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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857.

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nicht im lyrischen Lied zu Tage tritt, gegeben ist. Die Arie ist nicht blos
einfache Melodie, wie das Lied, sondern auch figurirte; die Figuren mit ihren
schnell auf einander folgenden Wendungen stellen das Unruhige, aus dem
Gleichgewicht herausgehobene, unendlich Wechselvolle der Gemüthsbewegtheit,
die Rouladen das ganze und volle Sichausladen und Sichauslassen der
durch alle Tonregionen hindurcheilenden, das ganze Tongebiet durchmessen-
den, nur durch dieses Sichausbreiten zu größern Tondimensionen
sich selbst genügenden Empfindung so treffend dar, daß gegen ihre (richtige)
Anwendung in der That nichts mit Fug eingewendet werden kann. -- Um-
gangen werden konnte die Erörterung dieser Fragen, obwohl sie ganz einfach
mit der Frage, ob es eine Musik überhaupt geben solle oder nicht, zusam-
menfallen, an diesem Orte deswegen nicht, weil neuerdings "die musikalische
Melodie" für undramatisch erklärt worden ist; wir bestreiten die Möglich-
keit eines blos recitativisch-declamatorischen musikalischen Drama's gar
nicht, aber wir leugnen, daß es das einzige und höchste sei, wir können
ihm nur einen sehr engen Kreis, der über den der antiken Tragödie nicht
hinausginge, zuweisen, und wir müßten zudem namentlich rücksichtlich der
mehr lyrischen Partieen eines solchen einfachethischen Drama's (auf welches in
der That das Kunstwerk der Zukunft, wie es S. 208 u. s. f. sich exponirt, hinaus-
kommt) als Hauptbedingung seiner etwaigen Entstehung ein Wiederaufleben
einer einfachen ethischreligiösen Anschauungsweise und einer damit gegebenen
einfach humanen Gemüthsinnigkeit betrachten, zu welcher in Betracht der
gespannten Verhältnisse und der reflectirten, in sich gespaltenen Bildung des
modernen Lebens die Zeit wohl noch nicht da sein dürfte. In Bezug auf
die bisherige dramatische Musik aber ist der Theorie der Zukunftsmusiker
entgegenzuhalten, daß wir dramatisch declamatorische Musik schon längst in
Fülle haben, und daß sie also nicht erst geschaffen oder aus vermeintlichem
Untergange wieder hergestellt zu werden braucht; wir finden in Ensemble-
stücken, Quartetten, Terzetten, auch in Arien unsrer klassischen Opern sehr
häufig, nämlich in allen Stellen, wo der Gesang mehr dem parlando als
der Melodie sich nähert (ohne doch förmlich recitativisch zu werden), den
Sprechgesang ganz richtig angewendet; auch den Vergangenheitsmusikern
war es von selbst klar, daß in dramatischen Werken nicht Alles breit melo-
disch fließend und ebenso wenig Alles recitativisch gebrochen, mit recitativi-
scher, das Einzelne gesondert hervorhebender Umständlichkeit componirt wer-
den kann, und die Vertheidiger der Zukunftsmusik irren sich mithin gewaltig,
wenn sie uns sagen, unser jetziger musikalischer Geschmack sei durch die "musi-
kalische Melodie", die uns noch immer "in den Ohren klinge", so verdorben
und verwöhnt, daß er eine nicht absolut musikalische, declamatorische Melo-
die gar nicht mehr zu begreifen im Stande und daher auch einer richtigen
Würdigung der neuesten Richtung unfähig sei.


nicht im lyriſchen Lied zu Tage tritt, gegeben iſt. Die Arie iſt nicht blos
einfache Melodie, wie das Lied, ſondern auch figurirte; die Figuren mit ihren
ſchnell auf einander folgenden Wendungen ſtellen das Unruhige, aus dem
Gleichgewicht herausgehobene, unendlich Wechſelvolle der Gemüthsbewegtheit,
die Rouladen das ganze und volle Sichausladen und Sichauslaſſen der
durch alle Tonregionen hindurcheilenden, das ganze Tongebiet durchmeſſen-
den, nur durch dieſes Sichausbreiten zu größern Tondimenſionen
ſich ſelbſt genügenden Empfindung ſo treffend dar, daß gegen ihre (richtige)
Anwendung in der That nichts mit Fug eingewendet werden kann. — Um-
gangen werden konnte die Erörterung dieſer Fragen, obwohl ſie ganz einfach
mit der Frage, ob es eine Muſik überhaupt geben ſolle oder nicht, zuſam-
menfallen, an dieſem Orte deswegen nicht, weil neuerdings „die muſikaliſche
Melodie“ für undramatiſch erklärt worden iſt; wir beſtreiten die Möglich-
keit eines blos recitativiſch-declamatoriſchen muſikaliſchen Drama’s gar
nicht, aber wir leugnen, daß es das einzige und höchſte ſei, wir können
ihm nur einen ſehr engen Kreis, der über den der antiken Tragödie nicht
hinausginge, zuweiſen, und wir müßten zudem namentlich rückſichtlich der
mehr lyriſchen Partieen eines ſolchen einfachethiſchen Drama’s (auf welches in
der That das Kunſtwerk der Zukunft, wie es S. 208 u. ſ. f. ſich exponirt, hinaus-
kommt) als Hauptbedingung ſeiner etwaigen Entſtehung ein Wiederaufleben
einer einfachen ethiſchreligiöſen Anſchauungsweiſe und einer damit gegebenen
einfach humanen Gemüthsinnigkeit betrachten, zu welcher in Betracht der
geſpannten Verhältniſſe und der reflectirten, in ſich geſpaltenen Bildung des
modernen Lebens die Zeit wohl noch nicht da ſein dürfte. In Bezug auf
die bisherige dramatiſche Muſik aber iſt der Theorie der Zukunftsmuſiker
entgegenzuhalten, daß wir dramatiſch declamatoriſche Muſik ſchon längſt in
Fülle haben, und daß ſie alſo nicht erſt geſchaffen oder aus vermeintlichem
Untergange wieder hergeſtellt zu werden braucht; wir finden in Enſemble-
ſtücken, Quartetten, Terzetten, auch in Arien unſrer klaſſiſchen Opern ſehr
häufig, nämlich in allen Stellen, wo der Geſang mehr dem parlando als
der Melodie ſich nähert (ohne doch förmlich recitativiſch zu werden), den
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war es von ſelbſt klar, daß in dramatiſchen Werken nicht Alles breit melo-
diſch fließend und ebenſo wenig Alles recitativiſch gebrochen, mit recitativi-
ſcher, das Einzelne geſondert hervorhebender Umſtändlichkeit componirt wer-
den kann, und die Vertheidiger der Zukunftsmuſik irren ſich mithin gewaltig,
wenn ſie uns ſagen, unſer jetziger muſikaliſcher Geſchmack ſei durch die „muſi-
kaliſche Melodie“, die uns noch immer „in den Ohren klinge“, ſo verdorben
und verwöhnt, daß er eine nicht abſolut muſikaliſche, declamatoriſche Melo-
die gar nicht mehr zu begreifen im Stande und daher auch einer richtigen
Würdigung der neueſten Richtung unfähig ſei.


