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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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keineswegs genöthigt, ihre Gründung aufzuschieben, bis aller Stoff gesammelt
ist; vielmehr entsteht sie mit Nothwendigkeit, sobald die Erfahrung selbst in
einer gegebenen Masse von Stoff das Gesetz zu suchen und zum zusammenhän-
genden Denken aufzusteigen befähigt und getrieben ist; durch die zweite Seite
ist die Erfahrungswissenschaft nicht an die philosophische gebunden, sondern be-
steht frei neben ihr. So steht der Aesthetik die Kunstgeschichte zur Seite.

Die Einleitung hat, nachdem sie von der Stellung der Aesthetik zu
den umgebenden Wissenschaften gehandelt, noch ein Verhältniß zweier,
wie es scheint, verschiedenartiger Bestandtheile innerhalb der vorliegenden
Wissenschaft selbst, dem stoffartigen nämlich und dem speculativen, in's
Auge faßen. Der §. geht zu diesem Zwecke von der allgemeinen Pa-
rallele aus, welche sich durch das ganze System der philosophischen Wissen-
schaften hindurchzieht; wie der Aesthetik die Kunstgeschichte, so steht der
Naturphilosophie die Naturgeschichte, der Lehre vom subjectiven Geist
die empirisch sammelnde Anthropologie und Psychologie, Sprachwissenschaft
u. s. w., der Lehre vom objectiven Geiste das positive Recht, die Ver-
waltungswissenschaft, die Geschichte, der Lehre von der Religion die
Theologie, der Philosophie selbst die Geschichte der Philosophie zur Seite.
Das Verhältniß zwischen der philosophischen und empirischen Behandlung
eines Gegenstandes faßt der §. zunächst nur als ein historisch gegebenes
Wechselverhältniß. Daß und warum der ganze Gegensatz nur ein relativer
ist, davon berührt der folgende §. den objectiven Grund. Es wäre
aber längst an der Zeit, den ganzen Gegensatz auch nach der subjectiven
Seite gründlich zu prüfen und den Uebermuth sowohl der Empiriker als
der abstracten Philosophen zurückzuweisen. Es wäre darzuthun, daß es
genau genommen gar keine blose Empirie gibt, es wäre zu zeigen, wie
dem erfahrungsmäßigen Vorfinden der Gedanke, wenn auch nur als Instinct
des Suchens und Findens, schon vorausgeht, dem Beobachten wesentlich
involvirt ist und ebendaher als Resultat desselben hervortritt. Es wäre
umgekehrt darzuthun, z. B. an dem Exempel der speculativen Theologie
der älteren Hegel'schen Schule, wie die Philosophie sich verirrt, wenn
sie gewisse Resultate der geschichtlichen Prüfung nicht abwartet oder aus
Geringschätzung der kritischen Empirie nicht aufsucht. Daß überhaupt
jede philosophische Wissenschaft die Erfahrung, die Ansammlung des von
ihr zu durchdringenden Stoffes als bis zu einem gewissen Punkte ge-
langt voraussetzt, wiewohl sie diesen Ausgangspunkt, sowie sie entsteht,
aufhebt, ist durch die neuere Philosophie gehörig nachgewiesen. Vergl.

keineswegs genöthigt, ihre Gründung aufzuſchieben, bis aller Stoff geſammelt
iſt; vielmehr entſteht ſie mit Nothwendigkeit, ſobald die Erfahrung ſelbſt in
einer gegebenen Maſſe von Stoff das Geſetz zu ſuchen und zum zuſammenhän-
genden Denken aufzuſteigen befähigt und getrieben iſt; durch die zweite Seite
iſt die Erfahrungswiſſenſchaft nicht an die philoſophiſche gebunden, ſondern be-
ſteht frei neben ihr. So ſteht der Aeſthetik die Kunſtgeſchichte zur Seite.

