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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857.

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lende) Charakterisirung einzelner Momente, concretere harmonische und rhyth-
mische Kunst, sowie auch Darlegung rein formeller Gesangskunst (Virtuo-
sität) ist nicht ausgeschlossen, aber dieß Alles kann hier nur in beschränkterer
Weise erreicht werden, da das Naturorgan auf kunstreichere, figurirtere Be-
wegungen nicht oder nur in geringerem Grad angelegt und vor Allem auf
den Ausdruck angewiesen ist; dieser ist im Gesang das Wesentliche; der
Gesang muß vor Allem, was er von Natur ist, sein und bleiben, seelisch,
in die Empfindung versenkt, sie unmittelbar aushauchend; die tönebil-
dende Phantasie dient hier dem Empfinden blos als Mittel
der Aeußerung seiner selbst
. Die Instrumentalmusik dagegen spielt;
die empfindende Phantasie hat hier ein Organ vor sich, an dem sie die
Fähigkeit zur Tonerzeugung gewahr geworden oder dem dieselbe durch ab-
sichtliche Technik gegeben ist; dieses Organ setzt sie in Bewegung, wohl
auch getrieben durch das Gefühl, das sich in Tönen aussprechen will, aber
die Empfindung tritt doch nicht so unmittelbar und nicht so sich selbst gleich
heraus, wie im Gesang; das äußere Werkzeug folgt nicht so unmittelbar
dem innern Gefühle, schmiegt sich ihm nicht so rein und unbedingt an wie
das Stimmorgan, etwas von der Unmittelbarkeit des Ausdrucks oder etwas
von Innigkeit geht bei der mechanischen Uebertragung der musikalischen
Empfindung auf das Organ, das zudem als materielle Masse Widerstand
entgegensetzt, immer verloren, und das Organ ist immer ein Selbständiges,
das zunächst seinen eigenen, nicht des Menschen Ton von sich gibt und
somit auch nur ein Abbild, nicht aber den directen Ausdruck der den Menschen
bewegenden Stimmung geben kann. Sodann steht der Spielende den Tö-
nen seines Organs freier gegenüber als der Singende; er ist nicht selbst
in den Ton, den er hervorbringt, versenkt, nicht unmittelbar mit ihm ver-
wachsen, sondern er hat ihn sich gegenüber als ein Anderes, er verhält sich
zu ihm nicht unmittelbar producirend, sondern weit mehr zugleich reflectirend,
beobachtend, die Töne des Instruments treten ihm abgelöst von der eigenen
Subjectivität als Figuren, Bilder gegenüber, deren Gestalt und Bewegung
die Phantasie neben dem daß sie sie producirt weit freier verfolgen kann
und wirklich mit spezifischem Interesse verfolgt, weil es eben Figuren, Bilder
sind. Die Phantasie ist also hier weit mehr für sich thätig als beim Ge-
sang und erhebt weit mehr Ansprüche darauf, daß auch ihr etwas sie spe-
zifisch Angehendes geboten werde. Kurz, nicht Gefühlserguß, sondern min-
destens ebensosehr Phantasiebeschäftigung ist hier Zweck; die Tonbilder sollen
allerdings, weil Töne nichts Anderes als Gefühle malen können, durchaus
Abbilder einer Gemüthsstimmung sein, aber ausgeführtere, selbständigere,
durch concretere Formen und Figuren die Phantasie als solche anregende,
beschäftigende, in freie Thätigkeit, "freies Spiel" versetzende Bilder. Endlich
bieten die Instrumente dem Spieler durch ihre leichtere, beliebigere Hand-

lende) Charakteriſirung einzelner Momente, concretere harmoniſche und rhyth-
miſche Kunſt, ſowie auch Darlegung rein formeller Geſangskunſt (Virtuo-
ſität) iſt nicht ausgeſchloſſen, aber dieß Alles kann hier nur in beſchränkterer
Weiſe erreicht werden, da das Naturorgan auf kunſtreichere, figurirtere Be-
wegungen nicht oder nur in geringerem Grad angelegt und vor Allem auf
den Ausdruck angewieſen iſt; dieſer iſt im Geſang das Weſentliche; der
Geſang muß vor Allem, was er von Natur iſt, ſein und bleiben, ſeeliſch,
in die Empfindung verſenkt, ſie unmittelbar aushauchend; die tönebil-
dende Phantaſie dient hier dem Empfinden blos als Mittel
der Aeußerung ſeiner ſelbſt
. Die Inſtrumentalmuſik dagegen ſpielt;
die empfindende Phantaſie hat hier ein Organ vor ſich, an dem ſie die
Fähigkeit zur Tonerzeugung gewahr geworden oder dem dieſelbe durch ab-
ſichtliche Technik gegeben iſt; dieſes Organ ſetzt ſie in Bewegung, wohl
auch getrieben durch das Gefühl, das ſich in Tönen ausſprechen will, aber
die Empfindung tritt doch nicht ſo unmittelbar und nicht ſo ſich ſelbſt gleich
heraus, wie im Geſang; das äußere Werkzeug folgt nicht ſo unmittelbar
dem innern Gefühle, ſchmiegt ſich ihm nicht ſo rein und unbedingt an wie
das Stimmorgan, etwas von der Unmittelbarkeit des Ausdrucks oder etwas
von Innigkeit geht bei der mechaniſchen Uebertragung der muſikaliſchen
Empfindung auf das Organ, das zudem als materielle Maſſe Widerſtand
entgegenſetzt, immer verloren, und das Organ iſt immer ein Selbſtändiges,
das zunächſt ſeinen eigenen, nicht des Menſchen Ton von ſich gibt und
ſomit auch nur ein Abbild, nicht aber den directen Ausdruck der den Menſchen
bewegenden Stimmung geben kann. Sodann ſteht der Spielende den Tö-
nen ſeines Organs freier gegenüber als der Singende; er iſt nicht ſelbſt
in den Ton, den er hervorbringt, verſenkt, nicht unmittelbar mit ihm ver-
wachſen, ſondern er hat ihn ſich gegenüber als ein Anderes, er verhält ſich
zu ihm nicht unmittelbar producirend, ſondern weit mehr zugleich reflectirend,
beobachtend, die Töne des Inſtruments treten ihm abgelöst von der eigenen
Subjectivität als Figuren, Bilder gegenüber, deren Geſtalt und Bewegung
die Phantaſie neben dem daß ſie ſie producirt weit freier verfolgen kann
und wirklich mit ſpezifiſchem Intereſſe verfolgt, weil es eben Figuren, Bilder
ſind. Die Phantaſie iſt alſo hier weit mehr für ſich thätig als beim Ge-
ſang und erhebt weit mehr Anſprüche darauf, daß auch ihr etwas ſie ſpe-
zifiſch Angehendes geboten werde. Kurz, nicht Gefühlserguß, ſondern min-
deſtens ebenſoſehr Phantaſiebeſchäftigung iſt hier Zweck; die Tonbilder ſollen
allerdings, weil Töne nichts Anderes als Gefühle malen können, durchaus
Abbilder einer Gemüthsſtimmung ſein, aber ausgeführtere, ſelbſtändigere,
durch concretere Formen und Figuren die Phantaſie als ſolche anregende,
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bieten die Inſtrumente dem Spieler durch ihre leichtere, beliebigere Hand-

