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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857.

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Lebensgehalt erfüllte Grundstimmung des Individuums legt sich nun in
die einzelne Stimmung, wie sie durch den Moment und seine Anlässe
gegeben ist, und hiemit zieht sich der Begriff des Individuellen, d. h. des
Einzelnen, das seine nur ihm eigene Farbe hat, noch fester und enger an. --
Nun haben wir das Gefühl als eine rein subjective (obwohl an der
Schwelle der Oeffnung zum Object sich hinbewegende) Geistesform kennen
gelernt, die ebendarum "unsagbar" ist, wir haben jedoch immer in Aussicht
gestellt, daß sich eine andere Form, als das Wort, für ihre Mittheilung
finden werde; jetzt dagegen tritt noch dieß Individuelle hinzu und erhöht
die Schwierigkeit. Das rein Individuelle ist in gewissem Sinn immer
incommensurabel; in der Malerei aber konnte dieß Incommensurable kein
Hinderniß der Darstellung, Mittheilung, des Verständnisses sein, denn es
schlägt sich in der sichtbaren Form nieder, in der es uns überhaupt geläufig
umgibt, hier dagegen, wo Alles im Schooße der Innerlichkeit verläuft,
scheint nun der zu findenden Mittheilungsform in dieser neuen Instanz ein
unübersteigliches Hinderniß zu erwachsen, indem sich der Zweifel aufdrängt,
ob dieß Eigenste, diese dunkle Tiefe überhaupt und vollends ohne allen
Anhalt des deutlichen Unterscheidens von Objecten sich soll verständlich
machen können. Dennoch gilt hier ganz dasselbe, was von der sichtbaren
Form: jede unendliche Eigenheit der individuellen Gestalt ist doch nichts
Anderes, als eine so nur auf diesem Puncte gegebene Mischung und
Complication der allgemeinen Gattungsform und daher auch der Gattung
verständlich und einleuchtend, ebenso ist die individuellste Stimmung des
Gefühls doch nichts, als eine nur auf diesem Puncte eigenthümlich gege-
bene Proportionsmischung der Elemente des Gefühls, welche der Gattung
gemeinschaftlich sind, so daß auch die individuellste Gestaltung des Gefühls-
lebens von Jedem verstanden wird und verstanden werden muß, in welchem
überhaupt dasselbe nicht zurückgeblieben oder verkümmert ist; was aber die
Mittheilungsform betrifft, so muß, wenn überhaupt eine solche für das
Gefühl sich findet, dieselbe auch ihre Mittel zum Ausdrucke des Individuell-
sten mischen können. So kommt denn dem Schönen in Gefühlsform die-
selbe Allgemeinheit und Nothwendigkeit zu, wie, mit Kant zu reden, dem
Geschmacksurtheil in allen andern Gebieten.

2. Es könnte scheinen, als sei durch den Uebertritt in das neue Element
unser Grundbegriff des Schönen verloren gegangen. Allerdings steht,
wenn wir das Schöne als die Idee in der Form begrenzter Erscheinung
bestimmen, die objective Deutlichkeit der sichtbaren Erscheinung (welche
innerlich vorgestellt in der Poesie sich wieder herstellt) im Vordergrunde dessen,
was dieser Begriff umfaßt, und es bleibt bei dem, was in §. 746 gesagt
ist. Allein es ist doch die objective Welt, welche im Gefühl aufgelöst,
in ein anderes Element, in das Subjective übersetzt ist, es ist die Raum-

Lebensgehalt erfüllte Grundſtimmung des Individuums legt ſich nun in
die einzelne Stimmung, wie ſie durch den Moment und ſeine Anläſſe
gegeben iſt, und hiemit zieht ſich der Begriff des Individuellen, d. h. des
Einzelnen, das ſeine nur ihm eigene Farbe hat, noch feſter und enger an. —
Nun haben wir das Gefühl als eine rein ſubjective (obwohl an der
Schwelle der Oeffnung zum Object ſich hinbewegende) Geiſtesform kennen
gelernt, die ebendarum „unſagbar“ iſt, wir haben jedoch immer in Ausſicht
geſtellt, daß ſich eine andere Form, als das Wort, für ihre Mittheilung
finden werde; jetzt dagegen tritt noch dieß Individuelle hinzu und erhöht
die Schwierigkeit. Das rein Individuelle iſt in gewiſſem Sinn immer
incommenſurabel; in der Malerei aber konnte dieß Incommenſurable kein
Hinderniß der Darſtellung, Mittheilung, des Verſtändniſſes ſein, denn es
ſchlägt ſich in der ſichtbaren Form nieder, in der es uns überhaupt geläufig
umgibt, hier dagegen, wo Alles im Schooße der Innerlichkeit verläuft,
ſcheint nun der zu findenden Mittheilungsform in dieſer neuen Inſtanz ein
unüberſteigliches Hinderniß zu erwachſen, indem ſich der Zweifel aufdrängt,
ob dieß Eigenſte, dieſe dunkle Tiefe überhaupt und vollends ohne allen
Anhalt des deutlichen Unterſcheidens von Objecten ſich ſoll verſtändlich
machen können. Dennoch gilt hier ganz daſſelbe, was von der ſichtbaren
Form: jede unendliche Eigenheit der individuellen Geſtalt iſt doch nichts
Anderes, als eine ſo nur auf dieſem Puncte gegebene Miſchung und
Complication der allgemeinen Gattungsform und daher auch der Gattung
verſtändlich und einleuchtend, ebenſo iſt die individuellſte Stimmung des
Gefühls doch nichts, als eine nur auf dieſem Puncte eigenthümlich gege-
bene Proportionsmiſchung der Elemente des Gefühls, welche der Gattung
gemeinſchaftlich ſind, ſo daß auch die individuellſte Geſtaltung des Gefühls-
lebens von Jedem verſtanden wird und verſtanden werden muß, in welchem
überhaupt daſſelbe nicht zurückgeblieben oder verkümmert iſt; was aber die
Mittheilungsform betrifft, ſo muß, wenn überhaupt eine ſolche für das
Gefühl ſich findet, dieſelbe auch ihre Mittel zum Ausdrucke des Individuell-
ſten miſchen können. So kommt denn dem Schönen in Gefühlsform die-
ſelbe Allgemeinheit und Nothwendigkeit zu, wie, mit Kant zu reden, dem
Geſchmacksurtheil in allen andern Gebieten.

