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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851.

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werks nicht blos vorläufig nachgebildet wird, sondern während der Aus-
führung des Ganzen, die gelten und bleiben soll, die erneute Anschauung
zu Hilfe gezogen und ihre Nachbildung unmittelbar in das Ganze ein-
getragen wird, so ist freilich die Technik schon in vollem Zuge, aber das
daran, daß hier mitten in diesem Zuge ein naturschöner Gegenstand zu
Hilfe genommen werden muß, gehört nicht in den Zusammenhang der
Technik an sich, sondern ebenfalls in den vorliegenden, welcher die aufs
Neue hervortretenden Ansprüche des Naturschönen darzustellen hat, die
wir nun in einen bestimmten Begriff noch zusammenfaßen müßen.

§. 513.

1

Aus der Nothwendigkeit dieser erneuten Anschauung erhellt der bleibende
selbständige Werth, den das Naturschöne trotz seiner Aufhebung in die Phantasie
so lange behält, bis die Ausführung des Kunstwerks vollendet ist (vergl.
§. 232, 2): es besteht neben der Phantasie ebensosehr als ihr Correctiv, als sie
2sein Correctiv ist. Hienach erst erledigt sich vollständig die Streitfrage über die
Naturnachahmung in der Kunst, und zwar dahin, daß diese ebendie Er-
scheinung, welche die Natur geschaffen, aber im Gedränge des störenden Zufalls
(§. 40) Trübungen jeder Art (§. 379. 380.) ausgesetzt hat, auf ihre Reinheit
zurückführt und so gereinigt in einem idealen Scheinbilde wiederholt, in der
Zurüchführung aber das Vorbild mit der Bestimmtheit seiner Formen und der
Wärme seiner Lebendigkeit nacheifernd fest im Auge behalten muß.

1. Solange die Phantasie ihr inneres Bild nicht völlig in die
Objectivität übergetragen hat, behält das Naturschöne ihr gegenüber den
Werth einer selbständigen Form des Daseins des Schönen; dieß ist der
tiefere Grund, warum auch eine schon als Theil der letzten Ausführung
gültige technische Nachbildung eines Modells am Schluße des vorh. §.
noch aufzuführen war: erst wenn das Kunstwerk vollendet ist, verschwin-
det in ihm das Gebiet des Naturschönen, das in ihm dargestellt ist, ist
ganz in ihm aufgehoben, so daß der ächte Beschauer nicht mehr von ihm
weiß, es in seinem reinen Abbilde ganz vergißt und auch der Künstler
für dießmal damit abgeschlossen hat. Auf dem ganzen Wege vom innern
Bilde zur Ausführung dagegen steht das naturschöne Object noch da
neben dem Bilde im Geist des Subjects, worein es eingegangen ist und
in dem es verschwinden soll, es steht noch da als Richtmaaß für die
Wahrheit der Nachahmung, freilich nicht für die gemeine, empirisch richtige,
wohl aber als Richtmaaß für die wahre Nachbildung seiner ewigen
Grundformen, wie sehr sie in ihm als Individuum getrübt sein mögen.
Noch hier auf dem Puncte des Uebergangs zur vollen Ausführung, ja
gerade hier in voller Kraft macht sich daher der Satz §. 232, 2. geltend,

werks nicht blos vorläufig nachgebildet wird, ſondern während der Aus-
führung des Ganzen, die gelten und bleiben ſoll, die erneute Anſchauung
zu Hilfe gezogen und ihre Nachbildung unmittelbar in das Ganze ein-
getragen wird, ſo iſt freilich die Technik ſchon in vollem Zuge, aber das
daran, daß hier mitten in dieſem Zuge ein naturſchöner Gegenſtand zu
Hilfe genommen werden muß, gehört nicht in den Zuſammenhang der
Technik an ſich, ſondern ebenfalls in den vorliegenden, welcher die aufs
Neue hervortretenden Anſprüche des Naturſchönen darzuſtellen hat, die
wir nun in einen beſtimmten Begriff noch zuſammenfaßen müßen.

§. 513.

1

Aus der Nothwendigkeit dieſer erneuten Anſchauung erhellt der bleibende
ſelbſtändige Werth, den das Naturſchöne trotz ſeiner Aufhebung in die Phantaſie
ſo lange behält, bis die Ausführung des Kunſtwerks vollendet iſt (vergl.
§. 232, 2): es beſteht neben der Phantaſie ebenſoſehr als ihr Correctiv, als ſie
2ſein Correctiv iſt. Hienach erſt erledigt ſich vollſtändig die Streitfrage über die
Naturnachahmung in der Kunſt, und zwar dahin, daß dieſe ebendie Er-
ſcheinung, welche die Natur geſchaffen, aber im Gedränge des ſtörenden Zufalls
(§. 40) Trübungen jeder Art (§. 379. 380.) ausgeſetzt hat, auf ihre Reinheit
zurückführt und ſo gereinigt in einem idealen Scheinbilde wiederholt, in der
Zurüchführung aber das Vorbild mit der Beſtimmtheit ſeiner Formen und der
Wärme ſeiner Lebendigkeit nacheifernd feſt im Auge behalten muß.

