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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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Eigentlich findet hier nichts Anderes Statt, als was in §. 155 von
allem Komischen gesetzt wurde: es kann auch vom Kleinen beginnen und
dieses zum scheinbar Erhabenen steigern; aber der Rückblick dreht dies um:
ein Erhabenes sollte werden, aber es sprang ein Kleines heraus. Der zweite
Unterschied zwischen dem komischen und dem ernsten Bilde ist die Zweck-
widrigkeit des ersteren, welche aus dem tiefen Rückgriffe, den es thut,
von selber folgt. Diesen Punkt hat J. Paul (a. a. O. §. 49--51)
ganz vergessen. Man muß das Gefühl haben: wie kann Einem nur so
etwas ganz verwünscht Fremdes einfallen! aber in demselben Momente
muß mitten unter lauter weit abweichenden Eigenschaften im Bilde der
Blitz des Vergleichungspunktes hervorspringen. So der bekannte Volkswitz
über einen Verdrießlichen: er macht ein Gesicht wie ein Hausknecht, der
zehn Jahre kein Trinkgeld bekommen hat. Das Volk tritt hier, wie
wieder die vollere Sinnlichkeit in das Komische eintritt, mit dem vollsten
Berufe hervor. Das Seyn und Zuhauseseyn in den Dingen, das
Schauen und Kennen des sinnlich Einzelnen wird wieder nöthig wie in
der Posse. Aber der Unterschied von dieser bleibt; der Witz ist geisti-
ger, weil er das Doppelte, den Bruch und die scharfe Spitze der
Bedeutung hat, aber ästhetisch schwächer, weil das ästhetische Mittel,
wiewohl jetzt ein volles Sinnliches und nicht mehr blos in dem ahnenden
Ergreifen bestehend wie in §. 193, der Bedeutung unselbständig dient.

§. 200.

Dies unselbständige Sinnliche kann sich jedoch erweitern zu der Vorstellung
eines erfüllten Ganzen, das auch ausser dieser Verbindung komisch wäre, und
die innere Anschauung kann sich am Bilde weiden ganz abgesehen von seiner
Anwendung. Diesem Verweilen gibt der Witz selbst Vorschub, indem er das
Bild weiter ausmalt, als jene es fordern würde, und so wird das Treffen des
Gegenstandes wieder erläßlich. Zu weit aber darf der Witz sein Bild nicht
ausdehnen, ohne doch daran zu erinnern, daß es den Zweck des Treffens hatte
und ihn nun entweder verliert oder nur gewaltsam festhält, wo dann im letzteren
Falle das Bild selbst auch als solches eine Störung des Zusammenhangs durch
unvermerkte Vertauschung mit einem andern erleidet. Dadurch entsteht eigentlich
eine Reihe verschiedener Bilder und es kommt der Hauptmangel des Witzes zu
Tage, daß er nämlich nur punktuell ist. So sucht er nun überhaupt die man-
gelnde Qualität, das äußerliche Verhältniß zwischen Form und Inhalt, durch
die Quantität wechselnder Bilderwitze zu ersetzen.


Eigentlich findet hier nichts Anderes Statt, als was in §. 155 von
allem Komiſchen geſetzt wurde: es kann auch vom Kleinen beginnen und
dieſes zum ſcheinbar Erhabenen ſteigern; aber der Rückblick dreht dies um:
ein Erhabenes ſollte werden, aber es ſprang ein Kleines heraus. Der zweite
Unterſchied zwiſchen dem komiſchen und dem ernſten Bilde iſt die Zweck-
widrigkeit des erſteren, welche aus dem tiefen Rückgriffe, den es thut,
von ſelber folgt. Dieſen Punkt hat J. Paul (a. a. O. §. 49—51)
ganz vergeſſen. Man muß das Gefühl haben: wie kann Einem nur ſo
etwas ganz verwünſcht Fremdes einfallen! aber in demſelben Momente
muß mitten unter lauter weit abweichenden Eigenſchaften im Bilde der
Blitz des Vergleichungspunktes hervorſpringen. So der bekannte Volkswitz
über einen Verdrießlichen: er macht ein Geſicht wie ein Hausknecht, der
zehn Jahre kein Trinkgeld bekommen hat. Das Volk tritt hier, wie
wieder die vollere Sinnlichkeit in das Komiſche eintritt, mit dem vollſten
Berufe hervor. Das Seyn und Zuhauſeſeyn in den Dingen, das
Schauen und Kennen des ſinnlich Einzelnen wird wieder nöthig wie in
der Poſſe. Aber der Unterſchied von dieſer bleibt; der Witz iſt geiſti-
ger, weil er das Doppelte, den Bruch und die ſcharfe Spitze der
Bedeutung hat, aber äſthetiſch ſchwächer, weil das äſthetiſche Mittel,
wiewohl jetzt ein volles Sinnliches und nicht mehr blos in dem ahnenden
Ergreifen beſtehend wie in §. 193, der Bedeutung unſelbſtändig dient.

