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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851.

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im freien Componiren? Bestimmte Grenzen sind hier allerdings zu ziehen.
Einmal: so lange diese herrschende Haltung das Belebte und Beseelte
der Darstellung in architektonischer Weise fesselte, blieb freilich der Composition
wenig Spielraum, und auch als diese Starrheit der Anordnung sich lüftete,
der Geist der Behandlung jedoch von einem nicht rein ästhetischen Gesetze
beherrscht blieb, war die, obwohl schon freiere, Composition immer noch
in gewisse Grenzen der Unfreiheit gebannt, denn wie kann ich z. B. im
Gemälde den Contrast der Ruhe und Leidenschaft entfalten, wenn ein
devoter Bann alle leidenschaftliche Bewegung von den Figuren ausschließt?
Diese Hemmung des Künstlers ist jedoch keine von außen gegebene, er ist
ein Kind derselben Zeit und Anschauung, er bindet sich ebensosehr selbst,
als er gebunden wird. Da aber der Geist in ihm freier wirkt, als in
der Masse, so wird auch der Moment eintreten, wo er diese Schranken
durchbricht, und nachdem sie durchbrochen sind, bleibt von jenem herrschen-
Haltungs-Gesetze nur noch ein zarter Schleier, der unbeschadet der individuellen
Freiheit in der Kunst-Thätigkeit sich über die Anschauung legt. So hat
in Italien schon Duccio von Siena die architektonische Composition durch-
brochen, aber noch Raphael hat bei voller Höhe der freien Erfindung und
Composition den mystischen Hauch und einen gewissen Geist der Gebunden-
heit des Mittelalters erst in seinen späteren Werken zurückgelegt. Daß
aber in den Zweigen der Kunst, welche an ein mathematisches Gesetz durch
ihr Wesen gebunden sind, der Styl einer Zeit die freie Composition nicht
aufhebt, beweist die unendliche Fruchtbarkeit innerhalb derselben Grund-
formen in der gothischen Baukunst, besonders dem Ornament.

2. Kunstkenner gab es in Zeiten, da die Kunst ein organischer Zweig
des öffentlichen Lebens war, im jetzigen Sinn eigentlich nicht. Die Kluft
der Stände war nicht ausgebildet; es gab einen Unterschied der Bildung,
einen Gegensatz von Wissenden und Nicht-Wissenden, aber verglichen mit
der modernen Zeit waren sie alle miteinander naiv, erfreuten sich an
denselben Stoffen, an derselben Auffaßung und es gab keine Kunstliteratur.
Im Mittelalter wirft sich allerdings die Adelspoesie mit ihren romanischen
Stoffen in Gegensatz gegen die Volksdichtung, gerade jene machte aber
an die Composition nicht zu viel, sondern zu wenig Anforderung; die
Stoffe der bildenden Kunst waren für das ästhetische Bedürfniß aller
Stände dieselben. Als Kunstkenner sind in solcher Zeit dem Künstler
gegenüber nur theils die übrigen Künstler, theils die obwohl nicht wesent-
lich abweichend von der Volksbildung, doch feiner Gebildeten anzusehen;
der Künstler wird ihre strengeren Forderungen im Auge haben, er
wird sich, wie sie, auch in einzelnen Maximen Rechenschaft von
den Kunstgesetzen geben, allein es gibt keine Kunstwissenschaft, keine
literarische Kritik, der Künstler schwimmt mit jenen Einsichtigeren sammt

im freien Componiren? Beſtimmte Grenzen ſind hier allerdings zu ziehen.
Einmal: ſo lange dieſe herrſchende Haltung das Belebte und Beſeelte
der Darſtellung in architektoniſcher Weiſe feſſelte, blieb freilich der Compoſition
wenig Spielraum, und auch als dieſe Starrheit der Anordnung ſich lüftete,
der Geiſt der Behandlung jedoch von einem nicht rein äſthetiſchen Geſetze
beherrſcht blieb, war die, obwohl ſchon freiere, Compoſition immer noch
in gewiſſe Grenzen der Unfreiheit gebannt, denn wie kann ich z. B. im
Gemälde den Contraſt der Ruhe und Leidenſchaft entfalten, wenn ein
devoter Bann alle leidenſchaftliche Bewegung von den Figuren ausſchließt?
Dieſe Hemmung des Künſtlers iſt jedoch keine von außen gegebene, er iſt
ein Kind derſelben Zeit und Anſchauung, er bindet ſich ebenſoſehr ſelbſt,
als er gebunden wird. Da aber der Geiſt in ihm freier wirkt, als in
der Maſſe, ſo wird auch der Moment eintreten, wo er dieſe Schranken
durchbricht, und nachdem ſie durchbrochen ſind, bleibt von jenem herrſchen-
Haltungs-Geſetze nur noch ein zarter Schleier, der unbeſchadet der individuellen
Freiheit in der Kunſt-Thätigkeit ſich über die Anſchauung legt. So hat
in Italien ſchon Duccio von Siena die architektoniſche Compoſition durch-
brochen, aber noch Raphael hat bei voller Höhe der freien Erfindung und
Compoſition den myſtiſchen Hauch und einen gewiſſen Geiſt der Gebunden-
heit des Mittelalters erſt in ſeinen ſpäteren Werken zurückgelegt. Daß
aber in den Zweigen der Kunſt, welche an ein mathematiſches Geſetz durch
ihr Weſen gebunden ſind, der Styl einer Zeit die freie Compoſition nicht
aufhebt, beweist die unendliche Fruchtbarkeit innerhalb derſelben Grund-
formen in der gothiſchen Baukunſt, beſonders dem Ornament.

