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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851.

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§. 527.

Die Einheit der, obwohl innerhalb der Grenzen einer gewissen Auffassung,
mächtigen und weiten Subjectivität mit der vollendeten Technik ist die höchste
und letzte Stufe oder die wahre Meisterschaft. Diese Subjectivität durch-
dringt den Gegenstand und sich mit ihm, scheidet alles Unbestimmte, Gedrückte,
Kleine und Gemeine von dem Wesentlichen aus und legt die der Großheit
ihrer Anschauung entsprechenden, in festem Rhythmus schwungvoll bewegten,
durch ihren über den Wechsel des Augenblicks erhabenen Charakter monumen-
talen Formen in der schöpferisch umgebildeten Technik nieder. Die Technik
als habitueller Ausdruck dieser objectiven Gewalt des Genius oder das Ideale,
wie es in der technischen Gewöhnung erscheint, heißt Styl.

Wenn man die Technik nur als eine von der Durchdringung mit
der schaffenden Phantasie relativ trennbare und die Vollkommenheit der-
selben gegenüber den noch Ungeübten, noch Lernenden im Auge hat, heißt
auch der bloße Virtuos und der auf Manier Beschränkte ein Meister.
Im intensiven Sinne des Worts aber kann Meisterschaft nur die Stufe
bezeichnen, wo das Meiste, das Höchste erreicht ist und dieß ist eine vom
wahren Genius durchdrungene Technik. Der Meister in diesem vollen
Sinne des Worts schafft eine neue Technik (vergl. Anm. zu §. 491),
er ist also vor Allem mehr, als Virtuos; diese neue Technik drückt aber
mehr aus, als eine bloß subjective Auffassung, denn sonst ist sie streng
genommen nicht werth, überliefert d. h. allgemein gemacht zu werden,
da nur das Wahre, das Objective auch das wahrhaft Allgemeine ist;
daher heißt auch der Künstler, der nur Manier verbreitet, nur im unge-
naueren Sprachgebrauche Meister. Ebenso intensiv, wie das Wort
Meister, wird nun hier auch der Ausdruck Styl genommen. Nach dem
beliebten Satze le style c'est l'homme meme hat Jeder Styl, der in
seiner Technik irgend eine Individualität bleibend ausdrückt; da wird
Styl genommen, wie das Wort Charakter, wenn man nur formell das
Moment der Gleichmäßigkeit, und wäre es die Gleichmäßigkeit des Un-
gleichmäßigen, im Auge hat (vergl. zu §. 333); dann gibt es auch einen
schlechten Styl, dann kann man von einem Styl Kotzebues reden. Wir
nehmen aber das Wort hier absolut, in dem Sinne, den man damit
verbindet, wenn man schlechtweg sagt: er hat Styl, oder: das ist (nicht
bloße Manier, sondern) Styl, ebenso, wie man sagt: er ist ein Charak-
ter, das ist Charakter. Wenn man also herkömmlich einen objectiven und
subjectiven Styl unterscheidet, so werfen wir den subjectiven Styl zurück
zur bloßen Manier. Alle anderen Unterscheidungen, die man aufzuführen
pflegt, gehen entweder schon auf die historische Bedeutung des Stylbe-

§. 527.

Die Einheit der, obwohl innerhalb der Grenzen einer gewiſſen Auffaſſung,
mächtigen und weiten Subjectivität mit der vollendeten Technik iſt die höchſte
und letzte Stufe oder die wahre Meiſterſchaft. Dieſe Subjectivität durch-
dringt den Gegenſtand und ſich mit ihm, ſcheidet alles Unbeſtimmte, Gedrückte,
Kleine und Gemeine von dem Weſentlichen aus und legt die der Großheit
ihrer Anſchauung entſprechenden, in feſtem Rhythmus ſchwungvoll bewegten,
durch ihren über den Wechſel des Augenblicks erhabenen Charakter monumen-
talen Formen in der ſchöpferiſch umgebildeten Technik nieder. Die Technik
als habitueller Ausdruck dieſer objectiven Gewalt des Genius oder das Ideale,
wie es in der techniſchen Gewöhnung erſcheint, heißt Styl.

