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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857.

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Anhang.
Die Tanzkunst.
§. 833.

1.

Mit der Gymnastik als einer lebendigen Sculptur (vergl. §. 647, 2.)
verbindet sich die Musik, indem sie den Rhythmus des Tons und das in ihm
sich entfaltende Gefühl in der Bewegung der menschlichen Gestalt verkörpert;
die also in das Sichtbare übergetragene Musik oder musikalisch belebte, rhyth-
mische Plastik ist die Tanzkunst oder Orchestik. Sie steht der selbständigen
Schönheit näher, als die Gymnastik, denn sie ist mehr zur reinen Darstellung,
mehr zur Entwicklung der Schönheit bestimmt und ungleich reicher im Ausdruck.
Dieser erweitert sich wesentlich, indem aus der orchestischen Gesammtbewegung
nicht blos der künstlichere und ausdrucksvollere Tanz Einzelner, sondern bestimmter
die musikalisch geregelte Mimik, die Pantomime, heraustritt, und eine Hand-
2.lung darstellt. In der Geschichte der Orchestik macht sich der Gegensatz der
Style durch eine mehr darstellende, objective und eine mehr auf geselligen Genuß
und engeren, subjectiven Ausdruck beschränkte Form des Tanzes geltend.

1. Die Tanzkunst drückt das ästhetische Bewegungsleben des Tons zu-
nächst in der horizontalen Richtung des Raumes aus, die Musik wird zu
einer projicirten Figuration der Linie. Hierin hängt sie mit den gymnasti-
schen Massenbewegungen, den Evolutionen zusammen, die bereits musikalische
Begleitung fordern und so in die Orchestik herübergehen (vergl. Anm. 2. zu
§. 647). Die neuere Gymnastik verbindet gern mit ihren Uebungen Attitüden
des Einzelnen, die zwar auf Ausbildung der Kraft und Gewandtheit berech-
net sind, aber doch zugleich ein ästhetisches dramatisches Bild ergeben;
dieß weist bestimmter auf die Tanzkunst hinüber; einen wirklichen Ueber-
gang in diese nahm die griechische Gymnastik durch eine Verbindung mit
rhythmisch gemessenem Scheinkampfe, durch den Schwerttanz, der bei so
vielen Völkern vorkommt und wohl eine der ursprünglichsten Formen des
Tanzes ist. Der andere Hauptpunct des Uebergangs ist das Spiel (Ball-
spiel u. dgl.), das gemessene Ordnungen mit Begleitung von Gesang und

Anhang.
Die Tanzkunſt.
§. 833.

1.

Mit der Gymnaſtik als einer lebendigen Sculptur (vergl. §. 647, 2.)
verbindet ſich die Muſik, indem ſie den Rhythmus des Tons und das in ihm
ſich entfaltende Gefühl in der Bewegung der menſchlichen Geſtalt verkörpert;
die alſo in das Sichtbare übergetragene Muſik oder muſikaliſch belebte, rhyth-
miſche Plaſtik iſt die Tanzkunſt oder Orcheſtik. Sie ſteht der ſelbſtändigen
Schönheit näher, als die Gymnaſtik, denn ſie iſt mehr zur reinen Darſtellung,
mehr zur Entwicklung der Schönheit beſtimmt und ungleich reicher im Ausdruck.
Dieſer erweitert ſich weſentlich, indem aus der orcheſtiſchen Geſammtbewegung
nicht blos der künſtlichere und ausdrucksvollere Tanz Einzelner, ſondern beſtimmter
die muſikaliſch geregelte Mimik, die Pantomime, heraustritt, und eine Hand-
2.lung darſtellt. In der Geſchichte der Orcheſtik macht ſich der Gegenſatz der
Style durch eine mehr darſtellende, objective und eine mehr auf geſelligen Genuß
und engeren, ſubjectiven Ausdruck beſchränkte Form des Tanzes geltend.

