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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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Einzelne, das vom Allgemeinen zur Unterordnung bestimmt ist, die Stellung
sich anmaßt, welche derjenigen Seite des Bildes zukommt, die wesentlich das
Allgemeine in sich darstellen soll. Dieser Widerspruch ist das Häßliche. Nun
2ist das Häßliche bereits im Erhabenen (§. 98. 100. 106. 108. 113) aufge-
treten, und dies scheint mit der richtigen Begriffsfolge zu streiten, denn jetzt
wird es aus der negativen Stellung des Bildes gegen die Idee abgeleitet, dort
folgte es aus der negativen Stellung der Idee gegen das Bild. Allein es
folgte aus einem Uebermaße, welches die Ordnung des Gebildes zwar verkehrt,
aber zu furchtbar ist, als daß der Nachdruck auf die Verkehrung fallen kann.
Was an sich Verkehrung der Idee, die das Gebilde als sein Gattungsbegriff
beherrscht, in Häßlichkeit wäre, trat dadurch unter einen andern Standpunkt, in
welchem es der Idee dient, nämlich derjenigen, welche je in der besonderen
Sphäre das Erhabene bedingte.

1. §. 98 gab bereits eine vorläufige Begriffsbestimmung des Häß-
lichen. Diese ergänzt sich an der gegenwärtigen Stelle zunächst dadurch,
daß die Umkehrung der Harmonie eines Bildes als eine falsche Stellung
der geistig sprechenden und der geistig bedeutungsloseren, zur Unterordnung
bestimmten Theile ausgesprochen wird; wie wenn z. B. die Nase, die
nur einen schwachen Antheil an dem geistigen Ausdrucke des Gesichtes
hat, durch unverhältnißmäßige Größe diejenigen Theile verdunkelt, wo
derselbe vorzüglich seinen Sitz hat. In §. 98 handelte es sich von der
Kategorie der Kraft, von einer Ueberladung einzelner Organe mit der-
selben, wo also diese geistige Schärfe des Häßlichen noch nicht hervortrat.
Im Bösen §. 108 nahm freilich die Häßlichkeit schon diese geistige Be-
deutung an, allein auch hier ist die Verkehrung zu furchtbar, um als
solche den Nachdruck auf sich zu ziehen, es bleibt also auch hier die
auf einzelne Theile gelegte Ueberladung der Kraft das Bestimmende der
Erscheinung. Diese Bemerkungen führen bereits zu der folgenden.

2. Das Häßliche trat schon im Erhabenen hervor, war aber hier
nicht das Gesuchte, nicht das, worauf die Untersuchung als ihren Zweck
hindrängte. Es stand in zweiter Linie, denn es wurde aufgenommen
nur um des Furchtbaren willen. Das Häßliche ist nun an der jetzigen
Stelle zu begreifen als verzerrende Auflehnung des Bilds gegen die
Idee, d. h. gegen die Idee, die als Gattung das Gebilde beherrschen
soll. Allein im Erhabenen stand diese Verzerrung in einem andern Zu-
sammenhange, sie diente selbst einer anderweitigen Idee. Wenn

Einzelne, das vom Allgemeinen zur Unterordnung beſtimmt iſt, die Stellung
ſich anmaßt, welche derjenigen Seite des Bildes zukommt, die weſentlich das
Allgemeine in ſich darſtellen ſoll. Dieſer Widerſpruch iſt das Häßliche. Nun
2iſt das Häßliche bereits im Erhabenen (§. 98. 100. 106. 108. 113) aufge-
treten, und dies ſcheint mit der richtigen Begriffsfolge zu ſtreiten, denn jetzt
wird es aus der negativen Stellung des Bildes gegen die Idee abgeleitet, dort
folgte es aus der negativen Stellung der Idee gegen das Bild. Allein es
folgte aus einem Uebermaße, welches die Ordnung des Gebildes zwar verkehrt,
aber zu furchtbar iſt, als daß der Nachdruck auf die Verkehrung fallen kann.
Was an ſich Verkehrung der Idee, die das Gebilde als ſein Gattungsbegriff
beherrſcht, in Häßlichkeit wäre, trat dadurch unter einen andern Standpunkt, in
welchem es der Idee dient, nämlich derjenigen, welche je in der beſonderen
Sphäre das Erhabene bedingte.

