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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857.

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aus, in welchen trotz des Ineinanders beider Momente, durch das namentlich
der für die Musik überall unentbehrliche Gefühlsausdruck bedingt ist, doch das
eine oder andere das vorherrschend bestimmende ist. Ueberwiegt die Form, so
entsteht daraus nach der einen Seite der strenge, hohe, ideale (plastische), nach
der andern der anmuthige, reizende, drastische (auf Effect ausgehende) Styl; über-
wiegt der Inhalt, so ergibt sich der freie und weiterhin entweder der ausdrucks-
reiche, gefühlsweiche, sentimentale, rührende, pathetische, oder der charakteristische,
naturalistische, individualisirende (malerische) Styl; das Gleichgewicht gibt den schö-
nen Styl, der von den übrigen die mit ihm selbst verträglichen Elemente, Idealität,
Anmuth, Charakteristik, an sich hat und sie doch zugleich zur Einheit verschmilzt.
Mannigfache Mischungen, namentlich der Strenge und Hoheit mit Charak-
teristik und innigerem Ausdruck, der Anmuth mit Weichheit, des Drastischen
mit Naturalismus, sind möglich und gehören mit zur Vollständigkeit der Stylarten.

Die im §. gegebene, an §. 531 sich anschließende Eintheilung bedarf
nach Dem, was im vorigen über das Stylgesetz gesagt wurde, keiner nähern
Rechtfertigung. Die Musik wäre nicht die freie Kunst, die sie ist, wenn
diese Freiheit sich nicht auch in der Möglichkeit mannigfacher Stylarten
bewährte. Die Hauptunterscheidung des §. fällt mit der des directen und
indirecten Idealismus zusammen, deren auch das Moment des Charakteristi-
schen in sich aufnehmendes Gleichgewicht mit Recht der eigentlich schöne
Styl zu nennen ist. Wenn der §. deßungeachtet nicht die Kategorie von
directem und indirectem Idealismus, sondern das Verhältniß von Inhalt
und Form voranstellt und zum Ausgangspunkte nimmt, so hat dieß seinen
Grund darin, daß bei der Musik, weil sie nicht objectiv darstellende Kunst
ist, die Frage eben nach jenem Verhältniß, d. h. die Frage, ob die Musik
überhaupt einen Inhalt habe, und wieweit und wie ein solcher in ihr zur
Darstellung komme, die Grundfrage ist, so daß die Begriffe von directem
und indirectem Idealismus eine eben hierauf beruhende weitere Bedeutung
haben als z. B. in der Malerei; in letzterer handelt es sich blos um die
Frage, ob jedes einzelne Object formschön dargestellt werden müsse oder
nicht, so daß hier directer Idealismus die Bedeutung der Schönheit des
einzelnen Objects hat; in der Musik dagegen fragt es sich, ob überhaupt
ein bestimmter objectiver Inhalt dargestellt oder blos das Tonmaterial nach
den Gesetzen des Wohllauts, des melodischen Flusses, der Symmetrie, Perio-
dicität, kunstreichen Stimmencomplexion u. s. w. formal schön gegliedert
werden soll, und hiemit erhält der Begriff des directen Idealismus in ihr den
Sinn des Prinzips der reinen Formschönheit, die nie einem Inhalte (z. B. ernster
oder scherzhafter Charakteristik) zu lieb von der Linie der Idealität abweicht.

Eine Analogie des strengen Styls in seinem Gegensatz zum freien
ist uns bei den polyphonen Formen vorgekommen, bei welchen eine gebun-

aus, in welchen trotz des Ineinanders beider Momente, durch das namentlich
der für die Muſik überall unentbehrliche Gefühlsausdruck bedingt iſt, doch das
eine oder andere das vorherrſchend beſtimmende iſt. Ueberwiegt die Form, ſo
entſteht daraus nach der einen Seite der ſtrenge, hohe, ideale (plaſtiſche), nach
der andern der anmuthige, reizende, draſtiſche (auf Effect ausgehende) Styl; über-
wiegt der Inhalt, ſo ergibt ſich der freie und weiterhin entweder der ausdrucks-
reiche, gefühlsweiche, ſentimentale, rührende, pathetiſche, oder der charakteriſtiſche,
naturaliſtiſche, individualiſirende (maleriſche) Styl; das Gleichgewicht gibt den ſchö-
nen Styl, der von den übrigen die mit ihm ſelbſt verträglichen Elemente, Idealität,
Anmuth, Charakteriſtik, an ſich hat und ſie doch zugleich zur Einheit verſchmilzt.
Mannigfache Miſchungen, namentlich der Strenge und Hoheit mit Charak-
teriſtik und innigerem Ausdruck, der Anmuth mit Weichheit, des Draſtiſchen
mit Naturaliſmus, ſind möglich und gehören mit zur Vollſtändigkeit der Stylarten.

