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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851.

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drücken konnte (was bei Alexander dem Großen allerdings noch der Fall
war), die Entweihung in das innerste Leben der Kunst hineingetragen.
Auffaßung und Composition wurden zunächst insofern unfrei, als sie der
beliebten Vergötterung fürstlicher Personen und der herrschenden Richtung
auf Glanz und Pracht dienen mußten. Doch verständlich blieb jene
Uebertragung immer noch und dieser Prunk verwöhnte zwar, entfremdete
aber nicht. Kurz im Alterthum war eine solche Zerreißung des Bandes
zwischen der Kunst und dem allgemeinen Volksleben gar nicht möglich,
wie in der neueren Zeit, und den letzten Grund davon giebt §. 342 mit
den Worten: "die Sittigung hat keine völlig fremden Elemente zu über-
winden"; auch die sinkende Kunst lehnt sich nicht an fremdartige, nur dem
Gelehrten verständliche Stoffe. Weit eher könnte man in der römischen
Kunst die Anfänge einer bis in den inneren Kreis der Volksvorstellungen
hineinreichenden Entfremdung nachweisen, denn schwerlich waren im späteren
Rom die Darstellungen aus fremden Religionen, der ägyptischen, persi-
schen u. s. w., dem Volke ebenso verständlich, als den Bestellern. In der
neuern Zeit gieng vom sechszehnten Jahrhundert an die Kunstpflege von
den Gemeinden, Corporationen und somit vom Volke mehr und mehr an
Fürsten, Höfe, reichen Adel über. Dieser Dienst war jedoch für einen
Leonardo da Vinci, M. Angelo, Raphael, einen Rubens nicht erniedri-
gend, wie ein ähnliches Verhältniß für spätere Künstler. Zwar dringt
nun der entfremdende Keil der gelehrten Stoffe zwischen Volk und Kunst
ein: neben den christlichen Mythus und Sagenkreis der antike nebst der
alten Geschichte; allein die Bekanntschaft mit diesen Stoffen ruhte bei dem
Adel und den Fürsten doch nicht auf einer Bildung, welche dem Volke so
fremd gegenübergestanden wäre, wie später. Die ungemeine Freiheit, die
man sich gegen die Gesetze objectiver Treue der Darstellung herausnahm,
war ebensoviel Gewinn für das Band zwischen Kunst und Volk; der
reiche, der fürstliche Besteller hatte sich so gut wie der Künstler und das
Volk diese Stoffe in die Formen seiner Zeit übersetzt und sie waren nur
Gefäße, worin man einen geläufigen, menschlich vertrauten Inhalt, die
Stimmung der Zeit, jenes Gefühl der Emanzipation goß, das diesen
Jahrhunderten eigen war. Man denke nur an die Farnesina, an die
venetianische Schule, man denke an das verständliche, vertraute
Gewand, das in Shakespeares Hand die antiken Stoffe anlegen.
Zudem waren die Bestellungen, obwohl mehr und mehr von Einzelnen
ausgehend, doch für die Oeffentlichkeit bestimmt; selbst der Pallast war
offen und leicht zugänglich; die Stanzen im Vatican waren etwas ganz
Anderes, als das hermetisch verschlossene Haus des sammelnden Englän-
ders. Erst im siebzehnten Jahrhundert beginnt Cabinetsmalerei, Kam-
mermusik, Hoftheater. Hatte der Künstler den höheren Ständen gegen-

drücken konnte (was bei Alexander dem Großen allerdings noch der Fall
war), die Entweihung in das innerſte Leben der Kunſt hineingetragen.
Auffaßung und Compoſition wurden zunächſt inſofern unfrei, als ſie der
beliebten Vergötterung fürſtlicher Perſonen und der herrſchenden Richtung
auf Glanz und Pracht dienen mußten. Doch verſtändlich blieb jene
Uebertragung immer noch und dieſer Prunk verwöhnte zwar, entfremdete
aber nicht. Kurz im Alterthum war eine ſolche Zerreißung des Bandes
zwiſchen der Kunſt und dem allgemeinen Volksleben gar nicht möglich,
wie in der neueren Zeit, und den letzten Grund davon giebt §. 342 mit
den Worten: „die Sittigung hat keine völlig fremden Elemente zu über-
winden“; auch die ſinkende Kunſt lehnt ſich nicht an fremdartige, nur dem
Gelehrten verſtändliche Stoffe. Weit eher könnte man in der römiſchen
Kunſt die Anfänge einer bis in den inneren Kreis der Volksvorſtellungen
hineinreichenden Entfremdung nachweiſen, denn ſchwerlich waren im ſpäteren
Rom die Darſtellungen aus fremden Religionen, der ägyptiſchen, perſi-
ſchen u. ſ. w., dem Volke ebenſo verſtändlich, als den Beſtellern. In der
neuern Zeit gieng vom ſechszehnten Jahrhundert an die Kunſtpflege von
den Gemeinden, Corporationen und ſomit vom Volke mehr und mehr an
Fürſten, Höfe, reichen Adel über. Dieſer Dienſt war jedoch für einen
Leonardo da Vinci, M. Angelo, Raphael, einen Rubens nicht erniedri-
gend, wie ein ähnliches Verhältniß für ſpätere Künſtler. Zwar dringt
nun der entfremdende Keil der gelehrten Stoffe zwiſchen Volk und Kunſt
ein: neben den chriſtlichen Mythus und Sagenkreis der antike nebſt der
alten Geſchichte; allein die Bekanntſchaft mit dieſen Stoffen ruhte bei dem
Adel und den Fürſten doch nicht auf einer Bildung, welche dem Volke ſo
fremd gegenübergeſtanden wäre, wie ſpäter. Die ungemeine Freiheit, die
man ſich gegen die Geſetze objectiver Treue der Darſtellung herausnahm,
war ebenſoviel Gewinn für das Band zwiſchen Kunſt und Volk; der
reiche, der fürſtliche Beſteller hatte ſich ſo gut wie der Künſtler und das
Volk dieſe Stoffe in die Formen ſeiner Zeit überſetzt und ſie waren nur
Gefäße, worin man einen geläufigen, menſchlich vertrauten Inhalt, die
Stimmung der Zeit, jenes Gefühl der Emanzipation goß, das dieſen
Jahrhunderten eigen war. Man denke nur an die Farneſina, an die
venetianiſche Schule, man denke an das verſtändliche, vertraute
Gewand, das in Shakespeares Hand die antiken Stoffe anlegen.
Zudem waren die Beſtellungen, obwohl mehr und mehr von Einzelnen
ausgehend, doch für die Oeffentlichkeit beſtimmt; ſelbſt der Pallaſt war
offen und leicht zugänglich; die Stanzen im Vatican waren etwas ganz
Anderes, als das hermetiſch verſchloſſene Haus des ſammelnden Englän-
ders. Erſt im ſiebzehnten Jahrhundert beginnt Cabinetsmalerei, Kam-
mermuſik, Hoftheater. Hatte der Künſtler den höheren Ständen gegen-

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851, S. 61. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0301_1851/73>, abgerufen am 19.04.2024.