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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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darf ihren Grund nicht in den verborgenen Geheimnissen der in den Geist
selbst sich fortsetzenden Sinnlichkeit, sondern muß ihn in der anschaulichen
Sinnlichkeit haben. Es ist z. B. ein reiner Irrthum, der eben nicht
komisch ist, wenn Kant die Musik zu niedrig beurtheilt. Wenn man nun
aber findet, daß er ihr vorzüglich Aufdringlichkeit vorwirft, so vermuthet
man schon eine zufällige Ursache von Widerwillen. Nun darf man nur
hören, daß häufige Tanzmusik, die sich aus einem seiner Wohnung nahen
Wirthshause, und trübseliger Gesang von Frömmlern, der sich von einer
andern Seite aufdrängte und seine Arbeit störte, diese Ursache war: so sieht
man ein, daß dem irrenden Denker statt der wahren Natur des Gegen-
standes unvermerkt eine besondere, sinnliche Erfahrung vorschwebt, und
man wird nun nicht ermangeln, sich die Gestalt des Mannes selbst, den
Ausdruck des Aergers in dem Gesichte des gestörten Gelehrten u. s. w.
vorzustellen.

2. Es können nun alle Formen des theoretischen Geistes als das eine
Glied eines komischen Vorgangs auftreten. Selbst die Sprache, die zu-
nächst durch Stottern, Vernennen u. dgl. dem Komischen der Kraft anzu-
gehören schien, aber schon §. 159, 1 in höheren Zusammenhang gestellt
wurde, ist nun als Ausdruck des theoretischen Geistes zu fassen und solche
Störungen treten dadurch in ein höher komisches Licht. Falsche Auffassung
der Außenwelt aus Zerstreutheit u. dgl. öffnet ferner hier eine unendliche
Welt des Lachens, sofern nur ein solcher Act nicht unmittelbar im Zusammen-
hange mit einer Handlung steht, denn dann gehört er in das Komische des
praktischen Geistes. Gerade am lächerlichsten aber werden die höchsten und
reinsten Acte des denkenden Geistes, weil die Brechung durch sinnliche
Störung oder der Contrast ihrer Fortsetzung mit einer veränderten äußeren
Lage gerade durch die geistige Reinheit des Anfangs erhöht wird. Treff-
liche Beispiele enthält des Amtsvogts Josua Freudel Klaglibell gegen
seinen verfluchten Dämon im Qu. Fixlein von J. Paul. Es wird sich
aber im Verlaufe noch ein weiterer Grund zeigen, warum das Lächerliche
mit der Höhe der Intelligenz wächst. Als wichtiger Punkt ist hier noch
besonders die Einwurzlung des Irrthums und die Angewöhnung der Zer-
streutheit hervorzuheben. Wie nämlich im Erhabenen des Subjects die
höhere Form die der Stetigkeit ist, die zur andern Natur gewordene sittliche
Größe, so fordert auch das Komische eine ganze Persönlichkeit, einen
Narren. Nur kann diese Erscheinung hier noch nicht verfolgt werden;
denn wie auch der Sitz der Narrheit im Denken oder Vorstellen liegen mag,
so geht sie doch nothwendig, wenn sie sich in der Persönlichkeit befestigt, in's

darf ihren Grund nicht in den verborgenen Geheimniſſen der in den Geiſt
ſelbſt ſich fortſetzenden Sinnlichkeit, ſondern muß ihn in der anſchaulichen
Sinnlichkeit haben. Es iſt z. B. ein reiner Irrthum, der eben nicht
komiſch iſt, wenn Kant die Muſik zu niedrig beurtheilt. Wenn man nun
aber findet, daß er ihr vorzüglich Aufdringlichkeit vorwirft, ſo vermuthet
man ſchon eine zufällige Urſache von Widerwillen. Nun darf man nur
hören, daß häufige Tanzmuſik, die ſich aus einem ſeiner Wohnung nahen
Wirthshauſe, und trübſeliger Geſang von Frömmlern, der ſich von einer
andern Seite aufdrängte und ſeine Arbeit ſtörte, dieſe Urſache war: ſo ſieht
man ein, daß dem irrenden Denker ſtatt der wahren Natur des Gegen-
ſtandes unvermerkt eine beſondere, ſinnliche Erfahrung vorſchwebt, und
man wird nun nicht ermangeln, ſich die Geſtalt des Mannes ſelbſt, den
Ausdruck des Aergers in dem Geſichte des geſtörten Gelehrten u. ſ. w.
vorzuſtellen.

