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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857.

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Anklänge einer Tonwelt enthalten kann, die für sich allein vollkommener
Gefühls-Ausdruck sein soll, daß er wesentlich alterirt ist durch den Zweck
der Sprache, das Bewußtsein auszudrücken. Man darf daher Untersuchun-
gen, wie die obige, nur sehr genügsam führen, wenn man nicht in's
Kleinliche und Gesuchte gerathen will. Die Sprache hat jedoch allerdings
auch unarticulirte Gefühlslaute in der Interjection. Ihre Tonhöhe
und ihr Tempo liegt unmittelbar an der Quelle der Empfindung und
gehört mehr, als alles Andere, zu den zerstückelten, verlorenen Anklängen
von Musik in der Natur. Allein nimmermehr ist die Musik durch ihre
Belauschung entstanden oder kann zu irgend einer Zeit ihre Formen nach
ihr bilden; denn sie ist eben nichts, als ein von der Sprache auf conti-
nuitätslose Einsilbigkeit zurückgedrängter, im Keim ersterbender Ansatz, die
Empfindung durch Musik außer der Musik auszudrücken. Uebersehen wir
nun dieß ganze Gebiet des Naturschönen, so erkennen wir die genaueste
Analogie mit dem, was über das Verhältniß des Baukünstlers zum Natur-
schönen in §. 558 gesagt ist: nur entfernt und dunkel, ohne jede ausdrück-
liche Intention des Nachbildens, kann, wie dem Völkergeiste in der Bil-
dung der Baustyle die zerworfenen Spuren der reinen Raumformen in
Erdbildung und Pflanze, so das Reich der Naturtöne dem Menschen bei
Schöpfung der Musik vorgeschwebt haben oder vorschweben. Die Musik
ist ohne Zweifel vom Spiel ausgegangen und zwar auf zwei Wegen.
Man machte an gewissen Körpern zufällig die Beobachtung, daß sie Töne
von sich geben, die eigenthümlich zur Empfindung sprechen, daß diese Töne
in gewissem Verhältnisse zu einander stehen, daß man diese Verhältnisse
durch Ueberspannen eines Felles über eine Höhle, durch Nebeneinanderziehen
von Saiten, durch Nebeneinanderstellen von Röhren (die Syrinx), durch
Einbohren von Löchern in Röhren vermehren und ordnen kann: dieß war
der eine Weg, der in gewissem Sinne von außen nach innen geht; der
andere war der des Gesangs, der jedoch nicht in dem Sinne von innen
nach außen geht, daß man sich vorstellen dürfte, der Gesang sei ursprünglich
der geistigeren Tiefe der Empfindung entsprungen; die Anfänge des
Gesangs wird man im Jauchzen der Gebirgsbewohner suchen müssen, das
sich in musikalischer Uebung zum Jodeln, einem Singen ohne Wort, aus-
gebildet hat; jener unmittelbare Aufschrei der Lust schlägt gerade durch seine
Vollkräftigkeit in wirkliche Töne um, läßt einen natürlichen Tonfall,
selbst eine Andeutung bestimmter Intervalle erkennen, von deren Beobach-
tung man langsam zum künstlerischen Gefühlsausdruck fortging. Und
hieran knüpft sich nun offenbar die einzig richtige Anwendung des Begriffs
von Stoff und Naturvorbild auf die Musik: der Stoff, der Nachahmungs-
gegenstand dieser Kunst ist das Gefühlsleben in der Brust des Künstlers;
jener Begriff läßt sich aber nur in sehr entfernter Weise anwenden, weil

Anklänge einer Tonwelt enthalten kann, die für ſich allein vollkommener
Gefühls-Ausdruck ſein ſoll, daß er weſentlich alterirt iſt durch den Zweck
der Sprache, das Bewußtſein auszudrücken. Man darf daher Unterſuchun-
gen, wie die obige, nur ſehr genügſam führen, wenn man nicht in’s
Kleinliche und Geſuchte gerathen will. Die Sprache hat jedoch allerdings
auch unarticulirte Gefühlslaute in der Interjection. Ihre Tonhöhe
und ihr Tempo liegt unmittelbar an der Quelle der Empfindung und
gehört mehr, als alles Andere, zu den zerſtückelten, verlorenen Anklängen
von Muſik in der Natur. Allein nimmermehr iſt die Muſik durch ihre
Belauſchung entſtanden oder kann zu irgend einer Zeit ihre Formen nach
ihr bilden; denn ſie iſt eben nichts, als ein von der Sprache auf conti-
nuitätsloſe Einſilbigkeit zurückgedrängter, im Keim erſterbender Anſatz, die
Empfindung durch Muſik außer der Muſik auszudrücken. Ueberſehen wir
nun dieß ganze Gebiet des Naturſchönen, ſo erkennen wir die genaueſte
Analogie mit dem, was über das Verhältniß des Baukünſtlers zum Natur-
ſchönen in §. 558 geſagt iſt: nur entfernt und dunkel, ohne jede ausdrück-
liche Intention des Nachbildens, kann, wie dem Völkergeiſte in der Bil-
dung der Bauſtyle die zerworfenen Spuren der reinen Raumformen in
Erdbildung und Pflanze, ſo das Reich der Naturtöne dem Menſchen bei
Schöpfung der Muſik vorgeſchwebt haben oder vorſchweben. Die Muſik
iſt ohne Zweifel vom Spiel ausgegangen und zwar auf zwei Wegen.
Man machte an gewiſſen Körpern zufällig die Beobachtung, daß ſie Töne
von ſich geben, die eigenthümlich zur Empfindung ſprechen, daß dieſe Töne
in gewiſſem Verhältniſſe zu einander ſtehen, daß man dieſe Verhältniſſe
durch Ueberſpannen eines Felles über eine Höhle, durch Nebeneinanderziehen
von Saiten, durch Nebeneinanderſtellen von Röhren (die Syrinx), durch
Einbohren von Löchern in Röhren vermehren und ordnen kann: dieß war
der eine Weg, der in gewiſſem Sinne von außen nach innen geht; der
andere war der des Geſangs, der jedoch nicht in dem Sinne von innen
nach außen geht, daß man ſich vorſtellen dürfte, der Geſang ſei urſprünglich
der geiſtigeren Tiefe der Empfindung entſprungen; die Anfänge des
Geſangs wird man im Jauchzen der Gebirgsbewohner ſuchen müſſen, das
ſich in muſikaliſcher Uebung zum Jodeln, einem Singen ohne Wort, aus-
gebildet hat; jener unmittelbare Aufſchrei der Luſt ſchlägt gerade durch ſeine
Vollkräftigkeit in wirkliche Töne um, läßt einen natürlichen Tonfall,
ſelbſt eine Andeutung beſtimmter Intervalle erkennen, von deren Beobach-
tung man langſam zum künſtleriſchen Gefühlsausdruck fortging. Und
hieran knüpft ſich nun offenbar die einzig richtige Anwendung des Begriffs
von Stoff und Naturvorbild auf die Muſik: der Stoff, der Nachahmungs-
gegenſtand dieſer Kunſt iſt das Gefühlsleben in der Bruſt des Künſtlers;
jener Begriff läßt ſich aber nur in ſehr entfernter Weiſe anwenden, weil

