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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857.

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Eine besondere Bedeutung für die Musik haben Orgel und Clavier
dadurch, daß sich an ihnen, weil sie das ganze Tonsystem von unten bis
oben als ein coexistentes repräsentiren, dessen Einzelklänge harmonisch ge-
stimmt sein müssen, ehe sie zum Spiel brauchbar sind, die Nothwendigkeit
der gleichschwebenden Temperatur (S. 873 u. f.) vor Allem fühlbar macht.
Die subjectivern Organe, die Menschenstimme und unter den Instrumenten
besonders die Streichinstrumente, produciren die Töne stets von Neuem und
nicht mit dieser bestimmten Rücksicht auf den Zusammenklang des Gesammt-
tonsystems, da sie immer nur einzelne Regionen desselben durchwandern und
mit einander combiniren; sie gehen vom einzelnen Intervall, vom subjectiven
Wohlgefallen an seiner Reinheit und Schärfe aus und schreiten erst von
da zu weitern Tonverbindungen fort. Umgekehrt ist es bei den objectiven
polyphonen Instrumenten. In ihnen ist das Tonmaterial real objectivirt
seinem ganzen (gebräuchlichen) Umfange nach; es steht hier nicht mehr in
der Freiheit des Spielers, harmonische Unzuträglichkeiten, die sich aus der
Bestimmung der Intervalle nach ihrem unmittelbar gefälligen Eindruck für
das Tonganze ergeben, bei Seite liegen zu lassen oder hintennach zu heben,
es muß vielmehr von vorn herein dafür gesorgt sein, daß eine solche Un-
zuträglichkeit gar nicht entstehe, es muß vorerst ein harmonisches Ganzes
hergestellt sein, ehe die Bewegung in einzelnen seiner Regionen beginnen
kann. So ist auch nach dieser Seite die subjective Thätigkeit eine beschränkte
und bedingte, der Spieler empfängt vom Instrument Töne, die bereits ge-
stimmt und zwar nach dem Gesetz gestimmt sind, daß in allem Einzelspiel
die Beziehung auf den Gesammtzusammenklang aller Töne mitberücksichtigt
und ihr zu lieb die an sich subjectiv befriedigendere Schärfe der Einzelinter-
valle abgestumpft werde. Bei den Rohrblasinstrumenten ist diese Nöthigung
auch vorhanden, aber weniger dringend, wegen ihres kleinern Umfangs und
weil hier das Einzelinstrument keine consonirenden Töne hervorbringen kann;
erst die umfassenden polyphonen Organe beugen die Tonbewegung voll-
kommen unter das objective Gesetz allseitiger Harmonie und weisen auch
hiemit darauf hin, daß sie vor Allem als harmonische Instrumente zu
gebrauchen sind.

Weitere polyphone Organe, wie namentlich die verschiedenen Arten
der "Harmonika", sind hier nur kurz zu erwähnen, da ihr Material, theils
metallene Zungen, theils Stäbe aus Holz, Glas, Eisen u. s. f., entweder
die Klarheit oder die Kraft nicht hat, die zu einem Instrument von eigen-
thümlicher Bedeutung innerhalb des Ganzen der Musikorgane erforderlich
wäre. Wichtiger sind die Schlaginstrumente, welche die Schallkraft
und Klangfülle des Orchesters vermehren und hie und da sogar allein,
einleitend, vorbereitend, alternirend auftreten können, Pauke, Trommel,
Triangel u. s. w.; in ihnen gesellt sich das Orchester wiederum mehr

Eine beſondere Bedeutung für die Muſik haben Orgel und Clavier
dadurch, daß ſich an ihnen, weil ſie das ganze Tonſyſtem von unten bis
oben als ein coexiſtentes repräſentiren, deſſen Einzelklänge harmoniſch ge-
ſtimmt ſein müſſen, ehe ſie zum Spiel brauchbar ſind, die Nothwendigkeit
der gleichſchwebenden Temperatur (S. 873 u. f.) vor Allem fühlbar macht.
Die ſubjectivern Organe, die Menſchenſtimme und unter den Inſtrumenten
beſonders die Streichinſtrumente, produciren die Töne ſtets von Neuem und
nicht mit dieſer beſtimmten Rückſicht auf den Zuſammenklang des Geſammt-
tonſyſtems, da ſie immer nur einzelne Regionen deſſelben durchwandern und
mit einander combiniren; ſie gehen vom einzelnen Intervall, vom ſubjectiven
Wohlgefallen an ſeiner Reinheit und Schärfe aus und ſchreiten erſt von
da zu weitern Tonverbindungen fort. Umgekehrt iſt es bei den objectiven
polyphonen Inſtrumenten. In ihnen iſt das Tonmaterial real objectivirt
ſeinem ganzen (gebräuchlichen) Umfange nach; es ſteht hier nicht mehr in
der Freiheit des Spielers, harmoniſche Unzuträglichkeiten, die ſich aus der
Beſtimmung der Intervalle nach ihrem unmittelbar gefälligen Eindruck für
das Tonganze ergeben, bei Seite liegen zu laſſen oder hintennach zu heben,
es muß vielmehr von vorn herein dafür geſorgt ſein, daß eine ſolche Un-
zuträglichkeit gar nicht entſtehe, es muß vorerſt ein harmoniſches Ganzes
hergeſtellt ſein, ehe die Bewegung in einzelnen ſeiner Regionen beginnen
kann. So iſt auch nach dieſer Seite die ſubjective Thätigkeit eine beſchränkte
und bedingte, der Spieler empfängt vom Inſtrument Töne, die bereits ge-
ſtimmt und zwar nach dem Geſetz geſtimmt ſind, daß in allem Einzelſpiel
die Beziehung auf den Geſammtzuſammenklang aller Töne mitberückſichtigt
und ihr zu lieb die an ſich ſubjectiv befriedigendere Schärfe der Einzelinter-
valle abgeſtumpft werde. Bei den Rohrblasinſtrumenten iſt dieſe Nöthigung
auch vorhanden, aber weniger dringend, wegen ihres kleinern Umfangs und
weil hier das Einzelinſtrument keine conſonirenden Töne hervorbringen kann;
erſt die umfaſſenden polyphonen Organe beugen die Tonbewegung voll-
kommen unter das objective Geſetz allſeitiger Harmonie und weiſen auch
hiemit darauf hin, daß ſie vor Allem als harmoniſche Inſtrumente zu
gebrauchen ſind.