1. Solange die Phantaſie ihr inneres Bild nicht völlig in die
Objectivität übergetragen hat, behält das Naturſchöne ihr gegenüber den
Werth einer ſelbſtändigen Form des Daſeins des Schönen; dieß iſt der
tiefere Grund, warum auch eine ſchon als Theil der letzten Ausführung
gültige techniſche Nachbildung eines Modells am Schluße des vorh. §.
noch aufzuführen war: erſt wenn das Kunſtwerk vollendet iſt, verſchwin-
det in ihm das Gebiet des Naturſchönen, das in ihm dargeſtellt iſt, iſt
ganz in ihm aufgehoben, ſo daß der ächte Beſchauer nicht mehr von ihm
weiß, es in ſeinem reinen Abbilde ganz vergißt und auch der Künſtler
für dießmal damit abgeſchloſſen hat. Auf dem ganzen Wege vom innern
Bilde zur Ausführung dagegen ſteht das naturſchöne Object noch da
neben dem Bilde im Geiſt des Subjects, worein es eingegangen iſt und
in dem es verſchwinden ſoll, es ſteht noch da als Richtmaaß für die
Wahrheit der Nachahmung, freilich nicht für die gemeine, empiriſch richtige,
wohl aber als Richtmaaß für die wahre Nachbildung ſeiner ewigen
Grundformen, wie ſehr ſie in ihm als Individuum getrübt ſein mögen.
Noch hier auf dem Puncte des Uebergangs zur vollen Ausführung, ja
gerade hier in voller Kraft macht ſich daher der Satz §. 232, 2. geltend,

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[84/0096] werks nicht blos vorläufig nachgebildet wird, ſondern während der Aus- führung des Ganzen, die gelten und bleiben ſoll, die erneute Anſchauung zu Hilfe gezogen und ihre Nachbildung unmittelbar in das Ganze ein- getragen wird, ſo iſt freilich die Technik ſchon in vollem Zuge, aber das daran, daß hier mitten in dieſem Zuge ein naturſchöner Gegenſtand zu Hilfe genommen werden muß, gehört nicht in den Zuſammenhang der Technik an ſich, ſondern ebenfalls in den vorliegenden, welcher die aufs Neue hervortretenden Anſprüche des Naturſchönen darzuſtellen hat, die wir nun in einen beſtimmten Begriff noch zuſammenfaßen müßen. §. 513. Aus der Nothwendigkeit dieſer erneuten Anſchauung erhellt der bleibende ſelbſtändige Werth, den das Naturſchöne trotz ſeiner Aufhebung in die Phantaſie ſo lange behält, bis die Ausführung des Kunſtwerks vollendet iſt (vergl. §. 232, 2): es beſteht neben der Phantaſie ebenſoſehr als ihr Correctiv, als ſie ſein Correctiv iſt. Hienach erſt erledigt ſich vollſtändig die Streitfrage über die Naturnachahmung in der Kunſt, und zwar dahin, daß dieſe ebendie Er- ſcheinung, welche die Natur geſchaffen, aber im Gedränge des ſtörenden Zufalls (§. 40) Trübungen jeder Art (§. 379. 380.) ausgeſetzt hat, auf ihre Reinheit zurückführt und ſo gereinigt in einem idealen Scheinbilde wiederholt, in der Zurüchführung aber das Vorbild mit der Beſtimmtheit ſeiner Formen und der Wärme ſeiner Lebendigkeit nacheifernd feſt im Auge behalten muß. 1. Solange die Phantaſie ihr inneres Bild nicht völlig in die Objectivität übergetragen hat, behält das Naturſchöne ihr gegenüber den Werth einer ſelbſtändigen Form des Daſeins des Schönen; dieß iſt der tiefere Grund, warum auch eine ſchon als Theil der letzten Ausführung gültige techniſche Nachbildung eines Modells am Schluße des vorh. §. noch aufzuführen war: erſt wenn das Kunſtwerk vollendet iſt, verſchwin- det in ihm das Gebiet des Naturſchönen, das in ihm dargeſtellt iſt, iſt ganz in ihm aufgehoben, ſo daß der ächte Beſchauer nicht mehr von ihm weiß, es in ſeinem reinen Abbilde ganz vergißt und auch der Künſtler für dießmal damit abgeſchloſſen hat. Auf dem ganzen Wege vom innern Bilde zur Ausführung dagegen ſteht das naturſchöne Object noch da neben dem Bilde im Geiſt des Subjects, worein es eingegangen iſt und in dem es verſchwinden ſoll, es ſteht noch da als Richtmaaß für die Wahrheit der Nachahmung, freilich nicht für die gemeine, empiriſch richtige, wohl aber als Richtmaaß für die wahre Nachbildung ſeiner ewigen Grundformen, wie ſehr ſie in ihm als Individuum getrübt ſein mögen. Noch hier auf dem Puncte des Uebergangs zur vollen Ausführung, ja gerade hier in voller Kraft macht ſich daher der Satz §. 232, 2. geltend,

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851, S. 84. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0301_1851/96>, abgerufen am 29.03.2024.