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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851.

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hatte, eine neue Schule zu gründen, war der Wandertrieb eben der
Drang des Fortschrittes über den bisherigen Meister; man vernimmt, daß
dessen Standpunct überflügelt sei, man sucht den Ort der neuen Fortschritte
auf. Masaccios Fresken in S. Maria del Carmine zu Florenz waren ein
Studirzimmer für die großen Geister, die nachmals die Malerei zu ihrem
Gipfel führten, einen Leonardo da Vinci, Mich. Angelo, einen Raphael, der
aus der Werkstätte seines Meisters zur neuen Hochschule der Malerei,
nach Florenz wanderte. Aber umgekehrt wanderten auch die Meister und
verpflanzten die Fortschritte der Kunst, die sie selbst hervorgerufen, an andere
Orte, wo sich ihnen wieder Schüler anschlossen; so Leonardo da V. nach
Mailand, M. Angelo und Raphael nach Rom. -- Wir haben so drei
Formen der Künstlerschule: Vererbung in Familien, locale Meister-
werkstätte, Aufsuchen auswärtiger berühmter Meister oder Wanderungen
dieser selbst (alle drei Stufen lassen sich ebenso in Griechenland unter-
scheiden vergl. Hermann a. a. O. S. 7. ff.); diese drei Formen stehen
zueinander im Stufenverhältniß der steigenden Lösung der patriarchalischen,
familiären Form und wenn man bedenkt, daß die großen Hauptsitze der
Kunst, die der wandernde Geselle aufsucht, zugleich die Mittelpuncte eines
gereiften wissenschaftlichen Bewußtseins über die Technik sind, so findet
man sich bereits am Uebergang zu einer spezisisch verschiedenen Form
der Kunsterziehung.

§. 522.

Dieser Erziehungsweise steht als reflectirte und abstracte Form die
moderne akademische gegenüber. Unumgänglich in einer Zeit, welche im
vergleichenden Ueberblick einer langen Reihe von Kunstentwicklungen die Regel
zum systematischen Bewußtsein erhoben und mit einem weiten Kreise von Wissen-
schaften in Verbindung gesetzt hat, wirkt sie wohlthätig durch die Gründlichkeit
und Vollständigkeit der Durchbildung, die sie gewährt, so wie in gewissem Maaße
durch den Sporn der Concurrenzen, nachtheilig durch den Mechanismus des
Uniformen, wobei sie doch die Gefahreu einseitiger Einflüsse, die von Einer,
oder verwirrender, die von mehreren verschieden denkenden Persönlichkeiten
ausgehen, nicht vermeidet.

Die Akademieen haben sich bekanntlich zuerst in Italien nach Ablauf
der großen Kunstblüthe im sechzehnten Jahrhundert gleichzeitig mit der
Entstehung des Eklekticismus (namentlich in Bologna) gebildet und es
liegt im Wesen dieser Erziehungsanstalten, daß sie einen relativen Ab-
schluß der Kunst voraussetzen; eine frisch blühende Kunst hätten sie niemals
erfunden, sie sind modern und laufen in Einer Linie mit allen den Er-

hatte, eine neue Schule zu gründen, war der Wandertrieb eben der
Drang des Fortſchrittes über den bisherigen Meiſter; man vernimmt, daß
deſſen Standpunct überflügelt ſei, man ſucht den Ort der neuen Fortſchritte
auf. Maſaccios Fresken in S. Maria del Carmine zu Florenz waren ein
Studirzimmer für die großen Geiſter, die nachmals die Malerei zu ihrem
Gipfel führten, einen Leonardo da Vinci, Mich. Angelo, einen Raphael, der
aus der Werkſtätte ſeines Meiſters zur neuen Hochſchule der Malerei,
nach Florenz wanderte. Aber umgekehrt wanderten auch die Meiſter und
verpflanzten die Fortſchritte der Kunſt, die ſie ſelbſt hervorgerufen, an andere
Orte, wo ſich ihnen wieder Schüler anſchloſſen; ſo Leonardo da V. nach
Mailand, M. Angelo und Raphael nach Rom. — Wir haben ſo drei
Formen der Künſtlerſchule: Vererbung in Familien, locale Meiſter-
werkſtätte, Aufſuchen auswärtiger berühmter Meiſter oder Wanderungen
dieſer ſelbſt (alle drei Stufen laſſen ſich ebenſo in Griechenland unter-
ſcheiden vergl. Hermann a. a. O. S. 7. ff.); dieſe drei Formen ſtehen
zueinander im Stufenverhältniß der ſteigenden Löſung der patriarchaliſchen,
familiären Form und wenn man bedenkt, daß die großen Hauptſitze der
Kunſt, die der wandernde Geſelle aufſucht, zugleich die Mittelpuncte eines
gereiften wiſſenſchaftlichen Bewußtſeins über die Technik ſind, ſo findet
man ſich bereits am Uebergang zu einer ſpeziſiſch verſchiedenen Form
der Kunſterziehung.

