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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851.

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Philosophiren abzuweisen, aber der Künstler unserer Tage sieht sich vor-
übergehend einmal diesen besonderen Zeitbedingungen verschrieben. Die
Rückkehr aus der Reflexion in den Natursinn, aus der Zerfahrenheit des
Urtheils in den unbefangenen und geschlossenen Genuß und die ihm ent-
sprechende Naturfülle der Production setzt aber allerdings, wie schon an-
gedeutet, voraus, daß jener Cirkel von außen durch geschichtliche Bedin-
gungen durchbrochen werde, von denen jetzt die Rede sein muß.

§. 508.

Die Gegenwart stellt eine Zwischenstufe dar, worin dem Drang nach1
Oeffentlichkeit und Volksmäßigkeit in Stoff, Behandlung und Aufstellung des
Kunstwerks sich Wege öffnen, während gleichzeitig die esoterische, nur auf einen
Theil des Volks wirkende, vereinzelte Kunst noch in großem Umfange fortbesteht.
Der Zufälligkeit jener höheren Anfänge und der Getheiltheit dieses ganzen2
Zustands ist zunächst dadurch entgegenzuwirken, daß der Staat im Geist einer
freien, zusammenfaßendenden Leitung die Kunstpflege in die Hand nimmt und
so die Zukunft vorbereitet, wo in einem erneuten öffentlichen Leben der im
Volk als der Einheit aller Stände erwachte Sinn sich in einer von den Körper-
schaften ausgehenden Hebung der Kunst ausspricht.

1. Es hat sich in unserer Zeit ein Drang geltend gemacht nach
Stoffen aus der Geschichte und der lebendigen Gegenwart des eigenen Volkes
und nach dem Verständlichen, allgemein Menschlichen im Leben anderer
Völker, ein Drang nach einer die geistigen, sozialen, politischen Kämpfe
des Lebens naturkräftig und gewaltig darstellenden Behandlung, ein Drang
endlich zur monumentalen Aufstellung oder öffentlichen Aufführung des
Kunstwerks vor aller Augen, so daß alles Volk sich erfreue. Ein Unter-
schied zwischen Kennern und Nichtkennern muß immer bleiben, aber man
rede nicht von einer Blüthe der Kunst, wo nicht der Inhalt so zugänglich
und gewaltig, die Form so klar, einfach mächtig ist, daß auch der nicht
gebildete Bürger, der Arbeiter, der Bauer, ja das Kind sie fühlt und
genießt. Es ist außer Frage, daß Monarchen es sind, welche diese Auf-
gabe verstanden und diese neuen Wege geöffnet haben, namentlich Ludwig
von Baiern (gleich zu Anfang schon durch den glücklichen Gedanken der
Arkadengemälde in München und dann durch eine Reihe großer monumentaler
Unternehmungen), Louis Philipp von Frankreich (Museum in Versailles).
Sie haben richtig geahnt und von oben gefördert, wiewohl sie nicht gleich-
zeitig von unten die Kluft der Stände durch Institute für gründliche
Volksbildung zu tilgen und so ihrer Schöpfung den organischen Boden
zu bereiten gewußt haben. Monumente der Baukunst, plastische Denkmale

Philoſophiren abzuweiſen, aber der Künſtler unſerer Tage ſieht ſich vor-
übergehend einmal dieſen beſonderen Zeitbedingungen verſchrieben. Die
Rückkehr aus der Reflexion in den Naturſinn, aus der Zerfahrenheit des
Urtheils in den unbefangenen und geſchloſſenen Genuß und die ihm ent-
ſprechende Naturfülle der Production ſetzt aber allerdings, wie ſchon an-
gedeutet, voraus, daß jener Cirkel von außen durch geſchichtliche Bedin-
gungen durchbrochen werde, von denen jetzt die Rede ſein muß.

§. 508.

Die Gegenwart ſtellt eine Zwiſchenſtufe dar, worin dem Drang nach1
Oeffentlichkeit und Volksmäßigkeit in Stoff, Behandlung und Aufſtellung des
Kunſtwerks ſich Wege öffnen, während gleichzeitig die eſoteriſche, nur auf einen
Theil des Volks wirkende, vereinzelte Kunſt noch in großem Umfange fortbeſteht.
Der Zufälligkeit jener höheren Anfänge und der Getheiltheit dieſes ganzen2
Zuſtands iſt zunächſt dadurch entgegenzuwirken, daß der Staat im Geiſt einer
freien, zuſammenfaßendenden Leitung die Kunſtpflege in die Hand nimmt und
ſo die Zukunft vorbereitet, wo in einem erneuten öffentlichen Leben der im
Volk als der Einheit aller Stände erwachte Sinn ſich in einer von den Körper-
ſchaften ausgehenden Hebung der Kunſt ausſpricht.

