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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857.

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heit und Bedeutsamkeit legen, sie und ihre Rhythmisirung vereinfachen, ja
es muß Letzteres thun, wenn es allgemein singbares Volks- oder Gemeinde-
lied werden will. Davon gibt insbesondere das volksmäßige religiöse Chor-
lied, der Choral, eine klare Anschauung. Der Choral streift vermöge
innerer sachlicher Nothwendigkeit alle spezifischere melodische und rhythmische
Gliederung ab, er sucht den Gang des Gesangs und die Takteintheilung
möglichst einfach und gleichförmig zu gestalten, er gewinnt, was er hie-
durch an Mannigfaltigkeit und Belebtheit verliert, wieder theils durch die
sicherer und leichter gewordene Bewegung der Masse, theils durch die Würde
und Ruhe, die in diesem regelmäßigen Fortgange liegt, sowie durch rhythmisch
bewegtere und melodiösere Zwischenspiele zwischen den einzelnen Strophen,
welche der Massenbewegung zugleich die für sie nothwendigen Ruhe- und
Sammlungsmomente gewähren, und welche schon aus diesem Grunde nur
ein viel zu weit greifender Puritanismus vom Kirchengesange ausschließen
zu müssen glauben kann. Im Choral kommt so die dem Liede wesentliche
Einfachheit, verbunden mit idealer Großheit und mit einer von aller Ueber-
weichheit fernen ernstkräftigen Haltung, zu ihrer vollen Verwirklichung, der
Choral ist das Lied in seiner eigentlichsten Gestalt, auf seiner höchsten Potenz.
Die Harmonie der Instrumentalbegleitung überlassend, strömt er im klaren
Octavenzusammenklange aller Tonregionen machtvoll und gemessen einher,
das reinste Bild des Zusammengehens aller individuellen Empfindungen in
Ein sie befassendes Allgemeines, verschmähend alle spezielle Individualisirung,
blos Eine Gesammtstimmung darstellend, in der die persönlichen Gefühle
der Einzelnen wie zu Einem unauflösbaren Gusse verschmolzen sind. Den
Gegensatz zum Choral bildet dasjenige Chorlied, das einen großen oder den
größten Theil der Wirkung entweder in den Rhythmus oder in Harmonie
und Modulation legt; auch hier kann die Tonkunst innerhalb enger Schranken,
oft nur durch einzelne an rechter Stelle angebrachte Harmoniewendungen,
die schönsten und charakteristischsten Effecte hervorbringen, obwohl natürlich
Ebenmaaß, Fluß, bestimmter Charakter der Melodie die Haupteigenschaften
des Liedes zu bilden haben; das vorzugsweise durch Harmonie wirkende
Chorlied nähert sich bereits dem "Chore" selbst, in welchem die verschiedenen
Tonmittel und Tonformen zu entwickelterer Anwendung gelangen.

Das Lied als die Realisation der einfachen Melodie ist wie diese
(§. 779) Anfang, Mitte und Ende aller Musik; mit ihm erst gewinnt sie
Klarheit, Seele, Innigkeit; zur Liedform kehrt sie überall, auch in In-
strumentalwerken, zurück von den zusammengesetztern Kunstformen; aus ihr
bildet sie durch Figurirung, Variirung, Nachahmung u. s. w. diese höhern
Formen selbst heraus; Lieder jeder Art, besonders Volkslieder, Chorale fügt
die Composition gerne (freilich oft auch mißbräuchlich als Nothbehelf) in
größere Tonwerke ein, als Momente der Ruhe, in welchen die erregtere,

heit und Bedeutſamkeit legen, ſie und ihre Rhythmiſirung vereinfachen, ja
es muß Letzteres thun, wenn es allgemein ſingbares Volks- oder Gemeinde-
lied werden will. Davon gibt insbeſondere das volksmäßige religiöſe Chor-
lied, der Choral, eine klare Anſchauung. Der Choral ſtreift vermöge
innerer ſachlicher Nothwendigkeit alle ſpezifiſchere melodiſche und rhythmiſche
Gliederung ab, er ſucht den Gang des Geſangs und die Takteintheilung
möglichſt einfach und gleichförmig zu geſtalten, er gewinnt, was er hie-
durch an Mannigfaltigkeit und Belebtheit verliert, wieder theils durch die
ſicherer und leichter gewordene Bewegung der Maſſe, theils durch die Würde
und Ruhe, die in dieſem regelmäßigen Fortgange liegt, ſowie durch rhythmiſch
bewegtere und melodiöſere Zwiſchenſpiele zwiſchen den einzelnen Strophen,
welche der Maſſenbewegung zugleich die für ſie nothwendigen Ruhe- und
Sammlungsmomente gewähren, und welche ſchon aus dieſem Grunde nur
ein viel zu weit greifender Puritaniſmus vom Kirchengeſange ausſchließen
zu müſſen glauben kann. Im Choral kommt ſo die dem Liede weſentliche
Einfachheit, verbunden mit idealer Großheit und mit einer von aller Ueber-
weichheit fernen ernſtkräftigen Haltung, zu ihrer vollen Verwirklichung, der
Choral iſt das Lied in ſeiner eigentlichſten Geſtalt, auf ſeiner höchſten Potenz.
Die Harmonie der Inſtrumentalbegleitung überlaſſend, ſtrömt er im klaren
Octavenzuſammenklange aller Tonregionen machtvoll und gemeſſen einher,
das reinſte Bild des Zuſammengehens aller individuellen Empfindungen in
Ein ſie befaſſendes Allgemeines, verſchmähend alle ſpezielle Individualiſirung,
blos Eine Geſammtſtimmung darſtellend, in der die perſönlichen Gefühle
der Einzelnen wie zu Einem unauflösbaren Guſſe verſchmolzen ſind. Den
Gegenſatz zum Choral bildet dasjenige Chorlied, das einen großen oder den
größten Theil der Wirkung entweder in den Rhythmus oder in Harmonie
und Modulation legt; auch hier kann die Tonkunſt innerhalb enger Schranken,
oft nur durch einzelne an rechter Stelle angebrachte Harmoniewendungen,
die ſchönſten und charakteriſtiſchſten Effecte hervorbringen, obwohl natürlich
Ebenmaaß, Fluß, beſtimmter Charakter der Melodie die Haupteigenſchaften
des Liedes zu bilden haben; das vorzugsweiſe durch Harmonie wirkende
Chorlied nähert ſich bereits dem „Chore“ ſelbſt, in welchem die verſchiedenen
Tonmittel und Tonformen zu entwickelterer Anwendung gelangen.