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[981/0219] lende) Charakteriſirung einzelner Momente, concretere harmoniſche und rhyth- miſche Kunſt, ſowie auch Darlegung rein formeller Geſangskunſt (Virtuo- ſität) iſt nicht ausgeſchloſſen, aber dieß Alles kann hier nur in beſchränkterer Weiſe erreicht werden, da das Naturorgan auf kunſtreichere, figurirtere Be- wegungen nicht oder nur in geringerem Grad angelegt und vor Allem auf den Ausdruck angewieſen iſt; dieſer iſt im Geſang das Weſentliche; der Geſang muß vor Allem, was er von Natur iſt, ſein und bleiben, ſeeliſch, in die Empfindung verſenkt, ſie unmittelbar aushauchend; die tönebil- dende Phantaſie dient hier dem Empfinden blos als Mittel der Aeußerung ſeiner ſelbſt. Die Inſtrumentalmuſik dagegen ſpielt; die empfindende Phantaſie hat hier ein Organ vor ſich, an dem ſie die Fähigkeit zur Tonerzeugung gewahr geworden oder dem dieſelbe durch ab- ſichtliche Technik gegeben iſt; dieſes Organ ſetzt ſie in Bewegung, wohl auch getrieben durch das Gefühl, das ſich in Tönen ausſprechen will, aber die Empfindung tritt doch nicht ſo unmittelbar und nicht ſo ſich ſelbſt gleich heraus, wie im Geſang; das äußere Werkzeug folgt nicht ſo unmittelbar dem innern Gefühle, ſchmiegt ſich ihm nicht ſo rein und unbedingt an wie das Stimmorgan, etwas von der Unmittelbarkeit des Ausdrucks oder etwas von Innigkeit geht bei der mechaniſchen Uebertragung der muſikaliſchen Empfindung auf das Organ, das zudem als materielle Maſſe Widerſtand entgegenſetzt, immer verloren, und das Organ iſt immer ein Selbſtändiges, das zunächſt ſeinen eigenen, nicht des Menſchen Ton von ſich gibt und ſomit auch nur ein Abbild, nicht aber den directen Ausdruck der den Menſchen bewegenden Stimmung geben kann. Sodann ſteht der Spielende den Tö- nen ſeines Organs freier gegenüber als der Singende; er iſt nicht ſelbſt in den Ton, den er hervorbringt, verſenkt, nicht unmittelbar mit ihm ver- wachſen, ſondern er hat ihn ſich gegenüber als ein Anderes, er verhält ſich zu ihm nicht unmittelbar producirend, ſondern weit mehr zugleich reflectirend, beobachtend, die Töne des Inſtruments treten ihm abgelöst von der eigenen Subjectivität als Figuren, Bilder gegenüber, deren Geſtalt und Bewegung die Phantaſie neben dem daß ſie ſie producirt weit freier verfolgen kann und wirklich mit ſpezifiſchem Intereſſe verfolgt, weil es eben Figuren, Bilder ſind. Die Phantaſie iſt alſo hier weit mehr für ſich thätig als beim Ge- ſang und erhebt weit mehr Anſprüche darauf, daß auch ihr etwas ſie ſpe- zifiſch Angehendes geboten werde. Kurz, nicht Gefühlserguß, ſondern min- deſtens ebenſoſehr Phantaſiebeſchäftigung iſt hier Zweck; die Tonbilder ſollen allerdings, weil Töne nichts Anderes als Gefühle malen können, durchaus Abbilder einer Gemüthsſtimmung ſein, aber ausgeführtere, ſelbſtändigere, durch concretere Formen und Figuren die Phantaſie als ſolche anregende, beſchäftigende, in freie Thätigkeit, „freies Spiel“ verſetzende Bilder. Endlich bieten die Inſtrumente dem Spieler durch ihre leichtere, beliebigere Hand-

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 981. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/219>, abgerufen am 19.04.2024.