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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857.

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§. 755.

Soll in diesen Bedingungen eine ganze und geschlossene Stimmung die in
ihr gegebene unendlich eigene Mischung von Lust und Unlust in einem Lebens-
prozeß entwickeln, so kann dieß nur vermöge einer Bewegung durch eine Reihe
einstimmiger und widerstreitender Verhältnisse eines Qualitativen geschehen.
Schon im Innern des Gefühlslebens kann diese Reihe nur dadurch sich er-
zeugen, daß es die Stimmungsqualitäten §. 752 zu neuer Geltung ruft, indem
es dieselben in bestimmte Anziehungs- und Abstoßungs-Verhältnisse zu einander
setzt, die es in unendlichen Stellungen successiv durchläuft und so die uner-
schöpfliche Welt der Harmonieen und Disharmonieen im Verkehr zwischen dem
Subject und den Objecten sich im Innern zu vernehmen gibt.

Es liegt hier die schwierigste Aufgabe für eine Philosophie der Musik
vor: die Melodie als die Darstellung des Lebensprozesses einer Stimmung,
wie solche in nichts Anderem besteht, als in einem Wandern durch die
Tonleiter, deren einzelne Töne nun aus der Reihe in unendliche Verbin-
dungen treten, aus der inneren Organisation der Empfindung abzuleiten.
Wir haben in §. 752 die innere Bedeutung der Differenzen der Tonhöhe,
die in der bestimmten Messung, durch welche die Kunst sie ordnet, Inter-
valle heißen, als einen Unterschied des substantiell gehaltenen und subjectiv
gelösten Fühlens bestimmt. Wenn nun die Musik das Innerste des Fühlens
in den Verhältnißstellungen der Töne ausdrückt, wie sie aus der Reihe der
Leiter heraus in eine Welt von Consonanzen und Dissonanzen zu einander
treten, welcher Zusammenhang besteht zwischen dem innern Prozesse des
Gefühls und dieser äußeren Technik? Jene innere Lebensform des Gefühls,
die wir uns dunkel als ein Oscilliren, ein Schwingen vorstellen, scheint
die Welt der Erzitterungen, welche nach ihrer verschiedenen Art dem tieferen
und höheren Ton entsprechen, in einer neuen Bedeutung zu verwenden:
aus dem ursprünglich einfachen, doch in unendlichen Stufen sich überbauen-
den Gegensatze eines Gefühls der Lebensmacht und eines Gefühls der freier
schwebenden Subjectivität wird eine unendliche Verhältnißstellung; die
Schwingungen treten aus der Stufenreihe heraus in Wahlverwandtschaften
und Abstoßungen, das Gefühl läuft und springt nun an seinen inneren
Bewegungsmomenten auf und nieder und legt im Einklang und Zwiespalt
ihrer Verbindungen das Geheimniß seiner Freuden und Schmerzen, die
die Ahnung des großen Welträthsels von Gegensätzen, Widersprüchen und
deren Versöhnungen nieder. Es kann hier nicht weiter gegangen werden;
der schwere Gegenstand ist wieder aufzufassen, wenn erst vom Tone die
Rede ist.


§. 755.

Soll in dieſen Bedingungen eine ganze und geſchloſſene Stimmung die in
ihr gegebene unendlich eigene Miſchung von Luſt und Unluſt in einem Lebens-
prozeß entwickeln, ſo kann dieß nur vermöge einer Bewegung durch eine Reihe
einſtimmiger und widerſtreitender Verhältniſſe eines Qualitativen geſchehen.
Schon im Innern des Gefühlslebens kann dieſe Reihe nur dadurch ſich er-
zeugen, daß es die Stimmungsqualitäten §. 752 zu neuer Geltung ruft, indem
es dieſelben in beſtimmte Anziehungs- und Abſtoßungs-Verhältniſſe zu einander
ſetzt, die es in unendlichen Stellungen ſucceſſiv durchläuft und ſo die uner-
ſchöpfliche Welt der Harmonieen und Disharmonieen im Verkehr zwiſchen dem
Subject und den Objecten ſich im Innern zu vernehmen gibt.