Die im §. gegebene, an §. 531 ſich anſchließende Eintheilung bedarf
nach Dem, was im vorigen über das Stylgeſetz geſagt wurde, keiner nähern
Rechtfertigung. Die Muſik wäre nicht die freie Kunſt, die ſie iſt, wenn
dieſe Freiheit ſich nicht auch in der Möglichkeit mannigfacher Stylarten
bewährte. Die Hauptunterſcheidung des §. fällt mit der des directen und
indirecten Idealiſmus zuſammen, deren auch das Moment des Charakteriſti-
ſchen in ſich aufnehmendes Gleichgewicht mit Recht der eigentlich ſchöne
Styl zu nennen iſt. Wenn der §. deßungeachtet nicht die Kategorie von
directem und indirectem Idealiſmus, ſondern das Verhältniß von Inhalt
und Form voranſtellt und zum Ausgangspunkte nimmt, ſo hat dieß ſeinen
Grund darin, daß bei der Muſik, weil ſie nicht objectiv darſtellende Kunſt
iſt, die Frage eben nach jenem Verhältniß, d. h. die Frage, ob die Muſik
überhaupt einen Inhalt habe, und wieweit und wie ein ſolcher in ihr zur
Darſtellung komme, die Grundfrage iſt, ſo daß die Begriffe von directem
und indirectem Idealiſmus eine eben hierauf beruhende weitere Bedeutung
haben als z. B. in der Malerei; in letzterer handelt es ſich blos um die
Frage, ob jedes einzelne Object formſchön dargeſtellt werden müſſe oder
nicht, ſo daß hier directer Idealiſmus die Bedeutung der Schönheit des
einzelnen Objects hat; in der Muſik dagegen fragt es ſich, ob überhaupt
ein beſtimmter objectiver Inhalt dargeſtellt oder blos das Tonmaterial nach
den Geſetzen des Wohllauts, des melodiſchen Fluſſes, der Symmetrie, Perio-
dicität, kunſtreichen Stimmencomplexion u. ſ. w. formal ſchön gegliedert
werden ſoll, und hiemit erhält der Begriff des directen Idealiſmus in ihr den
Sinn des Prinzips der reinen Formſchönheit, die nie einem Inhalte (z. B. ernſter
oder ſcherzhafter Charakteriſtik) zu lieb von der Linie der Idealität abweicht.

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iſt uns bei den polyphonen Formen vorgekommen, bei welchen eine gebun-

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[972/0210] aus, in welchen trotz des Ineinanders beider Momente, durch das namentlich der für die Muſik überall unentbehrliche Gefühlsausdruck bedingt iſt, doch das eine oder andere das vorherrſchend beſtimmende iſt. Ueberwiegt die Form, ſo entſteht daraus nach der einen Seite der ſtrenge, hohe, ideale (plaſtiſche), nach der andern der anmuthige, reizende, draſtiſche (auf Effect ausgehende) Styl; über- wiegt der Inhalt, ſo ergibt ſich der freie und weiterhin entweder der ausdrucks- reiche, gefühlsweiche, ſentimentale, rührende, pathetiſche, oder der charakteriſtiſche, naturaliſtiſche, individualiſirende (maleriſche) Styl; das Gleichgewicht gibt den ſchö- nen Styl, der von den übrigen die mit ihm ſelbſt verträglichen Elemente, Idealität, Anmuth, Charakteriſtik, an ſich hat und ſie doch zugleich zur Einheit verſchmilzt. Mannigfache Miſchungen, namentlich der Strenge und Hoheit mit Charak- teriſtik und innigerem Ausdruck, der Anmuth mit Weichheit, des Draſtiſchen mit Naturaliſmus, ſind möglich und gehören mit zur Vollſtändigkeit der Stylarten. Die im §. gegebene, an §. 531 ſich anſchließende Eintheilung bedarf nach Dem, was im vorigen über das Stylgeſetz geſagt wurde, keiner nähern Rechtfertigung. Die Muſik wäre nicht die freie Kunſt, die ſie iſt, wenn dieſe Freiheit ſich nicht auch in der Möglichkeit mannigfacher Stylarten bewährte. Die Hauptunterſcheidung des §. fällt mit der des directen und indirecten Idealiſmus zuſammen, deren auch das Moment des Charakteriſti- ſchen in ſich aufnehmendes Gleichgewicht mit Recht der eigentlich ſchöne Styl zu nennen iſt. Wenn der §. deßungeachtet nicht die Kategorie von directem und indirectem Idealiſmus, ſondern das Verhältniß von Inhalt und Form voranſtellt und zum Ausgangspunkte nimmt, ſo hat dieß ſeinen Grund darin, daß bei der Muſik, weil ſie nicht objectiv darſtellende Kunſt iſt, die Frage eben nach jenem Verhältniß, d. h. die Frage, ob die Muſik überhaupt einen Inhalt habe, und wieweit und wie ein ſolcher in ihr zur Darſtellung komme, die Grundfrage iſt, ſo daß die Begriffe von directem und indirectem Idealiſmus eine eben hierauf beruhende weitere Bedeutung haben als z. B. in der Malerei; in letzterer handelt es ſich blos um die Frage, ob jedes einzelne Object formſchön dargeſtellt werden müſſe oder nicht, ſo daß hier directer Idealiſmus die Bedeutung der Schönheit des einzelnen Objects hat; in der Muſik dagegen fragt es ſich, ob überhaupt ein beſtimmter objectiver Inhalt dargeſtellt oder blos das Tonmaterial nach den Geſetzen des Wohllauts, des melodiſchen Fluſſes, der Symmetrie, Perio- dicität, kunſtreichen Stimmencomplexion u. ſ. w. formal ſchön gegliedert werden ſoll, und hiemit erhält der Begriff des directen Idealiſmus in ihr den Sinn des Prinzips der reinen Formſchönheit, die nie einem Inhalte (z. B. ernſter oder ſcherzhafter Charakteriſtik) zu lieb von der Linie der Idealität abweicht. Eine Analogie des ſtrengen Styls in ſeinem Gegenſatz zum freien iſt uns bei den polyphonen Formen vorgekommen, bei welchen eine gebun-

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 972. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/210>, abgerufen am 29.03.2024.