2. Es können nun alle Formen des theoretiſchen Geiſtes als das eine
Glied eines komiſchen Vorgangs auftreten. Selbſt die Sprache, die zu-
nächſt durch Stottern, Vernennen u. dgl. dem Komiſchen der Kraft anzu-
gehören ſchien, aber ſchon §. 159, 1 in höheren Zuſammenhang geſtellt
wurde, iſt nun als Ausdruck des theoretiſchen Geiſtes zu faſſen und ſolche
Störungen treten dadurch in ein höher komiſches Licht. Falſche Auffaſſung
der Außenwelt aus Zerſtreutheit u. dgl. öffnet ferner hier eine unendliche
Welt des Lachens, ſofern nur ein ſolcher Act nicht unmittelbar im Zuſammen-
hange mit einer Handlung ſteht, denn dann gehört er in das Komiſche des
praktiſchen Geiſtes. Gerade am lächerlichſten aber werden die höchſten und
reinſten Acte des denkenden Geiſtes, weil die Brechung durch ſinnliche
Störung oder der Contraſt ihrer Fortſetzung mit einer veränderten äußeren
Lage gerade durch die geiſtige Reinheit des Anfangs erhöht wird. Treff-
liche Beiſpiele enthält des Amtsvogts Joſua Freudel Klaglibell gegen
ſeinen verfluchten Dämon im Qu. Fixlein von J. Paul. Es wird ſich
aber im Verlaufe noch ein weiterer Grund zeigen, warum das Lächerliche
mit der Höhe der Intelligenz wächst. Als wichtiger Punkt iſt hier noch
beſonders die Einwurzlung des Irrthums und die Angewöhnung der Zer-
ſtreutheit hervorzuheben. Wie nämlich im Erhabenen des Subjects die
höhere Form die der Stetigkeit iſt, die zur andern Natur gewordene ſittliche
Größe, ſo fordert auch das Komiſche eine ganze Perſönlichkeit, einen
Narren. Nur kann dieſe Erſcheinung hier noch nicht verfolgt werden;
denn wie auch der Sitz der Narrheit im Denken oder Vorſtellen liegen mag,
ſo geht ſie doch nothwendig, wenn ſie ſich in der Perſönlichkeit befeſtigt, in’s

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[362/0376] darf ihren Grund nicht in den verborgenen Geheimniſſen der in den Geiſt ſelbſt ſich fortſetzenden Sinnlichkeit, ſondern muß ihn in der anſchaulichen Sinnlichkeit haben. Es iſt z. B. ein reiner Irrthum, der eben nicht komiſch iſt, wenn Kant die Muſik zu niedrig beurtheilt. Wenn man nun aber findet, daß er ihr vorzüglich Aufdringlichkeit vorwirft, ſo vermuthet man ſchon eine zufällige Urſache von Widerwillen. Nun darf man nur hören, daß häufige Tanzmuſik, die ſich aus einem ſeiner Wohnung nahen Wirthshauſe, und trübſeliger Geſang von Frömmlern, der ſich von einer andern Seite aufdrängte und ſeine Arbeit ſtörte, dieſe Urſache war: ſo ſieht man ein, daß dem irrenden Denker ſtatt der wahren Natur des Gegen- ſtandes unvermerkt eine beſondere, ſinnliche Erfahrung vorſchwebt, und man wird nun nicht ermangeln, ſich die Geſtalt des Mannes ſelbſt, den Ausdruck des Aergers in dem Geſichte des geſtörten Gelehrten u. ſ. w. vorzuſtellen. 2. Es können nun alle Formen des theoretiſchen Geiſtes als das eine Glied eines komiſchen Vorgangs auftreten. Selbſt die Sprache, die zu- nächſt durch Stottern, Vernennen u. dgl. dem Komiſchen der Kraft anzu- gehören ſchien, aber ſchon §. 159, 1 in höheren Zuſammenhang geſtellt wurde, iſt nun als Ausdruck des theoretiſchen Geiſtes zu faſſen und ſolche Störungen treten dadurch in ein höher komiſches Licht. Falſche Auffaſſung der Außenwelt aus Zerſtreutheit u. dgl. öffnet ferner hier eine unendliche Welt des Lachens, ſofern nur ein ſolcher Act nicht unmittelbar im Zuſammen- hange mit einer Handlung ſteht, denn dann gehört er in das Komiſche des praktiſchen Geiſtes. Gerade am lächerlichſten aber werden die höchſten und reinſten Acte des denkenden Geiſtes, weil die Brechung durch ſinnliche Störung oder der Contraſt ihrer Fortſetzung mit einer veränderten äußeren Lage gerade durch die geiſtige Reinheit des Anfangs erhöht wird. Treff- liche Beiſpiele enthält des Amtsvogts Joſua Freudel Klaglibell gegen ſeinen verfluchten Dämon im Qu. Fixlein von J. Paul. Es wird ſich aber im Verlaufe noch ein weiterer Grund zeigen, warum das Lächerliche mit der Höhe der Intelligenz wächst. Als wichtiger Punkt iſt hier noch beſonders die Einwurzlung des Irrthums und die Angewöhnung der Zer- ſtreutheit hervorzuheben. Wie nämlich im Erhabenen des Subjects die höhere Form die der Stetigkeit iſt, die zur andern Natur gewordene ſittliche Größe, ſo fordert auch das Komiſche eine ganze Perſönlichkeit, einen Narren. Nur kann dieſe Erſcheinung hier noch nicht verfolgt werden; denn wie auch der Sitz der Narrheit im Denken oder Vorſtellen liegen mag, ſo geht ſie doch nothwendig, wenn ſie ſich in der Perſönlichkeit befeſtigt, in’s

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 362. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/376>, abgerufen am 28.03.2024.