§. 522.

Dieſer Erziehungsweiſe ſteht als reflectirte und abſtracte Form die
moderne akademiſche gegenüber. Unumgänglich in einer Zeit, welche im
vergleichenden Ueberblick einer langen Reihe von Kunſtentwicklungen die Regel
zum ſyſtematiſchen Bewußtſein erhoben und mit einem weiten Kreiſe von Wiſſen-
ſchaften in Verbindung geſetzt hat, wirkt ſie wohlthätig durch die Gründlichkeit
und Vollſtändigkeit der Durchbildung, die ſie gewährt, ſo wie in gewiſſem Maaße
durch den Sporn der Concurrenzen, nachtheilig durch den Mechanismus des
Uniformen, wobei ſie doch die Gefahreu einſeitiger Einflüſſe, die von Einer,
oder verwirrender, die von mehreren verſchieden denkenden Perſönlichkeiten
ausgehen, nicht vermeidet.

Die Akademieen haben ſich bekanntlich zuerſt in Italien nach Ablauf
der großen Kunſtblüthe im ſechzehnten Jahrhundert gleichzeitig mit der
Entſtehung des Eklekticismus (namentlich in Bologna) gebildet und es
liegt im Weſen dieſer Erziehungsanſtalten, daß ſie einen relativen Ab-
ſchluß der Kunſt vorausſetzen; eine friſch blühende Kunſt hätten ſie niemals
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[105/0117] hatte, eine neue Schule zu gründen, war der Wandertrieb eben der Drang des Fortſchrittes über den bisherigen Meiſter; man vernimmt, daß deſſen Standpunct überflügelt ſei, man ſucht den Ort der neuen Fortſchritte auf. Maſaccios Fresken in S. Maria del Carmine zu Florenz waren ein Studirzimmer für die großen Geiſter, die nachmals die Malerei zu ihrem Gipfel führten, einen Leonardo da Vinci, Mich. Angelo, einen Raphael, der aus der Werkſtätte ſeines Meiſters zur neuen Hochſchule der Malerei, nach Florenz wanderte. Aber umgekehrt wanderten auch die Meiſter und verpflanzten die Fortſchritte der Kunſt, die ſie ſelbſt hervorgerufen, an andere Orte, wo ſich ihnen wieder Schüler anſchloſſen; ſo Leonardo da V. nach Mailand, M. Angelo und Raphael nach Rom. — Wir haben ſo drei Formen der Künſtlerſchule: Vererbung in Familien, locale Meiſter- werkſtätte, Aufſuchen auswärtiger berühmter Meiſter oder Wanderungen dieſer ſelbſt (alle drei Stufen laſſen ſich ebenſo in Griechenland unter- ſcheiden vergl. Hermann a. a. O. S. 7. ff.); dieſe drei Formen ſtehen zueinander im Stufenverhältniß der ſteigenden Löſung der patriarchaliſchen, familiären Form und wenn man bedenkt, daß die großen Hauptſitze der Kunſt, die der wandernde Geſelle aufſucht, zugleich die Mittelpuncte eines gereiften wiſſenſchaftlichen Bewußtſeins über die Technik ſind, ſo findet man ſich bereits am Uebergang zu einer ſpeziſiſch verſchiedenen Form der Kunſterziehung. §. 522. Dieſer Erziehungsweiſe ſteht als reflectirte und abſtracte Form die moderne akademiſche gegenüber. Unumgänglich in einer Zeit, welche im vergleichenden Ueberblick einer langen Reihe von Kunſtentwicklungen die Regel zum ſyſtematiſchen Bewußtſein erhoben und mit einem weiten Kreiſe von Wiſſen- ſchaften in Verbindung geſetzt hat, wirkt ſie wohlthätig durch die Gründlichkeit und Vollſtändigkeit der Durchbildung, die ſie gewährt, ſo wie in gewiſſem Maaße durch den Sporn der Concurrenzen, nachtheilig durch den Mechanismus des Uniformen, wobei ſie doch die Gefahreu einſeitiger Einflüſſe, die von Einer, oder verwirrender, die von mehreren verſchieden denkenden Perſönlichkeiten ausgehen, nicht vermeidet. Die Akademieen haben ſich bekanntlich zuerſt in Italien nach Ablauf der großen Kunſtblüthe im ſechzehnten Jahrhundert gleichzeitig mit der Entſtehung des Eklekticismus (namentlich in Bologna) gebildet und es liegt im Weſen dieſer Erziehungsanſtalten, daß ſie einen relativen Ab- ſchluß der Kunſt vorausſetzen; eine friſch blühende Kunſt hätten ſie niemals erfunden, ſie ſind modern und laufen in Einer Linie mit allen den Er-

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851, S. 105. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0301_1851/117>, abgerufen am 29.03.2024.