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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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§. 165.

Die Lehre vom Erhabenen ging von der Erhabenheit des sittlichen Willens1
im Subjecte unmittelbar zum Tragischen über, und hier trat zuerst als For-
derung, ausgebildet aber als ein wesentliches Moment der Versöhnung im
Leiden die subjective Erhebung des Bewußtseyns in das absolute Subject hervor.
Diese Erhebung war nur in ihrer allgemeinsten Bedeutung zu erwähnen; jetzt
aber muß sie als die höchste Form der Erhabenheit des Subjects besonders
auftreten, weil gerade von den Trübungen die Rede seyn soll, welche als sub-
jective Zuthaten zu dem wahren Gehalte der Religion diese Form des Be-
wußtseyns in's Komische ziehen. Diese Trübungen bestehen theils in der Ab-2
hängigkeit von äußern Unterbrechungen und inneren Störungen, welchen die
Religion als Stimmung und Thätigkeit des Subjects unterworfen ist, theils
bieten die Widersprüche, worein sie sich als mythische Vorstellung über ihren
Gegenstand verwickelt, der Bildung, welche sich von der letzteren befreit hat,
reichen komischen Stoff. Das absolute Subject aber, in seiner wahren All-
gemeinheit erfaßt, kann dem Komischen so wenig unterworfen seyn, daß es viel-
mehr selbst der Vollzieher des komischen Prozesses ist, der an die Stelle des
tragischen tritt.

1. In der Lehre vom Erhabenen trat, nachdem das Erhabene des
Subjects bis zur sittlichen Größe geführt war, sofort das Tragische ein.
Hier nun wurde sogleich die Anerkennung von Seiten des tragischen Sub-
jects gefordert, daß es seine Größe nicht sich, sondern dem Absoluten ver-
danke; aber erst im Leiden konnte das volle Bewußtseyn dieses Verhält-
nisses in demselben sich entwickeln und es sich dadurch von seiner Schuld
reinigen (vergl. z. B. §. 126). Es konnte aber dort nicht die Aufgabe
seyn, die besondere Form der Religion, welche dieses Bewußtseyn annimmt,
hereinzuziehen. Denn für's Erste war dort überhaupt darum nicht der
Ort, auf dieses Gebiet einzugehen, weil das Schauspiel des Leidens und
Untergangs dem Interesse für die besonderen Bildungsformen, welche die
Erhebung des Gemüths zum Absoluten als Religion annimmt, gar keinen
Raum gestattete; zweitens treten durch diese besonderen Formen Irrthümer
ein, welche selbst wieder nicht ohne Schuld sind, und diese Einführung
einer neuen Schuld hätte dort den ganzen Zusammenhang verrückt. Im
Komischen ist es anders; hier gehört die Religion um der Trübungen
willen, die ihr Gehalt durch seine subjective Bestimmtheit erleidet, noch
zu dem Erhabenen des Subjects, das durch die Einzelheit, womit es be-

Vischer's Aesthetik. 1. Bd. 24
§. 165.

Die Lehre vom Erhabenen ging von der Erhabenheit des ſittlichen Willens1
im Subjecte unmittelbar zum Tragiſchen über, und hier trat zuerſt als For-
derung, ausgebildet aber als ein weſentliches Moment der Verſöhnung im
Leiden die ſubjective Erhebung des Bewußtſeyns in das abſolute Subject hervor.
Dieſe Erhebung war nur in ihrer allgemeinſten Bedeutung zu erwähnen; jetzt
aber muß ſie als die höchſte Form der Erhabenheit des Subjects beſonders
auftreten, weil gerade von den Trübungen die Rede ſeyn ſoll, welche als ſub-
jective Zuthaten zu dem wahren Gehalte der Religion dieſe Form des Be-
wußtſeyns in’s Komiſche ziehen. Dieſe Trübungen beſtehen theils in der Ab-2
hängigkeit von äußern Unterbrechungen und inneren Störungen, welchen die
Religion als Stimmung und Thätigkeit des Subjects unterworfen iſt, theils
bieten die Widerſprüche, worein ſie ſich als mythiſche Vorſtellung über ihren
Gegenſtand verwickelt, der Bildung, welche ſich von der letzteren befreit hat,
reichen komiſchen Stoff. Das abſolute Subject aber, in ſeiner wahren All-
gemeinheit erfaßt, kann dem Komiſchen ſo wenig unterworfen ſeyn, daß es viel-
mehr ſelbſt der Vollzieher des komiſchen Prozeſſes iſt, der an die Stelle des
tragiſchen tritt.