Wenn man die Technik nur als eine von der Durchdringung mit
der ſchaffenden Phantaſie relativ trennbare und die Vollkommenheit der-
ſelben gegenüber den noch Ungeübten, noch Lernenden im Auge hat, heißt
auch der bloße Virtuos und der auf Manier Beſchränkte ein Meiſter.
Im intenſiven Sinne des Worts aber kann Meiſterſchaft nur die Stufe
bezeichnen, wo das Meiſte, das Höchſte erreicht iſt und dieß iſt eine vom
wahren Genius durchdrungene Technik. Der Meiſter in dieſem vollen
Sinne des Worts ſchafft eine neue Technik (vergl. Anm. zu §. 491),
er iſt alſo vor Allem mehr, als Virtuos; dieſe neue Technik drückt aber
mehr aus, als eine bloß ſubjective Auffaſſung, denn ſonſt iſt ſie ſtreng
genommen nicht werth, überliefert d. h. allgemein gemacht zu werden,
da nur das Wahre, das Objective auch das wahrhaft Allgemeine iſt;
daher heißt auch der Künſtler, der nur Manier verbreitet, nur im unge-
naueren Sprachgebrauche Meiſter. Ebenſo intenſiv, wie das Wort
Meiſter, wird nun hier auch der Ausdruck Styl genommen. Nach dem
beliebten Satze le style c’est l’homme même hat Jeder Styl, der in
ſeiner Technik irgend eine Individualität bleibend ausdrückt; da wird
Styl genommen, wie das Wort Charakter, wenn man nur formell das
Moment der Gleichmäßigkeit, und wäre es die Gleichmäßigkeit des Un-
gleichmäßigen, im Auge hat (vergl. zu §. 333); dann gibt es auch einen
ſchlechten Styl, dann kann man von einem Styl Kotzebues reden. Wir
nehmen aber das Wort hier abſolut, in dem Sinne, den man damit
verbindet, wenn man ſchlechtweg ſagt: er hat Styl, oder: das iſt (nicht
bloße Manier, ſondern) Styl, ebenſo, wie man ſagt: er iſt ein Charak-
ter, das iſt Charakter. Wenn man alſo herkömmlich einen objectiven und
ſubjectiven Styl unterſcheidet, ſo werfen wir den ſubjectiven Styl zurück
zur bloßen Manier. Alle anderen Unterſcheidungen, die man aufzuführen
pflegt, gehen entweder ſchon auf die hiſtoriſche Bedeutung des Stylbe-

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[122/0134] §. 527. Die Einheit der, obwohl innerhalb der Grenzen einer gewiſſen Auffaſſung, mächtigen und weiten Subjectivität mit der vollendeten Technik iſt die höchſte und letzte Stufe oder die wahre Meiſterſchaft. Dieſe Subjectivität durch- dringt den Gegenſtand und ſich mit ihm, ſcheidet alles Unbeſtimmte, Gedrückte, Kleine und Gemeine von dem Weſentlichen aus und legt die der Großheit ihrer Anſchauung entſprechenden, in feſtem Rhythmus ſchwungvoll bewegten, durch ihren über den Wechſel des Augenblicks erhabenen Charakter monumen- talen Formen in der ſchöpferiſch umgebildeten Technik nieder. Die Technik als habitueller Ausdruck dieſer objectiven Gewalt des Genius oder das Ideale, wie es in der techniſchen Gewöhnung erſcheint, heißt Styl. Wenn man die Technik nur als eine von der Durchdringung mit der ſchaffenden Phantaſie relativ trennbare und die Vollkommenheit der- ſelben gegenüber den noch Ungeübten, noch Lernenden im Auge hat, heißt auch der bloße Virtuos und der auf Manier Beſchränkte ein Meiſter. Im intenſiven Sinne des Worts aber kann Meiſterſchaft nur die Stufe bezeichnen, wo das Meiſte, das Höchſte erreicht iſt und dieß iſt eine vom wahren Genius durchdrungene Technik. Der Meiſter in dieſem vollen Sinne des Worts ſchafft eine neue Technik (vergl. Anm. zu §. 491), er iſt alſo vor Allem mehr, als Virtuos; dieſe neue Technik drückt aber mehr aus, als eine bloß ſubjective Auffaſſung, denn ſonſt iſt ſie ſtreng genommen nicht werth, überliefert d. h. allgemein gemacht zu werden, da nur das Wahre, das Objective auch das wahrhaft Allgemeine iſt; daher heißt auch der Künſtler, der nur Manier verbreitet, nur im unge- naueren Sprachgebrauche Meiſter. Ebenſo intenſiv, wie das Wort Meiſter, wird nun hier auch der Ausdruck Styl genommen. Nach dem beliebten Satze le style c’est l’homme même hat Jeder Styl, der in ſeiner Technik irgend eine Individualität bleibend ausdrückt; da wird Styl genommen, wie das Wort Charakter, wenn man nur formell das Moment der Gleichmäßigkeit, und wäre es die Gleichmäßigkeit des Un- gleichmäßigen, im Auge hat (vergl. zu §. 333); dann gibt es auch einen ſchlechten Styl, dann kann man von einem Styl Kotzebues reden. Wir nehmen aber das Wort hier abſolut, in dem Sinne, den man damit verbindet, wenn man ſchlechtweg ſagt: er hat Styl, oder: das iſt (nicht bloße Manier, ſondern) Styl, ebenſo, wie man ſagt: er iſt ein Charak- ter, das iſt Charakter. Wenn man alſo herkömmlich einen objectiven und ſubjectiven Styl unterſcheidet, ſo werfen wir den ſubjectiven Styl zurück zur bloßen Manier. Alle anderen Unterſcheidungen, die man aufzuführen pflegt, gehen entweder ſchon auf die hiſtoriſche Bedeutung des Stylbe-

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851, S. 122. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0301_1851/134>, abgerufen am 28.03.2024.