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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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Hier ist ein tieferer Mangel, der sich durch J. Pauls ganze
Darstellung hindurchzieht, hervorzuheben. Er nennt die "weltverachtende
Idee" die Widerlage in dieser Form des Komischen, er sagt, der Humor
verlasse den Verstand, um vor der Idee fromm niederzufallen, er ziehe
die Sinnenwelt wie in einem Hohlspiegel eckig und lang auseinander, um
sie gegen die Idee aufzurichten und sie ihr entgegenzuhalten, u. s. w.
Die wahre Meinung ist daher offenbar die, daß die Sinnenwelt, indem
sie in ihrer ganzen Breite auf die Idee als Folie gelegt wird, in ihrer
ganzen Nichtigkeit erscheinen soll. Ebenso faßt, wie wir sahen, Ruge
den Humor. Allein dies wäre vielmehr Satyre, nicht Komik, nicht Humor.
Je mehr sich die Sinnenwelt aufspreizt, desto unfähiger soll sie erscheinen,
die Vernunft in sich zu tragen, welche "wie Gott nicht einmal im größten
Tempel eingeschlossen ist". Der Sinn des Humors ist vielmehr, daß
Gott selbst im kleinsten Tempel, selbst in dem schwachen, eigensinnigen
Menschenherzen sich einzuschließen nicht verschmäht, weil er sich dieser
Einschließung als Einschließung bewußt, daher ebenso über sie hinaus ist.
Diese falsche Erklärung des Humors als Satyre ist selbst in den so geist-
vollen Bildern J. Pauls ausgesprochen: "wie Luther im schlimmen Sinn
unsern Willen eine lex inversa nennt, so ist es der Humor im guten,
und seine Höllenfahrt bahnt ihm die Himmelfahrt. Er gleicht dem Vogel
Merops, welcher zwar dem Himmel den Schwanz gekehrt, aber doch in
dieser Richtung in den Himmel auffliegt. Dieser Gaukler trinkt, auf dem
Kopfe tanzend, den Nectar hinaufwärts" (§. 33). Nun folgen zwar
Stellen, welche entschieden die Berechtigung des Endlichen aussprechen, so
die in §. 209, 1 angeführte, so in §. 33: "wenn der Mensch, wie
die alte Theologie that, aus der überirdischen Welt auf die irdische her-
unterschauet, so zieht diese klein und eitel dahin; wenn er mit der kleinen,
wie der Humor thut, die unendliche ausmisset und verknüpft, so entsteht
jenes Lachen, worin noch ein Schmerz und eine Größe ist"; allein J. Paul
bringt diese Ansichten nicht zusammen, der Schmerz und die Größe bleiben
daher am Ende doch der feste Punkt, das Lachen nur ein Mittel, statt daß
Alles in Ein geistig freies Lachen aufgeht. Auch in Ruges Auffassung
gilt die Endlichkeit zwar ebenso Alles, als nichts, sie ist zwar ebenso
Gefäß des Ewigen, als sündhaft (S. 186), aber diese "Begnadigung"
des Endlichen durch die Liebe kann nicht mehr aufkommen, nachdem von
der Nichtigkeit als dem Grundbegriff ausgegangen ist. Beide nun haben
ferner ganz richtig die Allgemeinheit der Weltverlachung als wesentliches
Merkmal des Humors ausgesprochen, deren Bürgschaft die Selbstver-

Hier iſt ein tieferer Mangel, der ſich durch J. Pauls ganze
Darſtellung hindurchzieht, hervorzuheben. Er nennt die „weltverachtende
Idee“ die Widerlage in dieſer Form des Komiſchen, er ſagt, der Humor
verlaſſe den Verſtand, um vor der Idee fromm niederzufallen, er ziehe
die Sinnenwelt wie in einem Hohlſpiegel eckig und lang auseinander, um
ſie gegen die Idee aufzurichten und ſie ihr entgegenzuhalten, u. ſ. w.
Die wahre Meinung iſt daher offenbar die, daß die Sinnenwelt, indem
ſie in ihrer ganzen Breite auf die Idee als Folie gelegt wird, in ihrer
ganzen Nichtigkeit erſcheinen ſoll. Ebenſo faßt, wie wir ſahen, Ruge
den Humor. Allein dies wäre vielmehr Satyre, nicht Komik, nicht Humor.
Je mehr ſich die Sinnenwelt aufſpreizt, deſto unfähiger ſoll ſie erſcheinen,
die Vernunft in ſich zu tragen, welche „wie Gott nicht einmal im größten
Tempel eingeſchloſſen iſt“. Der Sinn des Humors iſt vielmehr, daß
Gott ſelbſt im kleinſten Tempel, ſelbſt in dem ſchwachen, eigenſinnigen
Menſchenherzen ſich einzuſchließen nicht verſchmäht, weil er ſich dieſer
Einſchließung als Einſchließung bewußt, daher ebenſo über ſie hinaus iſt.
Dieſe falſche Erklärung des Humors als Satyre iſt ſelbſt in den ſo geiſt-
vollen Bildern J. Pauls ausgeſprochen: „wie Luther im ſchlimmen Sinn
unſern Willen eine lex inversa nennt, ſo iſt es der Humor im guten,
und ſeine Höllenfahrt bahnt ihm die Himmelfahrt. Er gleicht dem Vogel
Merops, welcher zwar dem Himmel den Schwanz gekehrt, aber doch in
dieſer Richtung in den Himmel auffliegt. Dieſer Gaukler trinkt, auf dem
Kopfe tanzend, den Nectar hinaufwärts“ (§. 33). Nun folgen zwar
Stellen, welche entſchieden die Berechtigung des Endlichen ausſprechen, ſo
die in §. 209, 1 angeführte, ſo in §. 33: „wenn der Menſch, wie
die alte Theologie that, aus der überirdiſchen Welt auf die irdiſche her-
unterſchauet, ſo zieht dieſe klein und eitel dahin; wenn er mit der kleinen,
wie der Humor thut, die unendliche ausmiſſet und verknüpft, ſo entſteht
jenes Lachen, worin noch ein Schmerz und eine Größe iſt“; allein J. Paul
bringt dieſe Anſichten nicht zuſammen, der Schmerz und die Größe bleiben
daher am Ende doch der feſte Punkt, das Lachen nur ein Mittel, ſtatt daß
Alles in Ein geiſtig freies Lachen aufgeht. Auch in Ruges Auffaſſung
gilt die Endlichkeit zwar ebenſo Alles, als nichts, ſie iſt zwar ebenſo
Gefäß des Ewigen, als ſündhaft (S. 186), aber dieſe „Begnadigung“
des Endlichen durch die Liebe kann nicht mehr aufkommen, nachdem von
der Nichtigkeit als dem Grundbegriff ausgegangen iſt. Beide nun haben
ferner ganz richtig die Allgemeinheit der Weltverlachung als weſentliches
Merkmal des Humors ausgeſprochen, deren Bürgſchaft die Selbſtver-