Es liegt hier die ſchwierigſte Aufgabe für eine Philoſophie der Muſik
vor: die Melodie als die Darſtellung des Lebensprozeſſes einer Stimmung,
wie ſolche in nichts Anderem beſteht, als in einem Wandern durch die
Tonleiter, deren einzelne Töne nun aus der Reihe in unendliche Verbin-
dungen treten, aus der inneren Organiſation der Empfindung abzuleiten.
Wir haben in §. 752 die innere Bedeutung der Differenzen der Tonhöhe,
die in der beſtimmten Meſſung, durch welche die Kunſt ſie ordnet, Inter-
valle heißen, als einen Unterſchied des ſubſtantiell gehaltenen und ſubjectiv
gelösten Fühlens beſtimmt. Wenn nun die Muſik das Innerſte des Fühlens
in den Verhältnißſtellungen der Töne ausdrückt, wie ſie aus der Reihe der
Leiter heraus in eine Welt von Conſonanzen und Diſſonanzen zu einander
treten, welcher Zuſammenhang beſteht zwiſchen dem innern Prozeſſe des
Gefühls und dieſer äußeren Technik? Jene innere Lebensform des Gefühls,
die wir uns dunkel als ein Oſcilliren, ein Schwingen vorſtellen, ſcheint
die Welt der Erzitterungen, welche nach ihrer verſchiedenen Art dem tieferen
und höheren Ton entſprechen, in einer neuen Bedeutung zu verwenden:
aus dem urſprünglich einfachen, doch in unendlichen Stufen ſich überbauen-
den Gegenſatze eines Gefühls der Lebensmacht und eines Gefühls der freier
ſchwebenden Subjectivität wird eine unendliche Verhältnißſtellung; die
Schwingungen treten aus der Stufenreihe heraus in Wahlverwandtſchaften
und Abſtoßungen, das Gefühl läuft und ſpringt nun an ſeinen inneren
Bewegungsmomenten auf und nieder und legt im Einklang und Zwieſpalt
ihrer Verbindungen das Geheimniß ſeiner Freuden und Schmerzen, die
die Ahnung des großen Welträthſels von Gegenſätzen, Widerſprüchen und
deren Verſöhnungen nieder. Es kann hier nicht weiter gegangen werden;
der ſchwere Gegenſtand iſt wieder aufzufaſſen, wenn erſt vom Tone die
Rede iſt.


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[806/0044] §. 755. Soll in dieſen Bedingungen eine ganze und geſchloſſene Stimmung die in ihr gegebene unendlich eigene Miſchung von Luſt und Unluſt in einem Lebens- prozeß entwickeln, ſo kann dieß nur vermöge einer Bewegung durch eine Reihe einſtimmiger und widerſtreitender Verhältniſſe eines Qualitativen geſchehen. Schon im Innern des Gefühlslebens kann dieſe Reihe nur dadurch ſich er- zeugen, daß es die Stimmungsqualitäten §. 752 zu neuer Geltung ruft, indem es dieſelben in beſtimmte Anziehungs- und Abſtoßungs-Verhältniſſe zu einander ſetzt, die es in unendlichen Stellungen ſucceſſiv durchläuft und ſo die uner- ſchöpfliche Welt der Harmonieen und Disharmonieen im Verkehr zwiſchen dem Subject und den Objecten ſich im Innern zu vernehmen gibt. Es liegt hier die ſchwierigſte Aufgabe für eine Philoſophie der Muſik vor: die Melodie als die Darſtellung des Lebensprozeſſes einer Stimmung, wie ſolche in nichts Anderem beſteht, als in einem Wandern durch die Tonleiter, deren einzelne Töne nun aus der Reihe in unendliche Verbin- dungen treten, aus der inneren Organiſation der Empfindung abzuleiten. Wir haben in §. 752 die innere Bedeutung der Differenzen der Tonhöhe, die in der beſtimmten Meſſung, durch welche die Kunſt ſie ordnet, Inter- valle heißen, als einen Unterſchied des ſubſtantiell gehaltenen und ſubjectiv gelösten Fühlens beſtimmt. Wenn nun die Muſik das Innerſte des Fühlens in den Verhältnißſtellungen der Töne ausdrückt, wie ſie aus der Reihe der Leiter heraus in eine Welt von Conſonanzen und Diſſonanzen zu einander treten, welcher Zuſammenhang beſteht zwiſchen dem innern Prozeſſe des Gefühls und dieſer äußeren Technik? Jene innere Lebensform des Gefühls, die wir uns dunkel als ein Oſcilliren, ein Schwingen vorſtellen, ſcheint die Welt der Erzitterungen, welche nach ihrer verſchiedenen Art dem tieferen und höheren Ton entſprechen, in einer neuen Bedeutung zu verwenden: aus dem urſprünglich einfachen, doch in unendlichen Stufen ſich überbauen- den Gegenſatze eines Gefühls der Lebensmacht und eines Gefühls der freier ſchwebenden Subjectivität wird eine unendliche Verhältnißſtellung; die Schwingungen treten aus der Stufenreihe heraus in Wahlverwandtſchaften und Abſtoßungen, das Gefühl läuft und ſpringt nun an ſeinen inneren Bewegungsmomenten auf und nieder und legt im Einklang und Zwieſpalt ihrer Verbindungen das Geheimniß ſeiner Freuden und Schmerzen, die die Ahnung des großen Welträthſels von Gegenſätzen, Widerſprüchen und deren Verſöhnungen nieder. Es kann hier nicht weiter gegangen werden; der ſchwere Gegenſtand iſt wieder aufzufaſſen, wenn erſt vom Tone die Rede iſt.

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 806. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/44>, abgerufen am 28.03.2024.