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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851.

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Undurchdrungene, massenhaft Ausgebreitete, Sachliche für den dramatischen
Dichter, was der Naturstoff für die Phantasie überhaupt hat; schon das
griechische Drama ruht auf dem griechischen Epos, Shakespeares Quellen
sind Erzählungen (sagenhafte Chroniken, Novellen). -- Somit sehen wir
überhaupt das Verhältniß zwischen dem Naturschönen und der Phantasie
wiederkehren: die Stoffwelt ist erweitert durch ein künstlerisch Geschaffenes,
das noch einmal zum bloßen Stoff herabgesetzt wird, wie sie schon durch
Mythus und Sage erweitert ist (§. 417. 418. 427. 428.); aber der
Unterschied ist, daß nun das eigentlich Naturschöne sammt Mythus und
Sage, durch neue Erfindungen bereichert und umgebildet von einer Kunst,
Stoff einer andern wird. Die Kunst, die sich in dieß Verhältniß zu einer
andern stellt, hat jedoch an dem Stoffe, der schon Form geworden, eben-
soviel Selbstthätigkeit, vielleicht mehr zu entwickeln, um ihn noch einmal
zum bloßen Stoff herabzusetzen, als an dem reinen Stoffe.

§. 544.

Diese innere Einheit und Wechselbeziehung hebt die spezifische Selb-1
ständigkeit der Künste nicht auf. Es kann nur Eine rein ästhetische Verbindung
von zwei Künsten geben, nämlich die von Poesie und Musik; alle andern Ver-
bindungen sind entweder berechtigt, aber durch Beiziehung lebendigen Stoffes
(vergl. §. 490) nicht rein ästhetisch, oder sie sind Fehler. Dagegen suchen die2
Künste sich äußerlich aneinander anzulehnen und so die große Wirkung ihrer ver-
einten Kräfte hervorzubringen. Dieß ist so wesentlich, daß alle Künste nur in
dieser Verbindung wahrhaft leben; die Composition (§. 494--501) und der
Umfang des Stoffs (§. 540, 1.) wird dadurch wesentlich bestimmt, ryklische
Entfaltungen hervorzurufen. Durch die Vermittlung einer nicht streng ästhetischen3
Kunstform entsteht eine höchste Vereinigung aller Künste, worin die Poesie den
Mittelpunct bildet.

1. Unter Verbindung zweiter Künste ist nicht bloß eine Uebertragung
des Styls (vergl. §. 532), sondern eine Vereinigung der vollen Wirkung
derselben mit ihrem ganzen Material verstanden, welche schlechthin den
Eindruck Eines Kunstwerks machen will, wie die schon im historischen Zu-
sammenhang (zu §. 541) angeführte eines Werks der Plastik mit allen
Mitteln der Farbe (nicht bloßer Farben-Andeutung). Man hat die Ma-
lerei mit der Wirkung der Poesie in Verbindung zu setzen gesucht, indem
man einen Schein wirklicher Bewegung in die Bilder brachte, ja die Musik
noch dazu gezogen, indem man z. B. zur Aufführung von Haydns
Schöpfung Sonne und Mond aufsteigen ließ, bewegtes Meer darstellte
u. s. f. Dieß ist lauter Unnatur, denn die Künste sind spezifische Orga-

Undurchdrungene, maſſenhaft Ausgebreitete, Sachliche für den dramatiſchen
Dichter, was der Naturſtoff für die Phantaſie überhaupt hat; ſchon das
griechiſche Drama ruht auf dem griechiſchen Epos, Shakespeares Quellen
ſind Erzählungen (ſagenhafte Chroniken, Novellen). — Somit ſehen wir
überhaupt das Verhältniß zwiſchen dem Naturſchönen und der Phantaſie
wiederkehren: die Stoffwelt iſt erweitert durch ein künſtleriſch Geſchaffenes,
das noch einmal zum bloßen Stoff herabgeſetzt wird, wie ſie ſchon durch
Mythus und Sage erweitert iſt (§. 417. 418. 427. 428.); aber der
Unterſchied iſt, daß nun das eigentlich Naturſchöne ſammt Mythus und
Sage, durch neue Erfindungen bereichert und umgebildet von einer Kunſt,
Stoff einer andern wird. Die Kunſt, die ſich in dieß Verhältniß zu einer
andern ſtellt, hat jedoch an dem Stoffe, der ſchon Form geworden, eben-
ſoviel Selbſtthätigkeit, vielleicht mehr zu entwickeln, um ihn noch einmal
zum bloßen Stoff herabzuſetzen, als an dem reinen Stoffe.

§. 544.