1. Die Tanzkunſt drückt das äſthetiſche Bewegungsleben des Tons zu-
nächſt in der horizontalen Richtung des Raumes aus, die Muſik wird zu
einer projicirten Figuration der Linie. Hierin hängt ſie mit den gymnaſti-
ſchen Maſſenbewegungen, den Evolutionen zuſammen, die bereits muſikaliſche
Begleitung fordern und ſo in die Orcheſtik herübergehen (vergl. Anm. 2. zu
§. 647). Die neuere Gymnaſtik verbindet gern mit ihren Uebungen Attitüden
des Einzelnen, die zwar auf Ausbildung der Kraft und Gewandtheit berech-
net ſind, aber doch zugleich ein äſthetiſches dramatiſches Bild ergeben;
dieß weist beſtimmter auf die Tanzkunſt hinüber; einen wirklichen Ueber-
gang in dieſe nahm die griechiſche Gymnaſtik durch eine Verbindung mit
rhythmiſch gemeſſenem Scheinkampfe, durch den Schwerttanz, der bei ſo
vielen Völkern vorkommt und wohl eine der urſprünglichſten Formen des
Tanzes iſt. Der andere Hauptpunct des Uebergangs iſt das Spiel (Ball-
ſpiel u. dgl.), das gemeſſene Ordnungen mit Begleitung von Geſang und

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[[1152]/0390] Anhang. Die Tanzkunſt. §. 833. Mit der Gymnaſtik als einer lebendigen Sculptur (vergl. §. 647, 2.) verbindet ſich die Muſik, indem ſie den Rhythmus des Tons und das in ihm ſich entfaltende Gefühl in der Bewegung der menſchlichen Geſtalt verkörpert; die alſo in das Sichtbare übergetragene Muſik oder muſikaliſch belebte, rhyth- miſche Plaſtik iſt die Tanzkunſt oder Orcheſtik. Sie ſteht der ſelbſtändigen Schönheit näher, als die Gymnaſtik, denn ſie iſt mehr zur reinen Darſtellung, mehr zur Entwicklung der Schönheit beſtimmt und ungleich reicher im Ausdruck. Dieſer erweitert ſich weſentlich, indem aus der orcheſtiſchen Geſammtbewegung nicht blos der künſtlichere und ausdrucksvollere Tanz Einzelner, ſondern beſtimmter die muſikaliſch geregelte Mimik, die Pantomime, heraustritt, und eine Hand- lung darſtellt. In der Geſchichte der Orcheſtik macht ſich der Gegenſatz der Style durch eine mehr darſtellende, objective und eine mehr auf geſelligen Genuß und engeren, ſubjectiven Ausdruck beſchränkte Form des Tanzes geltend. 1. Die Tanzkunſt drückt das äſthetiſche Bewegungsleben des Tons zu- nächſt in der horizontalen Richtung des Raumes aus, die Muſik wird zu einer projicirten Figuration der Linie. Hierin hängt ſie mit den gymnaſti- ſchen Maſſenbewegungen, den Evolutionen zuſammen, die bereits muſikaliſche Begleitung fordern und ſo in die Orcheſtik herübergehen (vergl. Anm. 2. zu §. 647). Die neuere Gymnaſtik verbindet gern mit ihren Uebungen Attitüden des Einzelnen, die zwar auf Ausbildung der Kraft und Gewandtheit berech- net ſind, aber doch zugleich ein äſthetiſches dramatiſches Bild ergeben; dieß weist beſtimmter auf die Tanzkunſt hinüber; einen wirklichen Ueber- gang in dieſe nahm die griechiſche Gymnaſtik durch eine Verbindung mit rhythmiſch gemeſſenem Scheinkampfe, durch den Schwerttanz, der bei ſo vielen Völkern vorkommt und wohl eine der urſprünglichſten Formen des Tanzes iſt. Der andere Hauptpunct des Uebergangs iſt das Spiel (Ball- ſpiel u. dgl.), das gemeſſene Ordnungen mit Begleitung von Geſang und

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. [1152]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/390>, abgerufen am 28.03.2024.