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[454/0468] Hier iſt ein tieferer Mangel, der ſich durch J. Pauls ganze Darſtellung hindurchzieht, hervorzuheben. Er nennt die „weltverachtende Idee“ die Widerlage in dieſer Form des Komiſchen, er ſagt, der Humor verlaſſe den Verſtand, um vor der Idee fromm niederzufallen, er ziehe die Sinnenwelt wie in einem Hohlſpiegel eckig und lang auseinander, um ſie gegen die Idee aufzurichten und ſie ihr entgegenzuhalten, u. ſ. w. Die wahre Meinung iſt daher offenbar die, daß die Sinnenwelt, indem ſie in ihrer ganzen Breite auf die Idee als Folie gelegt wird, in ihrer ganzen Nichtigkeit erſcheinen ſoll. Ebenſo faßt, wie wir ſahen, Ruge den Humor. Allein dies wäre vielmehr Satyre, nicht Komik, nicht Humor. Je mehr ſich die Sinnenwelt aufſpreizt, deſto unfähiger ſoll ſie erſcheinen, die Vernunft in ſich zu tragen, welche „wie Gott nicht einmal im größten Tempel eingeſchloſſen iſt“. Der Sinn des Humors iſt vielmehr, daß Gott ſelbſt im kleinſten Tempel, ſelbſt in dem ſchwachen, eigenſinnigen Menſchenherzen ſich einzuſchließen nicht verſchmäht, weil er ſich dieſer Einſchließung als Einſchließung bewußt, daher ebenſo über ſie hinaus iſt. Dieſe falſche Erklärung des Humors als Satyre iſt ſelbſt in den ſo geiſt- vollen Bildern J. Pauls ausgeſprochen: „wie Luther im ſchlimmen Sinn unſern Willen eine lex inversa nennt, ſo iſt es der Humor im guten, und ſeine Höllenfahrt bahnt ihm die Himmelfahrt. Er gleicht dem Vogel Merops, welcher zwar dem Himmel den Schwanz gekehrt, aber doch in dieſer Richtung in den Himmel auffliegt. Dieſer Gaukler trinkt, auf dem Kopfe tanzend, den Nectar hinaufwärts“ (§. 33). Nun folgen zwar Stellen, welche entſchieden die Berechtigung des Endlichen ausſprechen, ſo die in §. 209, 1 angeführte, ſo in §. 33: „wenn der Menſch, wie die alte Theologie that, aus der überirdiſchen Welt auf die irdiſche her- unterſchauet, ſo zieht dieſe klein und eitel dahin; wenn er mit der kleinen, wie der Humor thut, die unendliche ausmiſſet und verknüpft, ſo entſteht jenes Lachen, worin noch ein Schmerz und eine Größe iſt“; allein J. Paul bringt dieſe Anſichten nicht zuſammen, der Schmerz und die Größe bleiben daher am Ende doch der feſte Punkt, das Lachen nur ein Mittel, ſtatt daß Alles in Ein geiſtig freies Lachen aufgeht. Auch in Ruges Auffaſſung gilt die Endlichkeit zwar ebenſo Alles, als nichts, ſie iſt zwar ebenſo Gefäß des Ewigen, als ſündhaft (S. 186), aber dieſe „Begnadigung“ des Endlichen durch die Liebe kann nicht mehr aufkommen, nachdem von der Nichtigkeit als dem Grundbegriff ausgegangen iſt. Beide nun haben ferner ganz richtig die Allgemeinheit der Weltverlachung als weſentliches Merkmal des Humors ausgeſprochen, deren Bürgſchaft die Selbſtver-

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 454. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/468>, abgerufen am 24.04.2024.