Weitere polyphone Organe, wie namentlich die verſchiedenen Arten
der „Harmonika“, ſind hier nur kurz zu erwähnen, da ihr Material, theils
metallene Zungen, theils Stäbe aus Holz, Glas, Eiſen u. ſ. f., entweder
die Klarheit oder die Kraft nicht hat, die zu einem Inſtrument von eigen-
thümlicher Bedeutung innerhalb des Ganzen der Muſikorgane erforderlich
wäre. Wichtiger ſind die Schlaginſtrumente, welche die Schallkraft
und Klangfülle des Orcheſters vermehren und hie und da ſogar allein,
einleitend, vorbereitend, alternirend auftreten können, Pauke, Trommel,
Triangel u. ſ. w.; in ihnen geſellt ſich das Orcheſter wiederum mehr

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[1048/0286] Eine beſondere Bedeutung für die Muſik haben Orgel und Clavier dadurch, daß ſich an ihnen, weil ſie das ganze Tonſyſtem von unten bis oben als ein coexiſtentes repräſentiren, deſſen Einzelklänge harmoniſch ge- ſtimmt ſein müſſen, ehe ſie zum Spiel brauchbar ſind, die Nothwendigkeit der gleichſchwebenden Temperatur (S. 873 u. f.) vor Allem fühlbar macht. Die ſubjectivern Organe, die Menſchenſtimme und unter den Inſtrumenten beſonders die Streichinſtrumente, produciren die Töne ſtets von Neuem und nicht mit dieſer beſtimmten Rückſicht auf den Zuſammenklang des Geſammt- tonſyſtems, da ſie immer nur einzelne Regionen deſſelben durchwandern und mit einander combiniren; ſie gehen vom einzelnen Intervall, vom ſubjectiven Wohlgefallen an ſeiner Reinheit und Schärfe aus und ſchreiten erſt von da zu weitern Tonverbindungen fort. Umgekehrt iſt es bei den objectiven polyphonen Inſtrumenten. In ihnen iſt das Tonmaterial real objectivirt ſeinem ganzen (gebräuchlichen) Umfange nach; es ſteht hier nicht mehr in der Freiheit des Spielers, harmoniſche Unzuträglichkeiten, die ſich aus der Beſtimmung der Intervalle nach ihrem unmittelbar gefälligen Eindruck für das Tonganze ergeben, bei Seite liegen zu laſſen oder hintennach zu heben, es muß vielmehr von vorn herein dafür geſorgt ſein, daß eine ſolche Un- zuträglichkeit gar nicht entſtehe, es muß vorerſt ein harmoniſches Ganzes hergeſtellt ſein, ehe die Bewegung in einzelnen ſeiner Regionen beginnen kann. So iſt auch nach dieſer Seite die ſubjective Thätigkeit eine beſchränkte und bedingte, der Spieler empfängt vom Inſtrument Töne, die bereits ge- ſtimmt und zwar nach dem Geſetz geſtimmt ſind, daß in allem Einzelſpiel die Beziehung auf den Geſammtzuſammenklang aller Töne mitberückſichtigt und ihr zu lieb die an ſich ſubjectiv befriedigendere Schärfe der Einzelinter- valle abgeſtumpft werde. Bei den Rohrblasinſtrumenten iſt dieſe Nöthigung auch vorhanden, aber weniger dringend, wegen ihres kleinern Umfangs und weil hier das Einzelinſtrument keine conſonirenden Töne hervorbringen kann; erſt die umfaſſenden polyphonen Organe beugen die Tonbewegung voll- kommen unter das objective Geſetz allſeitiger Harmonie und weiſen auch hiemit darauf hin, daß ſie vor Allem als harmoniſche Inſtrumente zu gebrauchen ſind. Weitere polyphone Organe, wie namentlich die verſchiedenen Arten der „Harmonika“, ſind hier nur kurz zu erwähnen, da ihr Material, theils metallene Zungen, theils Stäbe aus Holz, Glas, Eiſen u. ſ. f., entweder die Klarheit oder die Kraft nicht hat, die zu einem Inſtrument von eigen- thümlicher Bedeutung innerhalb des Ganzen der Muſikorgane erforderlich wäre. Wichtiger ſind die Schlaginſtrumente, welche die Schallkraft und Klangfülle des Orcheſters vermehren und hie und da ſogar allein, einleitend, vorbereitend, alternirend auftreten können, Pauke, Trommel, Triangel u. ſ. w.; in ihnen geſellt ſich das Orcheſter wiederum mehr

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 1048. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/286>, abgerufen am 19.04.2024.