2. Kunſtkenner gab es in Zeiten, da die Kunſt ein organiſcher Zweig
des öffentlichen Lebens war, im jetzigen Sinn eigentlich nicht. Die Kluft
der Stände war nicht ausgebildet; es gab einen Unterſchied der Bildung,
einen Gegenſatz von Wiſſenden und Nicht-Wiſſenden, aber verglichen mit
der modernen Zeit waren ſie alle miteinander naiv, erfreuten ſich an
denſelben Stoffen, an derſelben Auffaßung und es gab keine Kunſtliteratur.
Im Mittelalter wirft ſich allerdings die Adelspoeſie mit ihren romaniſchen
Stoffen in Gegenſatz gegen die Volksdichtung, gerade jene machte aber
an die Compoſition nicht zu viel, ſondern zu wenig Anforderung; die
Stoffe der bildenden Kunſt waren für das äſthetiſche Bedürfniß aller
Stände dieſelben. Als Kunſtkenner ſind in ſolcher Zeit dem Künſtler
gegenüber nur theils die übrigen Künſtler, theils die obwohl nicht weſent-
lich abweichend von der Volksbildung, doch feiner Gebildeten anzuſehen;
der Künſtler wird ihre ſtrengeren Forderungen im Auge haben, er
wird ſich, wie ſie, auch in einzelnen Maximen Rechenſchaft von
den Kunſtgeſetzen geben, allein es gibt keine Kunſtwiſſenſchaft, keine
literariſche Kritik, der Künſtler ſchwimmt mit jenen Einſichtigeren ſammt

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[57/0069] im freien Componiren? Beſtimmte Grenzen ſind hier allerdings zu ziehen. Einmal: ſo lange dieſe herrſchende Haltung das Belebte und Beſeelte der Darſtellung in architektoniſcher Weiſe feſſelte, blieb freilich der Compoſition wenig Spielraum, und auch als dieſe Starrheit der Anordnung ſich lüftete, der Geiſt der Behandlung jedoch von einem nicht rein äſthetiſchen Geſetze beherrſcht blieb, war die, obwohl ſchon freiere, Compoſition immer noch in gewiſſe Grenzen der Unfreiheit gebannt, denn wie kann ich z. B. im Gemälde den Contraſt der Ruhe und Leidenſchaft entfalten, wenn ein devoter Bann alle leidenſchaftliche Bewegung von den Figuren ausſchließt? Dieſe Hemmung des Künſtlers iſt jedoch keine von außen gegebene, er iſt ein Kind derſelben Zeit und Anſchauung, er bindet ſich ebenſoſehr ſelbſt, als er gebunden wird. Da aber der Geiſt in ihm freier wirkt, als in der Maſſe, ſo wird auch der Moment eintreten, wo er dieſe Schranken durchbricht, und nachdem ſie durchbrochen ſind, bleibt von jenem herrſchen- Haltungs-Geſetze nur noch ein zarter Schleier, der unbeſchadet der individuellen Freiheit in der Kunſt-Thätigkeit ſich über die Anſchauung legt. So hat in Italien ſchon Duccio von Siena die architektoniſche Compoſition durch- brochen, aber noch Raphael hat bei voller Höhe der freien Erfindung und Compoſition den myſtiſchen Hauch und einen gewiſſen Geiſt der Gebunden- heit des Mittelalters erſt in ſeinen ſpäteren Werken zurückgelegt. Daß aber in den Zweigen der Kunſt, welche an ein mathematiſches Geſetz durch ihr Weſen gebunden ſind, der Styl einer Zeit die freie Compoſition nicht aufhebt, beweist die unendliche Fruchtbarkeit innerhalb derſelben Grund- formen in der gothiſchen Baukunſt, beſonders dem Ornament. 2. Kunſtkenner gab es in Zeiten, da die Kunſt ein organiſcher Zweig des öffentlichen Lebens war, im jetzigen Sinn eigentlich nicht. Die Kluft der Stände war nicht ausgebildet; es gab einen Unterſchied der Bildung, einen Gegenſatz von Wiſſenden und Nicht-Wiſſenden, aber verglichen mit der modernen Zeit waren ſie alle miteinander naiv, erfreuten ſich an denſelben Stoffen, an derſelben Auffaßung und es gab keine Kunſtliteratur. Im Mittelalter wirft ſich allerdings die Adelspoeſie mit ihren romaniſchen Stoffen in Gegenſatz gegen die Volksdichtung, gerade jene machte aber an die Compoſition nicht zu viel, ſondern zu wenig Anforderung; die Stoffe der bildenden Kunſt waren für das äſthetiſche Bedürfniß aller Stände dieſelben. Als Kunſtkenner ſind in ſolcher Zeit dem Künſtler gegenüber nur theils die übrigen Künſtler, theils die obwohl nicht weſent- lich abweichend von der Volksbildung, doch feiner Gebildeten anzuſehen; der Künſtler wird ihre ſtrengeren Forderungen im Auge haben, er wird ſich, wie ſie, auch in einzelnen Maximen Rechenſchaft von den Kunſtgeſetzen geben, allein es gibt keine Kunſtwiſſenſchaft, keine literariſche Kritik, der Künſtler ſchwimmt mit jenen Einſichtigeren ſammt

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851, S. 57. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0301_1851/69>, abgerufen am 28.03.2024.