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[1010/0248] nicht im lyriſchen Lied zu Tage tritt, gegeben iſt. Die Arie iſt nicht blos einfache Melodie, wie das Lied, ſondern auch figurirte; die Figuren mit ihren ſchnell auf einander folgenden Wendungen ſtellen das Unruhige, aus dem Gleichgewicht herausgehobene, unendlich Wechſelvolle der Gemüthsbewegtheit, die Rouladen das ganze und volle Sichausladen und Sichauslaſſen der durch alle Tonregionen hindurcheilenden, das ganze Tongebiet durchmeſſen- den, nur durch dieſes Sichausbreiten zu größern Tondimenſionen ſich ſelbſt genügenden Empfindung ſo treffend dar, daß gegen ihre (richtige) Anwendung in der That nichts mit Fug eingewendet werden kann. — Um- gangen werden konnte die Erörterung dieſer Fragen, obwohl ſie ganz einfach mit der Frage, ob es eine Muſik überhaupt geben ſolle oder nicht, zuſam- menfallen, an dieſem Orte deswegen nicht, weil neuerdings „die muſikaliſche Melodie“ für undramatiſch erklärt worden iſt; wir beſtreiten die Möglich- keit eines blos recitativiſch-declamatoriſchen muſikaliſchen Drama’s gar nicht, aber wir leugnen, daß es das einzige und höchſte ſei, wir können ihm nur einen ſehr engen Kreis, der über den der antiken Tragödie nicht hinausginge, zuweiſen, und wir müßten zudem namentlich rückſichtlich der mehr lyriſchen Partieen eines ſolchen einfachethiſchen Drama’s (auf welches in der That das Kunſtwerk der Zukunft, wie es S. 208 u. ſ. f. ſich exponirt, hinaus- kommt) als Hauptbedingung ſeiner etwaigen Entſtehung ein Wiederaufleben einer einfachen ethiſchreligiöſen Anſchauungsweiſe und einer damit gegebenen einfach humanen Gemüthsinnigkeit betrachten, zu welcher in Betracht der geſpannten Verhältniſſe und der reflectirten, in ſich geſpaltenen Bildung des modernen Lebens die Zeit wohl noch nicht da ſein dürfte. In Bezug auf die bisherige dramatiſche Muſik aber iſt der Theorie der Zukunftsmuſiker entgegenzuhalten, daß wir dramatiſch declamatoriſche Muſik ſchon längſt in Fülle haben, und daß ſie alſo nicht erſt geſchaffen oder aus vermeintlichem Untergange wieder hergeſtellt zu werden braucht; wir finden in Enſemble- ſtücken, Quartetten, Terzetten, auch in Arien unſrer klaſſiſchen Opern ſehr häufig, nämlich in allen Stellen, wo der Geſang mehr dem parlando als der Melodie ſich nähert (ohne doch förmlich recitativiſch zu werden), den Sprechgeſang ganz richtig angewendet; auch den Vergangenheitsmuſikern war es von ſelbſt klar, daß in dramatiſchen Werken nicht Alles breit melo- diſch fließend und ebenſo wenig Alles recitativiſch gebrochen, mit recitativi- ſcher, das Einzelne geſondert hervorhebender Umſtändlichkeit componirt wer- den kann, und die Vertheidiger der Zukunftsmuſik irren ſich mithin gewaltig, wenn ſie uns ſagen, unſer jetziger muſikaliſcher Geſchmack ſei durch die „muſi- kaliſche Melodie“, die uns noch immer „in den Ohren klinge“, ſo verdorben und verwöhnt, daß er eine nicht abſolut muſikaliſche, declamatoriſche Melo- die gar nicht mehr zu begreifen im Stande und daher auch einer richtigen Würdigung der neueſten Richtung unfähig ſei.

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 1010. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/248>, abgerufen am 28.03.2024.