1. In der Lehre vom Erhabenen trat, nachdem das Erhabene des
Subjects bis zur ſittlichen Größe geführt war, ſofort das Tragiſche ein.
Hier nun wurde ſogleich die Anerkennung von Seiten des tragiſchen Sub-
jects gefordert, daß es ſeine Größe nicht ſich, ſondern dem Abſoluten ver-
danke; aber erſt im Leiden konnte das volle Bewußtſeyn dieſes Verhält-
niſſes in demſelben ſich entwickeln und es ſich dadurch von ſeiner Schuld
reinigen (vergl. z. B. §. 126). Es konnte aber dort nicht die Aufgabe
ſeyn, die beſondere Form der Religion, welche dieſes Bewußtſeyn annimmt,
hereinzuziehen. Denn für’s Erſte war dort überhaupt darum nicht der
Ort, auf dieſes Gebiet einzugehen, weil das Schauſpiel des Leidens und
Untergangs dem Intereſſe für die beſonderen Bildungsformen, welche die
Erhebung des Gemüths zum Abſoluten als Religion annimmt, gar keinen
Raum geſtattete; zweitens treten durch dieſe beſonderen Formen Irrthümer
ein, welche ſelbſt wieder nicht ohne Schuld ſind, und dieſe Einführung
einer neuen Schuld hätte dort den ganzen Zuſammenhang verrückt. Im
Komiſchen iſt es anders; hier gehört die Religion um der Trübungen
willen, die ihr Gehalt durch ſeine ſubjective Beſtimmtheit erleidet, noch
zu dem Erhabenen des Subjects, das durch die Einzelheit, womit es be-

Viſcher’s Aeſthetik. 1. Bd. 24
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[369/0383] §. 165. Die Lehre vom Erhabenen ging von der Erhabenheit des ſittlichen Willens im Subjecte unmittelbar zum Tragiſchen über, und hier trat zuerſt als For- derung, ausgebildet aber als ein weſentliches Moment der Verſöhnung im Leiden die ſubjective Erhebung des Bewußtſeyns in das abſolute Subject hervor. Dieſe Erhebung war nur in ihrer allgemeinſten Bedeutung zu erwähnen; jetzt aber muß ſie als die höchſte Form der Erhabenheit des Subjects beſonders auftreten, weil gerade von den Trübungen die Rede ſeyn ſoll, welche als ſub- jective Zuthaten zu dem wahren Gehalte der Religion dieſe Form des Be- wußtſeyns in’s Komiſche ziehen. Dieſe Trübungen beſtehen theils in der Ab- hängigkeit von äußern Unterbrechungen und inneren Störungen, welchen die Religion als Stimmung und Thätigkeit des Subjects unterworfen iſt, theils bieten die Widerſprüche, worein ſie ſich als mythiſche Vorſtellung über ihren Gegenſtand verwickelt, der Bildung, welche ſich von der letzteren befreit hat, reichen komiſchen Stoff. Das abſolute Subject aber, in ſeiner wahren All- gemeinheit erfaßt, kann dem Komiſchen ſo wenig unterworfen ſeyn, daß es viel- mehr ſelbſt der Vollzieher des komiſchen Prozeſſes iſt, der an die Stelle des tragiſchen tritt. 1. In der Lehre vom Erhabenen trat, nachdem das Erhabene des Subjects bis zur ſittlichen Größe geführt war, ſofort das Tragiſche ein. Hier nun wurde ſogleich die Anerkennung von Seiten des tragiſchen Sub- jects gefordert, daß es ſeine Größe nicht ſich, ſondern dem Abſoluten ver- danke; aber erſt im Leiden konnte das volle Bewußtſeyn dieſes Verhält- niſſes in demſelben ſich entwickeln und es ſich dadurch von ſeiner Schuld reinigen (vergl. z. B. §. 126). Es konnte aber dort nicht die Aufgabe ſeyn, die beſondere Form der Religion, welche dieſes Bewußtſeyn annimmt, hereinzuziehen. Denn für’s Erſte war dort überhaupt darum nicht der Ort, auf dieſes Gebiet einzugehen, weil das Schauſpiel des Leidens und Untergangs dem Intereſſe für die beſonderen Bildungsformen, welche die Erhebung des Gemüths zum Abſoluten als Religion annimmt, gar keinen Raum geſtattete; zweitens treten durch dieſe beſonderen Formen Irrthümer ein, welche ſelbſt wieder nicht ohne Schuld ſind, und dieſe Einführung einer neuen Schuld hätte dort den ganzen Zuſammenhang verrückt. Im Komiſchen iſt es anders; hier gehört die Religion um der Trübungen willen, die ihr Gehalt durch ſeine ſubjective Beſtimmtheit erleidet, noch zu dem Erhabenen des Subjects, das durch die Einzelheit, womit es be- Viſcher’s Aeſthetik. 1. Bd. 24

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 369. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/383>, abgerufen am 19.04.2024.