Das Lied als die Realiſation der einfachen Melodie iſt wie dieſe
(§. 779) Anfang, Mitte und Ende aller Muſik; mit ihm erſt gewinnt ſie
Klarheit, Seele, Innigkeit; zur Liedform kehrt ſie überall, auch in In-
ſtrumentalwerken, zurück von den zuſammengeſetztern Kunſtformen; aus ihr
bildet ſie durch Figurirung, Variirung, Nachahmung u. ſ. w. dieſe höhern
Formen ſelbſt heraus; Lieder jeder Art, beſonders Volkslieder, Chorale fügt
die Compoſition gerne (freilich oft auch mißbräuchlich als Nothbehelf) in
größere Tonwerke ein, als Momente der Ruhe, in welchen die erregtere,

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[994/0232] heit und Bedeutſamkeit legen, ſie und ihre Rhythmiſirung vereinfachen, ja es muß Letzteres thun, wenn es allgemein ſingbares Volks- oder Gemeinde- lied werden will. Davon gibt insbeſondere das volksmäßige religiöſe Chor- lied, der Choral, eine klare Anſchauung. Der Choral ſtreift vermöge innerer ſachlicher Nothwendigkeit alle ſpezifiſchere melodiſche und rhythmiſche Gliederung ab, er ſucht den Gang des Geſangs und die Takteintheilung möglichſt einfach und gleichförmig zu geſtalten, er gewinnt, was er hie- durch an Mannigfaltigkeit und Belebtheit verliert, wieder theils durch die ſicherer und leichter gewordene Bewegung der Maſſe, theils durch die Würde und Ruhe, die in dieſem regelmäßigen Fortgange liegt, ſowie durch rhythmiſch bewegtere und melodiöſere Zwiſchenſpiele zwiſchen den einzelnen Strophen, welche der Maſſenbewegung zugleich die für ſie nothwendigen Ruhe- und Sammlungsmomente gewähren, und welche ſchon aus dieſem Grunde nur ein viel zu weit greifender Puritaniſmus vom Kirchengeſange ausſchließen zu müſſen glauben kann. Im Choral kommt ſo die dem Liede weſentliche Einfachheit, verbunden mit idealer Großheit und mit einer von aller Ueber- weichheit fernen ernſtkräftigen Haltung, zu ihrer vollen Verwirklichung, der Choral iſt das Lied in ſeiner eigentlichſten Geſtalt, auf ſeiner höchſten Potenz. Die Harmonie der Inſtrumentalbegleitung überlaſſend, ſtrömt er im klaren Octavenzuſammenklange aller Tonregionen machtvoll und gemeſſen einher, das reinſte Bild des Zuſammengehens aller individuellen Empfindungen in Ein ſie befaſſendes Allgemeines, verſchmähend alle ſpezielle Individualiſirung, blos Eine Geſammtſtimmung darſtellend, in der die perſönlichen Gefühle der Einzelnen wie zu Einem unauflösbaren Guſſe verſchmolzen ſind. Den Gegenſatz zum Choral bildet dasjenige Chorlied, das einen großen oder den größten Theil der Wirkung entweder in den Rhythmus oder in Harmonie und Modulation legt; auch hier kann die Tonkunſt innerhalb enger Schranken, oft nur durch einzelne an rechter Stelle angebrachte Harmoniewendungen, die ſchönſten und charakteriſtiſchſten Effecte hervorbringen, obwohl natürlich Ebenmaaß, Fluß, beſtimmter Charakter der Melodie die Haupteigenſchaften des Liedes zu bilden haben; das vorzugsweiſe durch Harmonie wirkende Chorlied nähert ſich bereits dem „Chore“ ſelbſt, in welchem die verſchiedenen Tonmittel und Tonformen zu entwickelterer Anwendung gelangen. Das Lied als die Realiſation der einfachen Melodie iſt wie dieſe (§. 779) Anfang, Mitte und Ende aller Muſik; mit ihm erſt gewinnt ſie Klarheit, Seele, Innigkeit; zur Liedform kehrt ſie überall, auch in In- ſtrumentalwerken, zurück von den zuſammengeſetztern Kunſtformen; aus ihr bildet ſie durch Figurirung, Variirung, Nachahmung u. ſ. w. dieſe höhern Formen ſelbſt heraus; Lieder jeder Art, beſonders Volkslieder, Chorale fügt die Compoſition gerne (freilich oft auch mißbräuchlich als Nothbehelf) in größere Tonwerke ein, als Momente der Ruhe, in welchen die erregtere,

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 994. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/232>, abgerufen am 25.04.2024.