1. §. 98 gab bereits eine vorläufige Begriffsbeſtimmung des Häß-
lichen. Dieſe ergänzt ſich an der gegenwärtigen Stelle zunächſt dadurch,
daß die Umkehrung der Harmonie eines Bildes als eine falſche Stellung
der geiſtig ſprechenden und der geiſtig bedeutungsloſeren, zur Unterordnung
beſtimmten Theile ausgeſprochen wird; wie wenn z. B. die Naſe, die
nur einen ſchwachen Antheil an dem geiſtigen Ausdrucke des Geſichtes
hat, durch unverhältnißmäßige Größe diejenigen Theile verdunkelt, wo
derſelbe vorzüglich ſeinen Sitz hat. In §. 98 handelte es ſich von der
Kategorie der Kraft, von einer Ueberladung einzelner Organe mit der-
ſelben, wo alſo dieſe geiſtige Schärfe des Häßlichen noch nicht hervortrat.
Im Böſen §. 108 nahm freilich die Häßlichkeit ſchon dieſe geiſtige Be-
deutung an, allein auch hier iſt die Verkehrung zu furchtbar, um als
ſolche den Nachdruck auf ſich zu ziehen, es bleibt alſo auch hier die
auf einzelne Theile gelegte Ueberladung der Kraft das Beſtimmende der
Erſcheinung. Dieſe Bemerkungen führen bereits zu der folgenden.

2. Das Häßliche trat ſchon im Erhabenen hervor, war aber hier
nicht das Geſuchte, nicht das, worauf die Unterſuchung als ihren Zweck
hindrängte. Es ſtand in zweiter Linie, denn es wurde aufgenommen
nur um des Furchtbaren willen. Das Häßliche iſt nun an der jetzigen
Stelle zu begreifen als verzerrende Auflehnung des Bilds gegen die
Idee, d. h. gegen die Idee, die als Gattung das Gebilde beherrſchen
ſoll. Allein im Erhabenen ſtand dieſe Verzerrung in einem andern Zu-
ſammenhange, ſie diente ſelbſt einer anderweitigen Idee. Wenn

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[336/0350] Einzelne, das vom Allgemeinen zur Unterordnung beſtimmt iſt, die Stellung ſich anmaßt, welche derjenigen Seite des Bildes zukommt, die weſentlich das Allgemeine in ſich darſtellen ſoll. Dieſer Widerſpruch iſt das Häßliche. Nun iſt das Häßliche bereits im Erhabenen (§. 98. 100. 106. 108. 113) aufge- treten, und dies ſcheint mit der richtigen Begriffsfolge zu ſtreiten, denn jetzt wird es aus der negativen Stellung des Bildes gegen die Idee abgeleitet, dort folgte es aus der negativen Stellung der Idee gegen das Bild. Allein es folgte aus einem Uebermaße, welches die Ordnung des Gebildes zwar verkehrt, aber zu furchtbar iſt, als daß der Nachdruck auf die Verkehrung fallen kann. Was an ſich Verkehrung der Idee, die das Gebilde als ſein Gattungsbegriff beherrſcht, in Häßlichkeit wäre, trat dadurch unter einen andern Standpunkt, in welchem es der Idee dient, nämlich derjenigen, welche je in der beſonderen Sphäre das Erhabene bedingte. 1. §. 98 gab bereits eine vorläufige Begriffsbeſtimmung des Häß- lichen. Dieſe ergänzt ſich an der gegenwärtigen Stelle zunächſt dadurch, daß die Umkehrung der Harmonie eines Bildes als eine falſche Stellung der geiſtig ſprechenden und der geiſtig bedeutungsloſeren, zur Unterordnung beſtimmten Theile ausgeſprochen wird; wie wenn z. B. die Naſe, die nur einen ſchwachen Antheil an dem geiſtigen Ausdrucke des Geſichtes hat, durch unverhältnißmäßige Größe diejenigen Theile verdunkelt, wo derſelbe vorzüglich ſeinen Sitz hat. In §. 98 handelte es ſich von der Kategorie der Kraft, von einer Ueberladung einzelner Organe mit der- ſelben, wo alſo dieſe geiſtige Schärfe des Häßlichen noch nicht hervortrat. Im Böſen §. 108 nahm freilich die Häßlichkeit ſchon dieſe geiſtige Be- deutung an, allein auch hier iſt die Verkehrung zu furchtbar, um als ſolche den Nachdruck auf ſich zu ziehen, es bleibt alſo auch hier die auf einzelne Theile gelegte Ueberladung der Kraft das Beſtimmende der Erſcheinung. Dieſe Bemerkungen führen bereits zu der folgenden. 2. Das Häßliche trat ſchon im Erhabenen hervor, war aber hier nicht das Geſuchte, nicht das, worauf die Unterſuchung als ihren Zweck hindrängte. Es ſtand in zweiter Linie, denn es wurde aufgenommen nur um des Furchtbaren willen. Das Häßliche iſt nun an der jetzigen Stelle zu begreifen als verzerrende Auflehnung des Bilds gegen die Idee, d. h. gegen die Idee, die als Gattung das Gebilde beherrſchen ſoll. Allein im Erhabenen ſtand dieſe Verzerrung in einem andern Zu- ſammenhange, ſie diente ſelbſt einer anderweitigen Idee. Wenn

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 336. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/350>, abgerufen am 28.03.2024.