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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857.

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gleitung, die Figurirung verdrängt immer mehr den ebenmäßigen Cantus
planus
, der gregorianische Gesang ist bald nicht mehr als Grundlage der
italienischen Kirchenmusik zu erkennen; die freien Formen der recitativischen
und ariosen Monodie, des Vocalterzetts u. s. w. werden mit Vorliebe er-
griffen, die Harmonie und Modulation durch reichere Anwendung der zu-
sammengesetztern Accorde und durch Beseitigung des ausschließlichen Ge-
brauchs der Kirchentonarten mannigfaltiger und vielseitiger; die charakteristische
Gestaltung der einzelnen Tonstücke je nach ihrem Inhalt und der subjectiveren
Auffassung des Componisten verdrängt, namentlich in den sog. Kirchen-
concerten mehr und mehr die typische Behandlung, so daß die Kirchenmusik
allmälig einen reihen Kreis mannigfaltiger Productionen aus sich empor-
treibt, der im sechszehenten Jahrhundert noch unmöglich geschienen hatte.
Der einst durch die flandrischen Meister und durch Palestrina gegebene
Impuls zu gehaltvoller und polyphonisch tiefer Composition wirkt deßun-
geachtet auch außerhalb der römischen Schule fort; religiöse Compositionen
der Gabrieli, Lotti, Caldara aus der formenreichen venetianischen und der
Scarlatti, Astorga, Durante, Leo aus der gelehrten neapolitanischen Schule
athmen immer noch religiöse Kraft, Innigkeit und Würde, und erst allmälig
machen im Laufe des achtzehenten Jahrhunderts diese Eigenschaften bei
einem Marcello und Pergolesi entschiedener einer formellern Schönheit,
Anmuth und Weichheit Platz, welche mehr dem Oratorium und der Oper
als der kirchlichen Musik angehört. Damit hat die Musik in Italien ihren
Kreislauf vollendet; spätere Entwicklungen der italienischen Musik stehen
wesentlich unter französischem und deutschem Einfluß; die Mission Italiens
ist hier wie auf dem Gebiet der Malerei die Ergänzung des antiken plasti-
schen Prinzips durch das concretere, realistischere moderngermanische Prinzip
und die Zurückführung dieses letztern zur Schönheit der unmittelbar wohl-
gefälligen Erscheinung. In Folge dieser Tendenz war Italien auch die
Wiege der Oper geworden, die ja nur da entstehen konnte, wo der Drang
zu freimelodischer, einfach schöner Musik lebendig war. Aber hier reicht
nun das italienische Prinzip nicht vollkommen zu; Italien schuf die Oper,
ohne sie ihrem wahren Begriff nach realisiren zu können. Das trockene,
steife Recitativ treibt zur Arie fort, deren über das Lied weit hinaus-
gehende Bestimmtheit und Mannigfaltigkeit des Ausdrucks nur in Italien
zugleich mit dem schönen Fluß und dem leichten Schwung der Melodie,
ohne den sie eckig und unbeholfen bleibt, ausgebildet werden konnte; die
Vereinigung dieser beiden Elemente hat italienische Lebhaftigkeit und ita-
lienischer Formsinn geleistet. Aber je mehr die Gesangsmusik zu dieser
freien Schönheit sich entwickelt, desto mehr wird die schöne Form Selbst-
zweck, desto mehr geht die Vocalmusik über in Gesangsvirtuosität.
Nicht als ob blos das Mechanische der Technik Gegenstand des Interesses

