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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857.

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ganzen Prozeß, in dem alles Gefühls- und Geistesleben sich bewegt, voll-
ständig durchlaufen hat. Dieß der eine Grundunterschied. Der andere
betrifft das innere Verhältniß der Sätze zu einander. Dieses Verhältniß
ist äußerlicher oder innerlicher, es ist nämlich entweder das des Wechsels
oder das des Contrastes oder das eines qualitativen, intensiven Bewegungs-
rhythmus. Irgend ein Bewegungsrhythmus ist (S. 934) natürlich bei
dieser Kunstform immer, weil sie zwischen Erregungs- und Stimmungs-
musik hinundhergeht; aber er kann ein äußerlicher, formeller, dem Tonstück
selbst nicht immanenter sein, wenn die erregtern und die ruhigern Sätze blos
entfernter unter sich verwandt, zu selbständig gegen einander, blos nach dem
Gesetz und zum Behuf rhythmischer Mannigfaltigkeit oder rhythmischen
Contrasts neben einander gestellt sind; hier gefallen mehr die einzelnen Sätze
für sich und zugleich ihr Wechsel und Gegensatz, aber ein tieferer Zusam-
menhang und Fortgang ist nicht vorhanden. Dieser ist erst dann da, wenn
der Bewegungsrhythmus innerlich, intensiv ist, wenn die Sätze in dem
Verhältniß zu einander stehen, daß der eine zum andern hintreibt, daß die
scharf ausgesprochene Unruhe, Spannung, Bewegtheit, Gedrücktheit des einen
ihre ebenso entschieden hervortretende Beruhigung, Lösung, Befreiung im
andern findet, kurz, wenn der Fortgang etwas vom Dramatischen, von
Verwicklung an sich hat. Schon das Verhältniß des Contrasts ist tiefer
als das des bloßen Wechsels, indem es ein Bild des durch das ganze
Leben hindurchgehenden Gegensatzes von Lust und Unlust, Bewegung und
Ruhe, Erregung und Sammlung, Affect oder That und Selbstbesinnung,
Herausgehen aus sich und Rückkehr zu sich darstellt; aber noch tiefer ist
das des dramatischen Fortgangs, bei welchem die beiderseitigen Elemente in
eine innere Beziehung zu einander treten, indem das Gemüth wirklich als
durch diese Stadien der Erhebung, der Niederdrückung, der abermaligen Er-
hebung u. s. f. hindurchgehend, sich hindurchkämpfend dargestellt wird. Einen
ihrer Form wirklich vollständig adäquaten, Alles was sie leisten kann wirklich
leistenden Inhalt, sowie vollkommene innere Einheit der Sätze unter einander
bekommt diese Gattung von Tonstücken nur durch diesen dramatischen Be-
wegungsrhythmus, der nicht blos Wechsel und Contrast, sondern auch Fort-
gang und Prozeß ist und hiemit alle Beziehungen zusammenfaßt, die bei
einer längern Tonbewegung möglich sind. Natürlich sollen nicht alle Werke
dieser Gattung eine solche dramatische Bewegtheit haben; das epische, aggre-
girende Prinzip hat auch seine Berechtigung; aber die höchste Stufe ist die
dramatische Construction deßungeachtet, weil hier das formelle Nebeneinander
durch das Band innerlicher Einheit überwunden, und weil erst in ihr neben
reicher Entwicklung des melodischen und harmonischen Elements auch das
rhythmische zu seiner vollen Entfaltung gekommen ist, welches doch für
diese ganze Musikgattung das unterscheidende ist.


ganzen Prozeß, in dem alles Gefühls- und Geiſtesleben ſich bewegt, voll-
ſtändig durchlaufen hat. Dieß der eine Grundunterſchied. Der andere
betrifft das innere Verhältniß der Sätze zu einander. Dieſes Verhältniß
iſt äußerlicher oder innerlicher, es iſt nämlich entweder das des Wechſels
oder das des Contraſtes oder das eines qualitativen, intenſiven Bewegungs-
rhythmus. Irgend ein Bewegungsrhythmus iſt (S. 934) natürlich bei
dieſer Kunſtform immer, weil ſie zwiſchen Erregungs- und Stimmungs-
muſik hinundhergeht; aber er kann ein äußerlicher, formeller, dem Tonſtück
ſelbſt nicht immanenter ſein, wenn die erregtern und die ruhigern Sätze blos
entfernter unter ſich verwandt, zu ſelbſtändig gegen einander, blos nach dem
Geſetz und zum Behuf rhythmiſcher Mannigfaltigkeit oder rhythmiſchen
Contraſts neben einander geſtellt ſind; hier gefallen mehr die einzelnen Sätze
für ſich und zugleich ihr Wechſel und Gegenſatz, aber ein tieferer Zuſam-
menhang und Fortgang iſt nicht vorhanden. Dieſer iſt erſt dann da, wenn
der Bewegungsrhythmus innerlich, intenſiv iſt, wenn die Sätze in dem
Verhältniß zu einander ſtehen, daß der eine zum andern hintreibt, daß die
ſcharf ausgeſprochene Unruhe, Spannung, Bewegtheit, Gedrücktheit des einen
ihre ebenſo entſchieden hervortretende Beruhigung, Löſung, Befreiung im
andern findet, kurz, wenn der Fortgang etwas vom Dramatiſchen, von
Verwicklung an ſich hat. Schon das Verhältniß des Contraſts iſt tiefer
als das des bloßen Wechſels, indem es ein Bild des durch das ganze
Leben hindurchgehenden Gegenſatzes von Luſt und Unluſt, Bewegung und
Ruhe, Erregung und Sammlung, Affect oder That und Selbſtbeſinnung,
Herausgehen aus ſich und Rückkehr zu ſich darſtellt; aber noch tiefer iſt
das des dramatiſchen Fortgangs, bei welchem die beiderſeitigen Elemente in
eine innere Beziehung zu einander treten, indem das Gemüth wirklich als
durch dieſe Stadien der Erhebung, der Niederdrückung, der abermaligen Er-
hebung u. ſ. f. hindurchgehend, ſich hindurchkämpfend dargeſtellt wird. Einen
ihrer Form wirklich vollſtändig adäquaten, Alles was ſie leiſten kann wirklich
leiſtenden Inhalt, ſowie vollkommene innere Einheit der Sätze unter einander
bekommt dieſe Gattung von Tonſtücken nur durch dieſen dramatiſchen Be-
wegungsrhythmus, der nicht blos Wechſel und Contraſt, ſondern auch Fort-
gang und Prozeß iſt und hiemit alle Beziehungen zuſammenfaßt, die bei
einer längern Tonbewegung möglich ſind. Natürlich ſollen nicht alle Werke
dieſer Gattung eine ſolche dramatiſche Bewegtheit haben; das epiſche, aggre-
girende Prinzip hat auch ſeine Berechtigung; aber die höchſte Stufe iſt die
dramatiſche Conſtruction deßungeachtet, weil hier das formelle Nebeneinander
durch das Band innerlicher Einheit überwunden, und weil erſt in ihr neben
reicher Entwicklung des melodiſchen und harmoniſchen Elements auch das
rhythmiſche zu ſeiner vollen Entfaltung gekommen iſt, welches doch für
dieſe ganze Muſikgattung das unterſcheidende iſt.


