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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857.

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sind die Maaße der Intervalle und harmonisches Tonverhältniß beruht auf
Einfachheit und Faßlichkeit des Zahlenverhältnisses; wie denn durch bloße
Verdoppelung der Schwingungen jener zweite Ton (die Octave) entsteht,
der dem ersten vor allen andern wahlverwandt erscheint. Kommt nun der
Unterschied, der dem ganzen Systeme zu Grunde liegt, auf verschiedene
Zahl der Schwingungen zurück, so erhellt, daß nicht nur die Verhältnisse
des Tacts und Tempo quantitativ sind, sondern auch diejenigen, welche in
Vergleichung mit denselben als rein qualitativ erscheinen, nämlich der Tiefe
und Höhe. Diese sind es nun aber, in welchen das Gefühl sich den Apparat
schafft, seine eigentlich qualitativen Bewegungen auszudrücken, wie sie in
§. 752 aufgeführt sind. Haben wir den dunkeln Vorgang im Innern selbst
uns als ein Schwingungsleben vorzustellen gesucht, so schien es doch immer,
als müsse man hier an Schwingungen verschiedener Bewegungsart denken,
nun aber, im technischen Abbilde des psychischen Vorbilds, kommt auch
dieser tiefe Unterschied des substantiellen und subjectiv gelösten Gefühls und
all der Reichthum wunderbarer Empfindungen, wozu er verwendet wird,
schließlich auf einen Unterschied der Schnelligkeit und Langsamkeit zurück.
Die Festsetzung auf einer bestimmten Stelle der Leiter, wodurch die innige
Eigenthümlichkeit einer individuellen Stimmung ihren Ausdruck findet, tritt
nun als Tonart auf und die tieferen Töne erscheinen, wie als Träger der
Empfindung überhaupt, die sie vor dem Bodenlosen bewahren, so technisch
als die Träger des Einklangs der Töne; als eigentlich qualitativ bleibt nur
die besondere Klangfarbe zurück, welche die spezielle Art der Cohäsion des
einzelnen Materials mit sich bringt: ein höchst wichtiges Moment allerdings,
denn eine tiefe Symbolik, die wir bereits mit den Eindrücken der Landschaft
verglichen haben, bestimmt das Gemüth, aus dem Erzittern der Körper nach
dem verschiedenen Zusammenhalt ihrer Atome sich verschiedene Stimmungen,
sanftere, nervösere aus dem weicheren, muthigere, stärkere, gleichsam muscu-
lösere aus dem spröderen, namentlich den metallischen, entgegenkommen zu
lassen; aber nicht beruht hierauf das Wesentliche des Lebensprinzips und
Lebensprozesses einer totalen Stimmung, diese ist vielmehr im Großen und
Ganzen völlig an jenes rein quantitative System von Ausdrucksmitteln
gewiesen. Wir haben nun hier ein Ganzes von lauter Verhältnissen. Alles
ist relativ, nur durch seinen Platz, nur durch eine Größenvergleichung be-
stimmt. Der Ton heißt in diesem System Intervall, denn nur der Zwischen-
raum zwischen ihm und andern, eben der quantitative Abstand bestimmt seine
Natur. Die Consonanzen und Dissonanzen, in welche einzelne Töne aus
der Continuität der Stufenreihe heraus zu einander treten, beruhen eben-
falls auf einem rein arithmetischen Verhältniß. Was sich durch einfache,
überschauliche Zahl exponirt, wird als Einklang, als consonirender Accord,
was einen verwickelten Zählungsprozeß fordert, als unbefriedigende Auf-

ſind die Maaße der Intervalle und harmoniſches Tonverhältniß beruht auf
Einfachheit und Faßlichkeit des Zahlenverhältniſſes; wie denn durch bloße
Verdoppelung der Schwingungen jener zweite Ton (die Octave) entſteht,
der dem erſten vor allen andern wahlverwandt erſcheint. Kommt nun der
Unterſchied, der dem ganzen Syſteme zu Grunde liegt, auf verſchiedene
Zahl der Schwingungen zurück, ſo erhellt, daß nicht nur die Verhältniſſe
des Tacts und Tempo quantitativ ſind, ſondern auch diejenigen, welche in
Vergleichung mit denſelben als rein qualitativ erſcheinen, nämlich der Tiefe
und Höhe. Dieſe ſind es nun aber, in welchen das Gefühl ſich den Apparat
ſchafft, ſeine eigentlich qualitativen Bewegungen auszudrücken, wie ſie in
§. 752 aufgeführt ſind. Haben wir den dunkeln Vorgang im Innern ſelbſt
uns als ein Schwingungsleben vorzuſtellen geſucht, ſo ſchien es doch immer,
als müſſe man hier an Schwingungen verſchiedener Bewegungsart denken,
nun aber, im techniſchen Abbilde des pſychiſchen Vorbilds, kommt auch
dieſer tiefe Unterſchied des ſubſtantiellen und ſubjectiv gelösten Gefühls und
all der Reichthum wunderbarer Empfindungen, wozu er verwendet wird,
ſchließlich auf einen Unterſchied der Schnelligkeit und Langſamkeit zurück.
Die Feſtſetzung auf einer beſtimmten Stelle der Leiter, wodurch die innige
Eigenthümlichkeit einer individuellen Stimmung ihren Ausdruck findet, tritt
nun als Tonart auf und die tieferen Töne erſcheinen, wie als Träger der
Empfindung überhaupt, die ſie vor dem Bodenloſen bewahren, ſo techniſch
als die Träger des Einklangs der Töne; als eigentlich qualitativ bleibt nur
die beſondere Klangfarbe zurück, welche die ſpezielle Art der Cohäſion des
einzelnen Materials mit ſich bringt: ein höchſt wichtiges Moment allerdings,
denn eine tiefe Symbolik, die wir bereits mit den Eindrücken der Landſchaft
verglichen haben, beſtimmt das Gemüth, aus dem Erzittern der Körper nach
dem verſchiedenen Zuſammenhalt ihrer Atome ſich verſchiedene Stimmungen,
ſanftere, nervöſere aus dem weicheren, muthigere, ſtärkere, gleichſam muſcu-
löſere aus dem ſpröderen, namentlich den metalliſchen, entgegenkommen zu
laſſen; aber nicht beruht hierauf das Weſentliche des Lebensprinzips und
Lebensprozeſſes einer totalen Stimmung, dieſe iſt vielmehr im Großen und
Ganzen völlig an jenes rein quantitative Syſtem von Ausdrucksmitteln
gewieſen. Wir haben nun hier ein Ganzes von lauter Verhältniſſen. Alles
iſt relativ, nur durch ſeinen Platz, nur durch eine Größenvergleichung be-
ſtimmt. Der Ton heißt in dieſem Syſtem Intervall, denn nur der Zwiſchen-
raum zwiſchen ihm und andern, eben der quantitative Abſtand beſtimmt ſeine
Natur. Die Conſonanzen und Diſſonanzen, in welche einzelne Töne aus
der Continuität der Stufenreihe heraus zu einander treten, beruhen eben-
falls auf einem rein arithmetiſchen Verhältniß. Was ſich durch einfache,
überſchauliche Zahl exponirt, wird als Einklang, als conſonirender Accord,
was einen verwickelten Zählungsprozeß fordert, als unbefriedigende Auf-