gleitung, die Figurirung verdrängt immer mehr den ebenmäßigen Cantus
planus
, der gregorianiſche Geſang iſt bald nicht mehr als Grundlage der
italieniſchen Kirchenmuſik zu erkennen; die freien Formen der recitativiſchen
und arioſen Monodie, des Vocalterzetts u. ſ. w. werden mit Vorliebe er-
griffen, die Harmonie und Modulation durch reichere Anwendung der zu-
ſammengeſetztern Accorde und durch Beſeitigung des ausſchließlichen Ge-
brauchs der Kirchentonarten mannigfaltiger und vielſeitiger; die charakteriſtiſche
Geſtaltung der einzelnen Tonſtücke je nach ihrem Inhalt und der ſubjectiveren
Auffaſſung des Componiſten verdrängt, namentlich in den ſog. Kirchen-
concerten mehr und mehr die typiſche Behandlung, ſo daß die Kirchenmuſik
allmälig einen reihen Kreis mannigfaltiger Productionen aus ſich empor-
treibt, der im ſechszehenten Jahrhundert noch unmöglich geſchienen hatte.
Der einſt durch die flandriſchen Meiſter und durch Paleſtrina gegebene
Impuls zu gehaltvoller und polyphoniſch tiefer Compoſition wirkt deßun-
geachtet auch außerhalb der römiſchen Schule fort; religiöſe Compoſitionen
der Gabrieli, Lotti, Caldara aus der formenreichen venetianiſchen und der
Scarlatti, Aſtorga, Durante, Leo aus der gelehrten neapolitaniſchen Schule
athmen immer noch religiöſe Kraft, Innigkeit und Würde, und erſt allmälig
machen im Laufe des achtzehenten Jahrhunderts dieſe Eigenſchaften bei
einem Marcello und Pergoleſi entſchiedener einer formellern Schönheit,
Anmuth und Weichheit Platz, welche mehr dem Oratorium und der Oper
als der kirchlichen Muſik angehört. Damit hat die Muſik in Italien ihren
Kreislauf vollendet; ſpätere Entwicklungen der italieniſchen Muſik ſtehen
weſentlich unter franzöſiſchem und deutſchem Einfluß; die Miſſion Italiens
iſt hier wie auf dem Gebiet der Malerei die Ergänzung des antiken plaſti-
ſchen Prinzips durch das concretere, realiſtiſchere moderngermaniſche Prinzip
und die Zurückführung dieſes letztern zur Schönheit der unmittelbar wohl-
gefälligen Erſcheinung. In Folge dieſer Tendenz war Italien auch die
Wiege der Oper geworden, die ja nur da entſtehen konnte, wo der Drang
zu freimelodiſcher, einfach ſchöner Muſik lebendig war. Aber hier reicht
nun das italieniſche Prinzip nicht vollkommen zu; Italien ſchuf die Oper,
ohne ſie ihrem wahren Begriff nach realiſiren zu können. Das trockene,
ſteife Recitativ treibt zur Arie fort, deren über das Lied weit hinaus-
gehende Beſtimmtheit und Mannigfaltigkeit des Ausdrucks nur in Italien
zugleich mit dem ſchönen Fluß und dem leichten Schwung der Melodie,
ohne den ſie eckig und unbeholfen bleibt, ausgebildet werden konnte; die
Vereinigung dieſer beiden Elemente hat italieniſche Lebhaftigkeit und ita-
lieniſcher Formſinn geleiſtet. Aber je mehr die Geſangsmuſik zu dieſer
freien Schönheit ſich entwickelt, deſto mehr wird die ſchöne Form Selbſt-
zweck, deſto mehr geht die Vocalmuſik über in Geſangsvirtuoſität.
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[1138/0376] gleitung, die Figurirung verdrängt immer mehr den ebenmäßigen Cantus planus, der gregorianiſche Geſang iſt bald nicht mehr als Grundlage der italieniſchen Kirchenmuſik zu erkennen; die freien Formen der recitativiſchen und arioſen Monodie, des Vocalterzetts u. ſ. w. werden mit Vorliebe er- griffen, die Harmonie und Modulation durch reichere Anwendung der zu- ſammengeſetztern Accorde und durch Beſeitigung des ausſchließlichen Ge- brauchs der Kirchentonarten mannigfaltiger und vielſeitiger; die charakteriſtiſche Geſtaltung der einzelnen Tonſtücke je nach ihrem Inhalt und der ſubjectiveren Auffaſſung des Componiſten verdrängt, namentlich in den ſog. Kirchen- concerten mehr und mehr die typiſche Behandlung, ſo daß die Kirchenmuſik allmälig einen reihen Kreis mannigfaltiger Productionen aus ſich empor- treibt, der im ſechszehenten Jahrhundert noch unmöglich geſchienen hatte. Der einſt durch die flandriſchen Meiſter und durch Paleſtrina gegebene Impuls zu gehaltvoller und polyphoniſch tiefer Compoſition wirkt deßun- geachtet auch außerhalb der römiſchen Schule fort; religiöſe Compoſitionen der Gabrieli, Lotti, Caldara aus der formenreichen venetianiſchen und der Scarlatti, Aſtorga, Durante, Leo aus der gelehrten neapolitaniſchen Schule athmen immer noch religiöſe Kraft, Innigkeit und Würde, und erſt allmälig machen im Laufe des achtzehenten Jahrhunderts dieſe Eigenſchaften bei einem Marcello und Pergoleſi entſchiedener einer formellern Schönheit, Anmuth und Weichheit Platz, welche mehr dem Oratorium und der Oper als der kirchlichen Muſik angehört. Damit hat die Muſik in Italien ihren Kreislauf vollendet; ſpätere Entwicklungen der italieniſchen Muſik ſtehen weſentlich unter franzöſiſchem und deutſchem Einfluß; die Miſſion Italiens iſt hier wie auf dem Gebiet der Malerei die Ergänzung des antiken plaſti- ſchen Prinzips durch das concretere, realiſtiſchere moderngermaniſche Prinzip und die Zurückführung dieſes letztern zur Schönheit der unmittelbar wohl- gefälligen Erſcheinung. In Folge dieſer Tendenz war Italien auch die Wiege der Oper geworden, die ja nur da entſtehen konnte, wo der Drang zu freimelodiſcher, einfach ſchöner Muſik lebendig war. Aber hier reicht nun das italieniſche Prinzip nicht vollkommen zu; Italien ſchuf die Oper, ohne ſie ihrem wahren Begriff nach realiſiren zu können. Das trockene, ſteife Recitativ treibt zur Arie fort, deren über das Lied weit hinaus- gehende Beſtimmtheit und Mannigfaltigkeit des Ausdrucks nur in Italien zugleich mit dem ſchönen Fluß und dem leichten Schwung der Melodie, ohne den ſie eckig und unbeholfen bleibt, ausgebildet werden konnte; die Vereinigung dieſer beiden Elemente hat italieniſche Lebhaftigkeit und ita- lieniſcher Formſinn geleiſtet. Aber je mehr die Geſangsmuſik zu dieſer freien Schönheit ſich entwickelt, deſto mehr wird die ſchöne Form Selbſt- zweck, deſto mehr geht die Vocalmuſik über in Geſangsvirtuoſität. Nicht als ob blos das Mechaniſche der Technik Gegenſtand des Intereſſes

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 1138. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/376>, abgerufen am 19.04.2024.