1. Es hat ſich in unſerer Zeit ein Drang geltend gemacht nach
Stoffen aus der Geſchichte und der lebendigen Gegenwart des eigenen Volkes
und nach dem Verſtändlichen, allgemein Menſchlichen im Leben anderer
Völker, ein Drang nach einer die geiſtigen, ſozialen, politiſchen Kämpfe
des Lebens naturkräftig und gewaltig darſtellenden Behandlung, ein Drang
endlich zur monumentalen Aufſtellung oder öffentlichen Aufführung des
Kunſtwerks vor aller Augen, ſo daß alles Volk ſich erfreue. Ein Unter-
ſchied zwiſchen Kennern und Nichtkennern muß immer bleiben, aber man
rede nicht von einer Blüthe der Kunſt, wo nicht der Inhalt ſo zugänglich
und gewaltig, die Form ſo klar, einfach mächtig iſt, daß auch der nicht
gebildete Bürger, der Arbeiter, der Bauer, ja das Kind ſie fühlt und
genießt. Es iſt außer Frage, daß Monarchen es ſind, welche dieſe Auf-
gabe verſtanden und dieſe neuen Wege geöffnet haben, namentlich Ludwig
von Baiern (gleich zu Anfang ſchon durch den glücklichen Gedanken der
Arkadengemälde in München und dann durch eine Reihe großer monumentaler
Unternehmungen), Louis Philipp von Frankreich (Muſeum in Versailles).
Sie haben richtig geahnt und von oben gefördert, wiewohl ſie nicht gleich-
zeitig von unten die Kluft der Stände durch Inſtitute für gründliche
Volksbildung zu tilgen und ſo ihrer Schöpfung den organiſchen Boden
zu bereiten gewußt haben. Monumente der Baukunſt, plaſtiſche Denkmale

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[71/0083] Philoſophiren abzuweiſen, aber der Künſtler unſerer Tage ſieht ſich vor- übergehend einmal dieſen beſonderen Zeitbedingungen verſchrieben. Die Rückkehr aus der Reflexion in den Naturſinn, aus der Zerfahrenheit des Urtheils in den unbefangenen und geſchloſſenen Genuß und die ihm ent- ſprechende Naturfülle der Production ſetzt aber allerdings, wie ſchon an- gedeutet, voraus, daß jener Cirkel von außen durch geſchichtliche Bedin- gungen durchbrochen werde, von denen jetzt die Rede ſein muß. §. 508. Die Gegenwart ſtellt eine Zwiſchenſtufe dar, worin dem Drang nach Oeffentlichkeit und Volksmäßigkeit in Stoff, Behandlung und Aufſtellung des Kunſtwerks ſich Wege öffnen, während gleichzeitig die eſoteriſche, nur auf einen Theil des Volks wirkende, vereinzelte Kunſt noch in großem Umfange fortbeſteht. Der Zufälligkeit jener höheren Anfänge und der Getheiltheit dieſes ganzen Zuſtands iſt zunächſt dadurch entgegenzuwirken, daß der Staat im Geiſt einer freien, zuſammenfaßendenden Leitung die Kunſtpflege in die Hand nimmt und ſo die Zukunft vorbereitet, wo in einem erneuten öffentlichen Leben der im Volk als der Einheit aller Stände erwachte Sinn ſich in einer von den Körper- ſchaften ausgehenden Hebung der Kunſt ausſpricht. 1. Es hat ſich in unſerer Zeit ein Drang geltend gemacht nach Stoffen aus der Geſchichte und der lebendigen Gegenwart des eigenen Volkes und nach dem Verſtändlichen, allgemein Menſchlichen im Leben anderer Völker, ein Drang nach einer die geiſtigen, ſozialen, politiſchen Kämpfe des Lebens naturkräftig und gewaltig darſtellenden Behandlung, ein Drang endlich zur monumentalen Aufſtellung oder öffentlichen Aufführung des Kunſtwerks vor aller Augen, ſo daß alles Volk ſich erfreue. Ein Unter- ſchied zwiſchen Kennern und Nichtkennern muß immer bleiben, aber man rede nicht von einer Blüthe der Kunſt, wo nicht der Inhalt ſo zugänglich und gewaltig, die Form ſo klar, einfach mächtig iſt, daß auch der nicht gebildete Bürger, der Arbeiter, der Bauer, ja das Kind ſie fühlt und genießt. Es iſt außer Frage, daß Monarchen es ſind, welche dieſe Auf- gabe verſtanden und dieſe neuen Wege geöffnet haben, namentlich Ludwig von Baiern (gleich zu Anfang ſchon durch den glücklichen Gedanken der Arkadengemälde in München und dann durch eine Reihe großer monumentaler Unternehmungen), Louis Philipp von Frankreich (Muſeum in Versailles). Sie haben richtig geahnt und von oben gefördert, wiewohl ſie nicht gleich- zeitig von unten die Kluft der Stände durch Inſtitute für gründliche Volksbildung zu tilgen und ſo ihrer Schöpfung den organiſchen Boden zu bereiten gewußt haben. Monumente der Baukunſt, plaſtiſche Denkmale

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851, S. 71. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0301_1851/83>, abgerufen am 28.03.2024.