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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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solches gilt: er ist unmittelbarer Ausfluß der Gesinnung und diese als
seine Quelle ist dann der eigentliche Kern der erhabenen Erscheinung;
das Erhabene wirft daher, wo es zu einem ernsten Kampfe kommt, diesen
Anstand auch noch sorgloser weg, als das Schöne, wie denn z. B. bei
einem großen Bilde der Zerstörung danach gar nicht mehr gefragt wird.
Anders also ist es im Komischen; ein Herausplatzen der lieben Natur
wirft hier auf die Vorschriften der Convenienz ein Schlaglicht, wodurch
sie als eine Anstrengung erscheinen, die erhaben im Sinne der Würde
seyn sollte und wirklich auch in der Scham des Geistes an seiner Natur
eine Grundlage des Erhabenen besitzt, aber zur blosen Form geworden
ist, zum Unrecht gegen die Natur fortgeht und daher an dieser
scheitert. Daß diese Natur da hervorbrechen muß, wo man sie nicht
mehr erwartete, hebt auch Schiller hervor, wo er in der genannten
Abh. zunächst das Naive im engeren Sinn darstellt: "das Naive ist eine
Kindlichkeit, wo sie nicht mehr erwartet wird" u. s. w. Das naive
Subject muß um die Convenienz und ihr Recht haben wissen können,
oder es muß ihm dies untergeschoben werden, wie den Thieren; sonst
fehlt der zum Komischen nöthige Widerspruch. Dadurch ist auch hier die
Rohheit völlig abgewiesen; es handelt sich um eine Einfalt, die auch ihren
Anstand hat, aber einen andern als die künstliche Bildung: sancta simpli-
citas.
Uebrigens ist auch in der Bestimmung dieses Begriffs Kant voran-
gegangen (a. a. O. Anm. zu §. 54): "Naivetät ist der Ausbruch der der
Menschheit ursprünglich natürlichen Aufrichtigkeit wider die zur andern
Natur gewordene Verstellungskunst. Man lacht über die Einfalt, die
es noch nicht versteht, sich zu verstellen, und erfreut sich doch auch über
die Einfalt der Natur, die jener Kunst hier einen Querstrich spielt. Man
erwartete die alltägliche Sitte der gekünstelten und auf den schönen Schein
vorsichtig angelegten Aeußerung; und siehe! es ist die unverdorbene schuld-
lose Natur, die man anzutreffen gar nicht gewärtig, und die der, welcher
sie blicken ließ, zu entblößen auch nicht gemeint war. Daß der schöne,
aber falsche Schein, der gewöhnlich in unserem Urtheile sehr viel bedeutet,
hier plötzlich in ein Nichts verwandelt, daß gleichsam der Schalk in uns
selbst blosgestellt wird, bringt die Bewegung des Gemüths nach zwei
entgegengesetzten Richtungen nacheinander hervor, die zugleich den Körper
heilsam schüttelt. Daß aber etwas, was unendlich besser als alle an-
genommene Sitte ist, die Lauterkeit der Denkungsart (wenigstens die
Anlage dazu) doch nicht ganz in der menschlichen Natur erloschen ist,
mischt Ernst und Hochschätzung in dieses Spiel der Urtheilskraft. Weil

ſolches gilt: er iſt unmittelbarer Ausfluß der Geſinnung und dieſe als
ſeine Quelle iſt dann der eigentliche Kern der erhabenen Erſcheinung;
das Erhabene wirft daher, wo es zu einem ernſten Kampfe kommt, dieſen
Anſtand auch noch ſorgloſer weg, als das Schöne, wie denn z. B. bei
einem großen Bilde der Zerſtörung danach gar nicht mehr gefragt wird.
Anders alſo iſt es im Komiſchen; ein Herausplatzen der lieben Natur
wirft hier auf die Vorſchriften der Convenienz ein Schlaglicht, wodurch
ſie als eine Anſtrengung erſcheinen, die erhaben im Sinne der Würde
ſeyn ſollte und wirklich auch in der Scham des Geiſtes an ſeiner Natur
eine Grundlage des Erhabenen beſitzt, aber zur bloſen Form geworden
iſt, zum Unrecht gegen die Natur fortgeht und daher an dieſer
ſcheitert. Daß dieſe Natur da hervorbrechen muß, wo man ſie nicht
mehr erwartete, hebt auch Schiller hervor, wo er in der genannten
Abh. zunächſt das Naive im engeren Sinn darſtellt: „das Naive iſt eine
Kindlichkeit, wo ſie nicht mehr erwartet wird“ u. ſ. w. Das naive
Subject muß um die Convenienz und ihr Recht haben wiſſen können,
oder es muß ihm dies untergeſchoben werden, wie den Thieren; ſonſt
fehlt der zum Komiſchen nöthige Widerſpruch. Dadurch iſt auch hier die
Rohheit völlig abgewieſen; es handelt ſich um eine Einfalt, die auch ihren
Anſtand hat, aber einen andern als die künſtliche Bildung: sancta simpli-
citas.
Uebrigens iſt auch in der Beſtimmung dieſes Begriffs Kant voran-
gegangen (a. a. O. Anm. zu §. 54): „Naivetät iſt der Ausbruch der der
Menſchheit urſprünglich natürlichen Aufrichtigkeit wider die zur andern
Natur gewordene Verſtellungskunſt. Man lacht über die Einfalt, die
es noch nicht verſteht, ſich zu verſtellen, und erfreut ſich doch auch über
die Einfalt der Natur, die jener Kunſt hier einen Querſtrich ſpielt. Man
erwartete die alltägliche Sitte der gekünſtelten und auf den ſchönen Schein
vorſichtig angelegten Aeußerung; und ſiehe! es iſt die unverdorbene ſchuld-
loſe Natur, die man anzutreffen gar nicht gewärtig, und die der, welcher
ſie blicken ließ, zu entblößen auch nicht gemeint war. Daß der ſchöne,
aber falſche Schein, der gewöhnlich in unſerem Urtheile ſehr viel bedeutet,
hier plötzlich in ein Nichts verwandelt, daß gleichſam der Schalk in uns
ſelbſt blosgeſtellt wird, bringt die Bewegung des Gemüths nach zwei
entgegengeſetzten Richtungen nacheinander hervor, die zugleich den Körper
heilſam ſchüttelt. Daß aber etwas, was unendlich beſſer als alle an-
genommene Sitte iſt, die Lauterkeit der Denkungsart (wenigſtens die
Anlage dazu) doch nicht ganz in der menſchlichen Natur erloſchen iſt,
miſcht Ernſt und Hochſchätzung in dieſes Spiel der Urtheilskraft. Weil