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[819/0057] ſind die Maaße der Intervalle und harmoniſches Tonverhältniß beruht auf Einfachheit und Faßlichkeit des Zahlenverhältniſſes; wie denn durch bloße Verdoppelung der Schwingungen jener zweite Ton (die Octave) entſteht, der dem erſten vor allen andern wahlverwandt erſcheint. Kommt nun der Unterſchied, der dem ganzen Syſteme zu Grunde liegt, auf verſchiedene Zahl der Schwingungen zurück, ſo erhellt, daß nicht nur die Verhältniſſe des Tacts und Tempo quantitativ ſind, ſondern auch diejenigen, welche in Vergleichung mit denſelben als rein qualitativ erſcheinen, nämlich der Tiefe und Höhe. Dieſe ſind es nun aber, in welchen das Gefühl ſich den Apparat ſchafft, ſeine eigentlich qualitativen Bewegungen auszudrücken, wie ſie in §. 752 aufgeführt ſind. Haben wir den dunkeln Vorgang im Innern ſelbſt uns als ein Schwingungsleben vorzuſtellen geſucht, ſo ſchien es doch immer, als müſſe man hier an Schwingungen verſchiedener Bewegungsart denken, nun aber, im techniſchen Abbilde des pſychiſchen Vorbilds, kommt auch dieſer tiefe Unterſchied des ſubſtantiellen und ſubjectiv gelösten Gefühls und all der Reichthum wunderbarer Empfindungen, wozu er verwendet wird, ſchließlich auf einen Unterſchied der Schnelligkeit und Langſamkeit zurück. Die Feſtſetzung auf einer beſtimmten Stelle der Leiter, wodurch die innige Eigenthümlichkeit einer individuellen Stimmung ihren Ausdruck findet, tritt nun als Tonart auf und die tieferen Töne erſcheinen, wie als Träger der Empfindung überhaupt, die ſie vor dem Bodenloſen bewahren, ſo techniſch als die Träger des Einklangs der Töne; als eigentlich qualitativ bleibt nur die beſondere Klangfarbe zurück, welche die ſpezielle Art der Cohäſion des einzelnen Materials mit ſich bringt: ein höchſt wichtiges Moment allerdings, denn eine tiefe Symbolik, die wir bereits mit den Eindrücken der Landſchaft verglichen haben, beſtimmt das Gemüth, aus dem Erzittern der Körper nach dem verſchiedenen Zuſammenhalt ihrer Atome ſich verſchiedene Stimmungen, ſanftere, nervöſere aus dem weicheren, muthigere, ſtärkere, gleichſam muſcu- löſere aus dem ſpröderen, namentlich den metalliſchen, entgegenkommen zu laſſen; aber nicht beruht hierauf das Weſentliche des Lebensprinzips und Lebensprozeſſes einer totalen Stimmung, dieſe iſt vielmehr im Großen und Ganzen völlig an jenes rein quantitative Syſtem von Ausdrucksmitteln gewieſen. Wir haben nun hier ein Ganzes von lauter Verhältniſſen. Alles iſt relativ, nur durch ſeinen Platz, nur durch eine Größenvergleichung be- ſtimmt. Der Ton heißt in dieſem Syſtem Intervall, denn nur der Zwiſchen- raum zwiſchen ihm und andern, eben der quantitative Abſtand beſtimmt ſeine Natur. Die Conſonanzen und Diſſonanzen, in welche einzelne Töne aus der Continuität der Stufenreihe heraus zu einander treten, beruhen eben- falls auf einem rein arithmetiſchen Verhältniß. Was ſich durch einfache, überſchauliche Zahl exponirt, wird als Einklang, als conſonirender Accord, was einen verwickelten Zählungsprozeß fordert, als unbefriedigende Auf-

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 819. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/57>, abgerufen am 16.04.2024.