämpfenden Gegenſätze durch die im einzelnen vor- liegenden Falle liegende blutige Lehre. Allein dieſe Milderung war innerhalb des Tragiſchen wirklich nicht zu erwarten; denn wo immer ein ernſtlicher Fall kommt, kann ja doch im Conflicte von beiden kämpfenden Seiten nur Eines geſchehen, das Andere nicht. Wird aber der Fall eines nicht abſoluten, ſondern eines ſolchen Conflicts vorgeſtellt, der durch Humanität lösbar iſt, ſo entſteht entweder das Schauſpiel des poſitiv Tragiſchen und auch hier geht es ohne ſchweres Opfer nicht ab, oder es entſteht etwas, was gar nicht tragiſch iſt, weil wirklich der Conflict nur ein ſcheinbarer war, und dies Etwas kann nur ein Vorgang ſeyn, der in das Gebiet fällt, welches jetzt vor uns liegt. Das Bild iſt nun zwar in dem Ganzen, das die Schönheit iſt, die unſelbſtändige Seite, allein dadurch iſt ihm ſeine Beſtimmung nicht abgeſprochen, zwar das Gefäß, aber das zureichende Gefäß der Idee zu ſeyn. Bild und Idee ſollen ſich vollſtändig decken. 2. Das Geſetz des Schönen ſelbſt treibt daher weiter zu einer neuen Form des Widerſtreits. Nicht das einfach Schöne kann hier als Genug- thuung des verkürzten Rechts des Bildes wieder eintreten. Eine Nega- tion iſt nur durch eine zweite Negation aufzuheben. Der Staat iſt nicht zufrieden, ſich gegen das Unrecht als das gerechte Ganze thatlos binzu- ſtellen, ſondern er verletzt den Verletzenden, er negirt ihn thatſächlich, wie dieſer durch das in ſeiner That aufgeſtellte Prinzip ihn negirt. So kann die Gäbrung des Widerſtreits im Schönen ſich nicht plötzlich legen, die Verkürzung des Einen Moments durch das andere muß ſich durch Verkürzung des anderen durch das eine erſt zum Gleichgewichte herſtellen. Der Geiſt des Ganzen muß dem beeinträchtigten Gliede ſeines Einklangs dadurch das entzogene Recht wiedergeben. Du sublime au ridicule il n’y a qu’ un pas. Dieſes Wort muß man nicht durch ſtoffartige Anführungen aus der Wirklichkeit, ebenſowenig durch Berufung auf einen äſthetiſchen Zuſammenhang, der die Einmiſchung des Komiſchen nicht zuläßt, abſtumpfen wollen. Es kann dadurch nur bewieſen werden, daß der Satz nicht überall anzuwenden iſt; allein damit iſt gar nichts geſagt, denn es gibt kein Geſetz, das anderswo, als in ſeinem Kreiſe, gälte. §. 148. Dies iſt ein Widerſpruch, weil das Bild ohne die Idee nichts iſt. Derſelbe begründet eine Erſcheinung, worin das Unterſte zu oberſt geſtellt iſt, indem das

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 335. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/349>, abgerufen am 28.03.2024.