Dieſe innere Einheit und Wechſelbeziehung hebt die ſpezifiſche Selb-1
ſtändigkeit der Künſte nicht auf. Es kann nur Eine rein äſthetiſche Verbindung
von zwei Künſten geben, nämlich die von Poeſie und Muſik; alle andern Ver-
bindungen ſind entweder berechtigt, aber durch Beiziehung lebendigen Stoffes
(vergl. §. 490) nicht rein äſthetiſch, oder ſie ſind Fehler. Dagegen ſuchen die2
Künſte ſich äußerlich aneinander anzulehnen und ſo die große Wirkung ihrer ver-
einten Kräfte hervorzubringen. Dieß iſt ſo weſentlich, daß alle Künſte nur in
dieſer Verbindung wahrhaft leben; die Compoſition (§. 494—501) und der
Umfang des Stoffs (§. 540, 1.) wird dadurch weſentlich beſtimmt, rykliſche
Entfaltungen hervorzurufen. Durch die Vermittlung einer nicht ſtreng äſthetiſchen3
Kunſtform entſteht eine höchſte Vereinigung aller Künſte, worin die Poeſie den
Mittelpunct bildet.

1. Unter Verbindung zweiter Künſte iſt nicht bloß eine Uebertragung
des Styls (vergl. §. 532), ſondern eine Vereinigung der vollen Wirkung
derſelben mit ihrem ganzen Material verſtanden, welche ſchlechthin den
Eindruck Eines Kunſtwerks machen will, wie die ſchon im hiſtoriſchen Zu-
ſammenhang (zu §. 541) angeführte eines Werks der Plaſtik mit allen
Mitteln der Farbe (nicht bloßer Farben-Andeutung). Man hat die Ma-
lerei mit der Wirkung der Poeſie in Verbindung zu ſetzen geſucht, indem
man einen Schein wirklicher Bewegung in die Bilder brachte, ja die Muſik
noch dazu gezogen, indem man z. B. zur Aufführung von Haydns
Schöpfung Sonne und Mond aufſteigen ließ, bewegtes Meer darſtellte
u. ſ. f. Dieß iſt lauter Unnatur, denn die Künſte ſind ſpezifiſche Orga-

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[165/0177] Undurchdrungene, maſſenhaft Ausgebreitete, Sachliche für den dramatiſchen Dichter, was der Naturſtoff für die Phantaſie überhaupt hat; ſchon das griechiſche Drama ruht auf dem griechiſchen Epos, Shakespeares Quellen ſind Erzählungen (ſagenhafte Chroniken, Novellen). — Somit ſehen wir überhaupt das Verhältniß zwiſchen dem Naturſchönen und der Phantaſie wiederkehren: die Stoffwelt iſt erweitert durch ein künſtleriſch Geſchaffenes, das noch einmal zum bloßen Stoff herabgeſetzt wird, wie ſie ſchon durch Mythus und Sage erweitert iſt (§. 417. 418. 427. 428.); aber der Unterſchied iſt, daß nun das eigentlich Naturſchöne ſammt Mythus und Sage, durch neue Erfindungen bereichert und umgebildet von einer Kunſt, Stoff einer andern wird. Die Kunſt, die ſich in dieß Verhältniß zu einer andern ſtellt, hat jedoch an dem Stoffe, der ſchon Form geworden, eben- ſoviel Selbſtthätigkeit, vielleicht mehr zu entwickeln, um ihn noch einmal zum bloßen Stoff herabzuſetzen, als an dem reinen Stoffe. §. 544. Dieſe innere Einheit und Wechſelbeziehung hebt die ſpezifiſche Selb- ſtändigkeit der Künſte nicht auf. Es kann nur Eine rein äſthetiſche Verbindung von zwei Künſten geben, nämlich die von Poeſie und Muſik; alle andern Ver- bindungen ſind entweder berechtigt, aber durch Beiziehung lebendigen Stoffes (vergl. §. 490) nicht rein äſthetiſch, oder ſie ſind Fehler. Dagegen ſuchen die Künſte ſich äußerlich aneinander anzulehnen und ſo die große Wirkung ihrer ver- einten Kräfte hervorzubringen. Dieß iſt ſo weſentlich, daß alle Künſte nur in dieſer Verbindung wahrhaft leben; die Compoſition (§. 494—501) und der Umfang des Stoffs (§. 540, 1.) wird dadurch weſentlich beſtimmt, rykliſche Entfaltungen hervorzurufen. Durch die Vermittlung einer nicht ſtreng äſthetiſchen Kunſtform entſteht eine höchſte Vereinigung aller Künſte, worin die Poeſie den Mittelpunct bildet. 1. Unter Verbindung zweiter Künſte iſt nicht bloß eine Uebertragung des Styls (vergl. §. 532), ſondern eine Vereinigung der vollen Wirkung derſelben mit ihrem ganzen Material verſtanden, welche ſchlechthin den Eindruck Eines Kunſtwerks machen will, wie die ſchon im hiſtoriſchen Zu- ſammenhang (zu §. 541) angeführte eines Werks der Plaſtik mit allen Mitteln der Farbe (nicht bloßer Farben-Andeutung). Man hat die Ma- lerei mit der Wirkung der Poeſie in Verbindung zu ſetzen geſucht, indem man einen Schein wirklicher Bewegung in die Bilder brachte, ja die Muſik noch dazu gezogen, indem man z. B. zur Aufführung von Haydns Schöpfung Sonne und Mond aufſteigen ließ, bewegtes Meer darſtellte u. ſ. f. Dieß iſt lauter Unnatur, denn die Künſte ſind ſpezifiſche Orga-

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851, S. 165. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0301_1851/177>, abgerufen am 29.03.2024.