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[816/0054] Anklänge einer Tonwelt enthalten kann, die für ſich allein vollkommener Gefühls-Ausdruck ſein ſoll, daß er weſentlich alterirt iſt durch den Zweck der Sprache, das Bewußtſein auszudrücken. Man darf daher Unterſuchun- gen, wie die obige, nur ſehr genügſam führen, wenn man nicht in’s Kleinliche und Geſuchte gerathen will. Die Sprache hat jedoch allerdings auch unarticulirte Gefühlslaute in der Interjection. Ihre Tonhöhe und ihr Tempo liegt unmittelbar an der Quelle der Empfindung und gehört mehr, als alles Andere, zu den zerſtückelten, verlorenen Anklängen von Muſik in der Natur. Allein nimmermehr iſt die Muſik durch ihre Belauſchung entſtanden oder kann zu irgend einer Zeit ihre Formen nach ihr bilden; denn ſie iſt eben nichts, als ein von der Sprache auf conti- nuitätsloſe Einſilbigkeit zurückgedrängter, im Keim erſterbender Anſatz, die Empfindung durch Muſik außer der Muſik auszudrücken. Ueberſehen wir nun dieß ganze Gebiet des Naturſchönen, ſo erkennen wir die genaueſte Analogie mit dem, was über das Verhältniß des Baukünſtlers zum Natur- ſchönen in §. 558 geſagt iſt: nur entfernt und dunkel, ohne jede ausdrück- liche Intention des Nachbildens, kann, wie dem Völkergeiſte in der Bil- dung der Bauſtyle die zerworfenen Spuren der reinen Raumformen in Erdbildung und Pflanze, ſo das Reich der Naturtöne dem Menſchen bei Schöpfung der Muſik vorgeſchwebt haben oder vorſchweben. Die Muſik iſt ohne Zweifel vom Spiel ausgegangen und zwar auf zwei Wegen. Man machte an gewiſſen Körpern zufällig die Beobachtung, daß ſie Töne von ſich geben, die eigenthümlich zur Empfindung ſprechen, daß dieſe Töne in gewiſſem Verhältniſſe zu einander ſtehen, daß man dieſe Verhältniſſe durch Ueberſpannen eines Felles über eine Höhle, durch Nebeneinanderziehen von Saiten, durch Nebeneinanderſtellen von Röhren (die Syrinx), durch Einbohren von Löchern in Röhren vermehren und ordnen kann: dieß war der eine Weg, der in gewiſſem Sinne von außen nach innen geht; der andere war der des Geſangs, der jedoch nicht in dem Sinne von innen nach außen geht, daß man ſich vorſtellen dürfte, der Geſang ſei urſprünglich der geiſtigeren Tiefe der Empfindung entſprungen; die Anfänge des Geſangs wird man im Jauchzen der Gebirgsbewohner ſuchen müſſen, das ſich in muſikaliſcher Uebung zum Jodeln, einem Singen ohne Wort, aus- gebildet hat; jener unmittelbare Aufſchrei der Luſt ſchlägt gerade durch ſeine Vollkräftigkeit in wirkliche Töne um, läßt einen natürlichen Tonfall, ſelbſt eine Andeutung beſtimmter Intervalle erkennen, von deren Beobach- tung man langſam zum künſtleriſchen Gefühlsausdruck fortging. Und hieran knüpft ſich nun offenbar die einzig richtige Anwendung des Begriffs von Stoff und Naturvorbild auf die Muſik: der Stoff, der Nachahmungs- gegenſtand dieſer Kunſt iſt das Gefühlsleben in der Bruſt des Künſtlers; jener Begriff läßt ſich aber nur in ſehr entfernter Weiſe anwenden, weil

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 816. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/54>, abgerufen am 28.03.2024.