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[360/0374] ſolches gilt: er iſt unmittelbarer Ausfluß der Geſinnung und dieſe als ſeine Quelle iſt dann der eigentliche Kern der erhabenen Erſcheinung; das Erhabene wirft daher, wo es zu einem ernſten Kampfe kommt, dieſen Anſtand auch noch ſorgloſer weg, als das Schöne, wie denn z. B. bei einem großen Bilde der Zerſtörung danach gar nicht mehr gefragt wird. Anders alſo iſt es im Komiſchen; ein Herausplatzen der lieben Natur wirft hier auf die Vorſchriften der Convenienz ein Schlaglicht, wodurch ſie als eine Anſtrengung erſcheinen, die erhaben im Sinne der Würde ſeyn ſollte und wirklich auch in der Scham des Geiſtes an ſeiner Natur eine Grundlage des Erhabenen beſitzt, aber zur bloſen Form geworden iſt, zum Unrecht gegen die Natur fortgeht und daher an dieſer ſcheitert. Daß dieſe Natur da hervorbrechen muß, wo man ſie nicht mehr erwartete, hebt auch Schiller hervor, wo er in der genannten Abh. zunächſt das Naive im engeren Sinn darſtellt: „das Naive iſt eine Kindlichkeit, wo ſie nicht mehr erwartet wird“ u. ſ. w. Das naive Subject muß um die Convenienz und ihr Recht haben wiſſen können, oder es muß ihm dies untergeſchoben werden, wie den Thieren; ſonſt fehlt der zum Komiſchen nöthige Widerſpruch. Dadurch iſt auch hier die Rohheit völlig abgewieſen; es handelt ſich um eine Einfalt, die auch ihren Anſtand hat, aber einen andern als die künſtliche Bildung: sancta simpli- citas. Uebrigens iſt auch in der Beſtimmung dieſes Begriffs Kant voran- gegangen (a. a. O. Anm. zu §. 54): „Naivetät iſt der Ausbruch der der Menſchheit urſprünglich natürlichen Aufrichtigkeit wider die zur andern Natur gewordene Verſtellungskunſt. Man lacht über die Einfalt, die es noch nicht verſteht, ſich zu verſtellen, und erfreut ſich doch auch über die Einfalt der Natur, die jener Kunſt hier einen Querſtrich ſpielt. Man erwartete die alltägliche Sitte der gekünſtelten und auf den ſchönen Schein vorſichtig angelegten Aeußerung; und ſiehe! es iſt die unverdorbene ſchuld- loſe Natur, die man anzutreffen gar nicht gewärtig, und die der, welcher ſie blicken ließ, zu entblößen auch nicht gemeint war. Daß der ſchöne, aber falſche Schein, der gewöhnlich in unſerem Urtheile ſehr viel bedeutet, hier plötzlich in ein Nichts verwandelt, daß gleichſam der Schalk in uns ſelbſt blosgeſtellt wird, bringt die Bewegung des Gemüths nach zwei entgegengeſetzten Richtungen nacheinander hervor, die zugleich den Körper heilſam ſchüttelt. Daß aber etwas, was unendlich beſſer als alle an- genommene Sitte iſt, die Lauterkeit der Denkungsart (wenigſtens die Anlage dazu) doch nicht ganz in der menſchlichen Natur erloſchen iſt, miſcht Ernſt und Hochſchätzung in dieſes Spiel der Urtheilskraft. Weil

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 360. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/374>, abgerufen am 19.04.2024.