2. Es könnte ſcheinen, als ſei durch den Uebertritt in das neue Element
unſer Grundbegriff des Schönen verloren gegangen. Allerdings ſteht,
wenn wir das Schöne als die Idee in der Form begrenzter Erſcheinung
beſtimmen, die objective Deutlichkeit der ſichtbaren Erſcheinung (welche
innerlich vorgeſtellt in der Poeſie ſich wieder herſtellt) im Vordergrunde deſſen,
was dieſer Begriff umfaßt, und es bleibt bei dem, was in §. 746 geſagt
iſt. Allein es iſt doch die objective Welt, welche im Gefühl aufgelöst,
in ein anderes Element, in das Subjective überſetzt iſt, es iſt die Raum-

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[792/0030] Lebensgehalt erfüllte Grundſtimmung des Individuums legt ſich nun in die einzelne Stimmung, wie ſie durch den Moment und ſeine Anläſſe gegeben iſt, und hiemit zieht ſich der Begriff des Individuellen, d. h. des Einzelnen, das ſeine nur ihm eigene Farbe hat, noch feſter und enger an. — Nun haben wir das Gefühl als eine rein ſubjective (obwohl an der Schwelle der Oeffnung zum Object ſich hinbewegende) Geiſtesform kennen gelernt, die ebendarum „unſagbar“ iſt, wir haben jedoch immer in Ausſicht geſtellt, daß ſich eine andere Form, als das Wort, für ihre Mittheilung finden werde; jetzt dagegen tritt noch dieß Individuelle hinzu und erhöht die Schwierigkeit. Das rein Individuelle iſt in gewiſſem Sinn immer incommenſurabel; in der Malerei aber konnte dieß Incommenſurable kein Hinderniß der Darſtellung, Mittheilung, des Verſtändniſſes ſein, denn es ſchlägt ſich in der ſichtbaren Form nieder, in der es uns überhaupt geläufig umgibt, hier dagegen, wo Alles im Schooße der Innerlichkeit verläuft, ſcheint nun der zu findenden Mittheilungsform in dieſer neuen Inſtanz ein unüberſteigliches Hinderniß zu erwachſen, indem ſich der Zweifel aufdrängt, ob dieß Eigenſte, dieſe dunkle Tiefe überhaupt und vollends ohne allen Anhalt des deutlichen Unterſcheidens von Objecten ſich ſoll verſtändlich machen können. Dennoch gilt hier ganz daſſelbe, was von der ſichtbaren Form: jede unendliche Eigenheit der individuellen Geſtalt iſt doch nichts Anderes, als eine ſo nur auf dieſem Puncte gegebene Miſchung und Complication der allgemeinen Gattungsform und daher auch der Gattung verſtändlich und einleuchtend, ebenſo iſt die individuellſte Stimmung des Gefühls doch nichts, als eine nur auf dieſem Puncte eigenthümlich gege- bene Proportionsmiſchung der Elemente des Gefühls, welche der Gattung gemeinſchaftlich ſind, ſo daß auch die individuellſte Geſtaltung des Gefühls- lebens von Jedem verſtanden wird und verſtanden werden muß, in welchem überhaupt daſſelbe nicht zurückgeblieben oder verkümmert iſt; was aber die Mittheilungsform betrifft, ſo muß, wenn überhaupt eine ſolche für das Gefühl ſich findet, dieſelbe auch ihre Mittel zum Ausdrucke des Individuell- ſten miſchen können. So kommt denn dem Schönen in Gefühlsform die- ſelbe Allgemeinheit und Nothwendigkeit zu, wie, mit Kant zu reden, dem Geſchmacksurtheil in allen andern Gebieten. 2. Es könnte ſcheinen, als ſei durch den Uebertritt in das neue Element unſer Grundbegriff des Schönen verloren gegangen. Allerdings ſteht, wenn wir das Schöne als die Idee in der Form begrenzter Erſcheinung beſtimmen, die objective Deutlichkeit der ſichtbaren Erſcheinung (welche innerlich vorgeſtellt in der Poeſie ſich wieder herſtellt) im Vordergrunde deſſen, was dieſer Begriff umfaßt, und es bleibt bei dem, was in §. 746 geſagt iſt. Allein es iſt doch die objective Welt, welche im Gefühl aufgelöst, in ein anderes Element, in das Subjective überſetzt iſt, es iſt die Raum-

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 792. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/30>, abgerufen am 28.03.2024.