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[964/0202] ganzen Prozeß, in dem alles Gefühls- und Geiſtesleben ſich bewegt, voll- ſtändig durchlaufen hat. Dieß der eine Grundunterſchied. Der andere betrifft das innere Verhältniß der Sätze zu einander. Dieſes Verhältniß iſt äußerlicher oder innerlicher, es iſt nämlich entweder das des Wechſels oder das des Contraſtes oder das eines qualitativen, intenſiven Bewegungs- rhythmus. Irgend ein Bewegungsrhythmus iſt (S. 934) natürlich bei dieſer Kunſtform immer, weil ſie zwiſchen Erregungs- und Stimmungs- muſik hinundhergeht; aber er kann ein äußerlicher, formeller, dem Tonſtück ſelbſt nicht immanenter ſein, wenn die erregtern und die ruhigern Sätze blos entfernter unter ſich verwandt, zu ſelbſtändig gegen einander, blos nach dem Geſetz und zum Behuf rhythmiſcher Mannigfaltigkeit oder rhythmiſchen Contraſts neben einander geſtellt ſind; hier gefallen mehr die einzelnen Sätze für ſich und zugleich ihr Wechſel und Gegenſatz, aber ein tieferer Zuſam- menhang und Fortgang iſt nicht vorhanden. Dieſer iſt erſt dann da, wenn der Bewegungsrhythmus innerlich, intenſiv iſt, wenn die Sätze in dem Verhältniß zu einander ſtehen, daß der eine zum andern hintreibt, daß die ſcharf ausgeſprochene Unruhe, Spannung, Bewegtheit, Gedrücktheit des einen ihre ebenſo entſchieden hervortretende Beruhigung, Löſung, Befreiung im andern findet, kurz, wenn der Fortgang etwas vom Dramatiſchen, von Verwicklung an ſich hat. Schon das Verhältniß des Contraſts iſt tiefer als das des bloßen Wechſels, indem es ein Bild des durch das ganze Leben hindurchgehenden Gegenſatzes von Luſt und Unluſt, Bewegung und Ruhe, Erregung und Sammlung, Affect oder That und Selbſtbeſinnung, Herausgehen aus ſich und Rückkehr zu ſich darſtellt; aber noch tiefer iſt das des dramatiſchen Fortgangs, bei welchem die beiderſeitigen Elemente in eine innere Beziehung zu einander treten, indem das Gemüth wirklich als durch dieſe Stadien der Erhebung, der Niederdrückung, der abermaligen Er- hebung u. ſ. f. hindurchgehend, ſich hindurchkämpfend dargeſtellt wird. Einen ihrer Form wirklich vollſtändig adäquaten, Alles was ſie leiſten kann wirklich leiſtenden Inhalt, ſowie vollkommene innere Einheit der Sätze unter einander bekommt dieſe Gattung von Tonſtücken nur durch dieſen dramatiſchen Be- wegungsrhythmus, der nicht blos Wechſel und Contraſt, ſondern auch Fort- gang und Prozeß iſt und hiemit alle Beziehungen zuſammenfaßt, die bei einer längern Tonbewegung möglich ſind. Natürlich ſollen nicht alle Werke dieſer Gattung eine ſolche dramatiſche Bewegtheit haben; das epiſche, aggre- girende Prinzip hat auch ſeine Berechtigung; aber die höchſte Stufe iſt die dramatiſche Conſtruction deßungeachtet, weil hier das formelle Nebeneinander durch das Band innerlicher Einheit überwunden, und weil erſt in ihr neben reicher Entwicklung des melodiſchen und harmoniſchen Elements auch das rhythmiſche zu ſeiner vollen Entfaltung gekommen iſt, welches doch für dieſe ganze Muſikgattung das unterſcheidende iſt.

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 964. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/202>, abgerufen am 19.04.2024.