§. 200.

Dies unſelbſtändige Sinnliche kann ſich jedoch erweitern zu der Vorſtellung
eines erfüllten Ganzen, das auch auſſer dieſer Verbindung komiſch wäre, und
die innere Anſchauung kann ſich am Bilde weiden ganz abgeſehen von ſeiner
Anwendung. Dieſem Verweilen gibt der Witz ſelbſt Vorſchub, indem er das
Bild weiter ausmalt, als jene es fordern würde, und ſo wird das Treffen des
Gegenſtandes wieder erläßlich. Zu weit aber darf der Witz ſein Bild nicht
ausdehnen, ohne doch daran zu erinnern, daß es den Zweck des Treffens hatte
und ihn nun entweder verliert oder nur gewaltſam feſthält, wo dann im letzteren
Falle das Bild ſelbſt auch als ſolches eine Störung des Zuſammenhangs durch
unvermerkte Vertauſchung mit einem andern erleidet. Dadurch entſteht eigentlich
eine Reihe verſchiedener Bilder und es kommt der Hauptmangel des Witzes zu
Tage, daß er nämlich nur punktuell iſt. So ſucht er nun überhaupt die man-
gelnde Qualität, das äußerliche Verhältniß zwiſchen Form und Inhalt, durch
die Quantität wechſelnder Bilderwitze zu erſetzen.


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[434/0448] Eigentlich findet hier nichts Anderes Statt, als was in §. 155 von allem Komiſchen geſetzt wurde: es kann auch vom Kleinen beginnen und dieſes zum ſcheinbar Erhabenen ſteigern; aber der Rückblick dreht dies um: ein Erhabenes ſollte werden, aber es ſprang ein Kleines heraus. Der zweite Unterſchied zwiſchen dem komiſchen und dem ernſten Bilde iſt die Zweck- widrigkeit des erſteren, welche aus dem tiefen Rückgriffe, den es thut, von ſelber folgt. Dieſen Punkt hat J. Paul (a. a. O. §. 49—51) ganz vergeſſen. Man muß das Gefühl haben: wie kann Einem nur ſo etwas ganz verwünſcht Fremdes einfallen! aber in demſelben Momente muß mitten unter lauter weit abweichenden Eigenſchaften im Bilde der Blitz des Vergleichungspunktes hervorſpringen. So der bekannte Volkswitz über einen Verdrießlichen: er macht ein Geſicht wie ein Hausknecht, der zehn Jahre kein Trinkgeld bekommen hat. Das Volk tritt hier, wie wieder die vollere Sinnlichkeit in das Komiſche eintritt, mit dem vollſten Berufe hervor. Das Seyn und Zuhauſeſeyn in den Dingen, das Schauen und Kennen des ſinnlich Einzelnen wird wieder nöthig wie in der Poſſe. Aber der Unterſchied von dieſer bleibt; der Witz iſt geiſti- ger, weil er das Doppelte, den Bruch und die ſcharfe Spitze der Bedeutung hat, aber äſthetiſch ſchwächer, weil das äſthetiſche Mittel, wiewohl jetzt ein volles Sinnliches und nicht mehr blos in dem ahnenden Ergreifen beſtehend wie in §. 193, der Bedeutung unſelbſtändig dient. §. 200. Dies unſelbſtändige Sinnliche kann ſich jedoch erweitern zu der Vorſtellung eines erfüllten Ganzen, das auch auſſer dieſer Verbindung komiſch wäre, und die innere Anſchauung kann ſich am Bilde weiden ganz abgeſehen von ſeiner Anwendung. Dieſem Verweilen gibt der Witz ſelbſt Vorſchub, indem er das Bild weiter ausmalt, als jene es fordern würde, und ſo wird das Treffen des Gegenſtandes wieder erläßlich. Zu weit aber darf der Witz ſein Bild nicht ausdehnen, ohne doch daran zu erinnern, daß es den Zweck des Treffens hatte und ihn nun entweder verliert oder nur gewaltſam feſthält, wo dann im letzteren Falle das Bild ſelbſt auch als ſolches eine Störung des Zuſammenhangs durch unvermerkte Vertauſchung mit einem andern erleidet. Dadurch entſteht eigentlich eine Reihe verſchiedener Bilder und es kommt der Hauptmangel des Witzes zu Tage, daß er nämlich nur punktuell iſt. So ſucht er nun überhaupt die man- gelnde Qualität, das äußerliche Verhältniß zwiſchen Form und Inhalt, durch die Quantität wechſelnder Bilderwitze zu erſetzen.

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 434. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/448>, abgerufen am 28.03.2024.