Die Einleitung hat, nachdem ſie von der Stellung der Aeſthetik zu
den umgebenden Wiſſenſchaften gehandelt, noch ein Verhältniß zweier,
wie es ſcheint, verſchiedenartiger Beſtandtheile innerhalb der vorliegenden
Wiſſenſchaft ſelbſt, dem ſtoffartigen nämlich und dem ſpeculativen, in’s
Auge faßen. Der §. geht zu dieſem Zwecke von der allgemeinen Pa-
rallele aus, welche ſich durch das ganze Syſtem der philoſophiſchen Wiſſen-
ſchaften hindurchzieht; wie der Aeſthetik die Kunſtgeſchichte, ſo ſteht der
Naturphiloſophie die Naturgeſchichte, der Lehre vom ſubjectiven Geiſt
die empiriſch ſammelnde Anthropologie und Pſychologie, Sprachwiſſenſchaft
u. ſ. w., der Lehre vom objectiven Geiſte das poſitive Recht, die Ver-
waltungswiſſenſchaft, die Geſchichte, der Lehre von der Religion die
Theologie, der Philoſophie ſelbſt die Geſchichte der Philoſophie zur Seite.
Das Verhältniß zwiſchen der philoſophiſchen und empiriſchen Behandlung
eines Gegenſtandes faßt der §. zunächſt nur als ein hiſtoriſch gegebenes
Wechſelverhältniß. Daß und warum der ganze Gegenſatz nur ein relativer
iſt, davon berührt der folgende §. den objectiven Grund. Es wäre
aber längſt an der Zeit, den ganzen Gegenſatz auch nach der ſubjectiven
Seite gründlich zu prüfen und den Uebermuth ſowohl der Empiriker als
der abſtracten Philoſophen zurückzuweiſen. Es wäre darzuthun, daß es
genau genommen gar keine bloſe Empirie gibt, es wäre zu zeigen, wie
dem erfahrungsmäßigen Vorfinden der Gedanke, wenn auch nur als Inſtinct
des Suchens und Findens, ſchon vorausgeht, dem Beobachten weſentlich
involvirt iſt und ebendaher als Reſultat desſelben hervortritt. Es wäre
umgekehrt darzuthun, z. B. an dem Exempel der ſpeculativen Theologie
der älteren Hegel’ſchen Schule, wie die Philoſophie ſich verirrt, wenn
ſie gewiſſe Reſultate der geſchichtlichen Prüfung nicht abwartet oder aus
Geringſchätzung der kritiſchen Empirie nicht aufſucht. Daß überhaupt
jede philoſophiſche Wiſſenſchaft die Erfahrung, die Anſammlung des von
ihr zu durchdringenden Stoffes als bis zu einem gewiſſen Punkte ge-
langt vorausſetzt, wiewohl ſie dieſen Ausgangspunkt, ſowie ſie entſteht,
aufhebt, iſt durch die neuere Philoſophie gehörig nachgewieſen. Vergl.

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[32/0046] keineswegs genöthigt, ihre Gründung aufzuſchieben, bis aller Stoff geſammelt iſt; vielmehr entſteht ſie mit Nothwendigkeit, ſobald die Erfahrung ſelbſt in einer gegebenen Maſſe von Stoff das Geſetz zu ſuchen und zum zuſammenhän- genden Denken aufzuſteigen befähigt und getrieben iſt; durch die zweite Seite iſt die Erfahrungswiſſenſchaft nicht an die philoſophiſche gebunden, ſondern be- ſteht frei neben ihr. So ſteht der Aeſthetik die Kunſtgeſchichte zur Seite. Die Einleitung hat, nachdem ſie von der Stellung der Aeſthetik zu den umgebenden Wiſſenſchaften gehandelt, noch ein Verhältniß zweier, wie es ſcheint, verſchiedenartiger Beſtandtheile innerhalb der vorliegenden Wiſſenſchaft ſelbſt, dem ſtoffartigen nämlich und dem ſpeculativen, in’s Auge faßen. Der §. geht zu dieſem Zwecke von der allgemeinen Pa- rallele aus, welche ſich durch das ganze Syſtem der philoſophiſchen Wiſſen- ſchaften hindurchzieht; wie der Aeſthetik die Kunſtgeſchichte, ſo ſteht der Naturphiloſophie die Naturgeſchichte, der Lehre vom ſubjectiven Geiſt die empiriſch ſammelnde Anthropologie und Pſychologie, Sprachwiſſenſchaft u. ſ. w., der Lehre vom objectiven Geiſte das poſitive Recht, die Ver- waltungswiſſenſchaft, die Geſchichte, der Lehre von der Religion die Theologie, der Philoſophie ſelbſt die Geſchichte der Philoſophie zur Seite. Das Verhältniß zwiſchen der philoſophiſchen und empiriſchen Behandlung eines Gegenſtandes faßt der §. zunächſt nur als ein hiſtoriſch gegebenes Wechſelverhältniß. Daß und warum der ganze Gegenſatz nur ein relativer iſt, davon berührt der folgende §. den objectiven Grund. Es wäre aber längſt an der Zeit, den ganzen Gegenſatz auch nach der ſubjectiven Seite gründlich zu prüfen und den Uebermuth ſowohl der Empiriker als der abſtracten Philoſophen zurückzuweiſen. Es wäre darzuthun, daß es genau genommen gar keine bloſe Empirie gibt, es wäre zu zeigen, wie dem erfahrungsmäßigen Vorfinden der Gedanke, wenn auch nur als Inſtinct des Suchens und Findens, ſchon vorausgeht, dem Beobachten weſentlich involvirt iſt und ebendaher als Reſultat desſelben hervortritt. Es wäre umgekehrt darzuthun, z. B. an dem Exempel der ſpeculativen Theologie der älteren Hegel’ſchen Schule, wie die Philoſophie ſich verirrt, wenn ſie gewiſſe Reſultate der geſchichtlichen Prüfung nicht abwartet oder aus Geringſchätzung der kritiſchen Empirie nicht aufſucht. Daß überhaupt jede philoſophiſche Wiſſenſchaft die Erfahrung, die Anſammlung des von ihr zu durchdringenden Stoffes als bis zu einem gewiſſen Punkte ge- langt vorausſetzt, wiewohl ſie dieſen Ausgangspunkt, ſowie ſie entſteht, aufhebt, iſt durch die neuere Philoſophie gehörig nachgewieſen. Vergl.

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 32. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/46>, abgerufen am 28.03.2024.